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Autor: A. von Dommer
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Titel: Populäre Briefe über Musik
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, 44, 45, S. 406–408, 638–639, 651–653
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[406]
Populäre Briefe über Musik.
Von A. v. Dommer.
Die musikalische Form im Allgemeinen.

Sie haben mich aufgefordert, Ihnen einen allgemeinen Ueberblick über das Wesen der Musik und ihre Kunstformen zu geben. Indem ich versuchen will, Ihrem Wunsch nachzukommen, erinnere ich im Voraus, daß Sie tiefwissenschaftliche Belehrung von diesen Briefen nicht eigentlich erwarten sollen; ihr Zweck kann nur sein, eine Anregung zum eigenen Nachdenken über die Kunst zu geben, und Manches, was Sie selbst in Ihrem Gefühl haben, auch in’s Bewußtsein zu rufen.

Die meisten Musikliebhaber, auch wenn sie es ernster mit der Sache meinen, können sich gar keinen Begriff davon machen, daß ein Musikwerk ein geschlossener Organismus ist, dessen Theile mit innerer Nothwendigkeit sich zu demjenigen Ganzen fügen, als welches es erscheint. Und doch ist es bei der Musik hierin nicht anders, wie bei der Dichtkunst oder den bildenden Künsten; ebenso wie hier, beruht auch dort der größte Theil der Wirkung auf der inneren Naturwahrheit des Kunstwerks, und durch das Vermögen, diese innere Wahrheit im Kunstwerk zu erkennen, wird der Genuß an demselben erst eigentlich zu einem Kunstgenuß.

Die Musik gelangt also eben so wenig wie alle übrigen Künste durch bloße Empfängniß des Gemüthes zu ihrer rechten Geltung; wollen Sie einen wahren Genuß daran haben, so suchen Sie sich mit den Wechselwirkungen von Ursache und Folge, mit dem Ideenkreis und den Ausdrucksmitteln, welche einer Kunst eigenthümlich sind, bekannt zu machen, und Sie werden sehen, mit wie gesteigerter Kraft nun ein Kunstwerk an Sie herantreten wird, dem gegenüber Sie früher mit Ihrem Gefühl sich begnügt haben.

Bei aller Verbreitung der Musik finden wir doch überwiegend häufig eine sehr einseitige Ausübung derselben – nicht nur bei den Dilettanten, sondern auch oft genug bei Künstlern. Wir finden viele geübte Techniker des Clavierspiels, denen der Bau einer Sonate, ja sogar die einfachsten Gesetze der Harmonielehre etwas völlig Fremdes sind. Diese üben denn auch die Musik nur wie eine todte Sprache, welche sie lesen, sprechen, aber nicht verstehen können, und deren Laut wohl eine unklare Vorstellung von etwas darin Enthaltenem erweckt, deren eigentlicher Geist und Inhalt ihnen jedoch verschlossen bleibt; sie gelangen dem Kunstwerk gegenüber kaum über eine [407] unklare Empfindung hinaus, und begnügen sich mehr oder weniger entweder mit einem einseitigen technischen Vergnügen oder mit einer bloßen Gefühlsschwelgerei.

An diesem oft höchst oberflächlichen Musiktreiben bei der Mehrzahl ihrer Liebhaber, sind, wie überhaupt bei jedem Stocken, Rückschreiten oder Mißverstandenwerden der Kunst, die Künstler größtentheils selbst schuld, besonders die Lehrer, denen, auch wenn sie dazu fähig sind, in den seltensten Fällen beikommt, dem Lernenden nicht nur eine rein technische Seite der Musik zu zeigen, sondern ihm einen tiefern Einblick in die Geheimnisse der Kunst zu eröffnen. Höchst selten fällt es einem Lehrenden ein, mit dem Schüler die Kenntnisse der Harmonie und der musikalischen Gedanken- und Formenentwicklung zu üben, und so nach und nach ein tieferes Verständniß der Musik vorbereiten zu helfen, als es durch noch so vieles Clavierspiel, wenn es, wie häufig, rein mechanisch geschieht, zu ermöglichen ist.

Der die Kunst wahrhaft verehrende Liebhaber wird die anfänglich allerdings gehäuft erscheinenden Bemühungen nicht scheuen, aber in kurzer Zeit für die geistigen Genüsse, die ihm daraus erwachsen, dankbar sein. –

Die Musik ist, wie Sie wissen, die Kunst, durch Töne Empfindungen in uns zu erwecken. Diese Empfindungen können unmittelbar durch die Musik selbst in uns entstehen, sie können aber auch durch die Ahnung einer der Musik zu Grunde liegenden Idee hervorgerufen oder mindestens gesteigert werden. Entweder gibt uns der Künstler in seinem Werke ein freies Tonspiel, welches rein durch die Schönheit seiner Verhältnisse an sich das Gemüth und den Geist erfreut, oder die Musik dient, natürlich in den Grenzen, welche ihre Natur ihr auferlegt, einer höheren poetischen Idee zum Ausdruck.

Wir wollen uns zuerst mit derjenigen Musik beschäftigen, der wir außer dem rein musikalischen auch noch einen poetischen Inhalt zusprechen.

Der Quell aber, aus dem die Musik ihren idealen Inhalt schöpft, ist nicht die äußere Natur, auch nicht die Wissenschaft, sondern einzig und allein die Bewegungen des menschlichen Herzens. Die menschlichen Gefühle, Empfindungen und Leidenschaften in ihren verschiedenen Stärkegraden, Modifikationen, Wechseläußerungen und Widerspielen sind ihre Stoffe.

Also nur aus dem Gemüthe des Menschen nimmt die Musik ihren poetischen Inhalt, nicht aus der äußeren Natur. Eine Musik, welche Naturerscheinungen, Donner, Regen, Vogelgesang, Brausen des Meeres oder wirkliche Handlungen, z. B. Schlachten, Wettrennen etc. malend nachzuahmen sucht, greift in ein ihr nicht angehöriges Gebiet und steht ihrem idealen Gehalt nach auf niedriger Stufe. Sie opfert ihren eigenen Inhalt, und kann wirkliche Naturwahrheit doch nicht erlangen, hat daher höchstens decoratives Interesse.

Sie werden die Pastoralsymphonie von Beethoven kennen und mir entgegensetzen, daß sie trotz der darin enthaltenen Naturmalerei, Gewitter, Vogelgesang, Murmeln des Baches, Tanz der Bauern, doch ein sehr schönes Werk sei. Das ist auch wahr, aber nicht in der an und für sich vortrefflichen Naturnachahmung, sondern in der ganzen unendlich tief heitern und sonnigen Idee beruht seine Schönheit; die Naturmalerei könnte als solche füglich weggedacht oder gar nicht erkannt werden, und das Werk würde dadurch nichts verlieren. – Wie weit die Berechtigung der Tonmalerei im Komischen und andererseits in der Oper sich erstreckt, zu untersuchen, würde hier zu weit führen.

Die äußere Natur ist also für die Musik nicht da, ist kein Hülfsmittel für ihr Verständnis;, kein Maßstab für ihre Werke; aus unserer äußeren Naturumgebung heraus können weder Schönheiten noch Widersprüche oder Verkehrtheiten im Tonwerke nachgewiesen werden, wie es bei den bildenden Künsten der Fall ist. Hier wird uns ein Anhalt durch die Natur geboten, es erfreut sich unser von Kindheit an mit ihren Erscheinungen vertraut gewordener Sinn am erblickten Schönen, und verwirft das geradezu Falsche und Häßliche, indem es das Product des Künstlers entweder in Uebereinstimmung oder im Widerspruch mit der ihm bekannten Natur erblickt, womit jedoch keineswegs gesagt sein soll, daß die bildenden Künste nur auf der Naturnachahmung beruhten. In der Dichtkunst gelangen wir durch das Wortverständniß, wie bei der bildenden Kunst durch die Kenntniß der Natur, zum eigentlichen Inhalt des Kunstwerks. Die Producte der Musik sind aber eben so wenig durch das Wort zu versinnlichen, wie durch die äußere Natur zu begreifen.

Wenn nun die äußere Natur, ein Kunstwerk oder eine Dichtung, überhaupt ein nicht unmittelbar im Gemüth des Künstlers, sondern außer ihm Bestehendes nicht durch die Musik dargestellt werden kann, so kann doch der Künstler dadurch zur Production angeregt werden. Die durch eine Naturerscheinung oder durch ein Kunstwerk angeregte Phantasie des Künstlers vermag zwar nicht diesen Gegenstand selbst, wohl aber die durch denselben in ihm erweckten Gefühle wiederzuspiegeln. Die Anschauung, welche der Künstler von dem Gegenstande empfangen hat, kann auf sein Gemüth und seine musikalische Phantasie derart wirken, daß er in seinem Tonwerk durch musikalische Mittel eine ähnliche Gemüthswirkung auf uns hervorbringt, wie das Kunstwerk oder die Natur auf ihn ausgeübt hat. Das ist aber himmelweit von jener unmittelbaren Nachahmung verschieden. Dort war der Gegenstand selbst Stoff für die Musik – hier ist er nur Anregung des Gefühls und der Phantasie.

Von der Natur unmittelbar empfängt die Musik nur den Ton (eigentlich nur den Schall und den Laut) als unorganisches Material, wie der Maler und Architekt die rohen Farben und Bausteine. Die Kunst selbst hat diese unorganische, von der Natur dargebotene Tonwelt erst durch Unterwerfung unter Regeln und Gesetze sich dienstbar gemacht, und jene unorganischen Klänge zum ausdrucksfähigen Kunstmittel geordnet.

Eben so wenig wie die Musik unsere äußere Natur zu schildern vermag, ist sie im Stande, Begriffe und philosophische Ideen unmittelbar auszudrücken – mit unzweifelhafter Sicherheit könnte es nur die Dichtkunst, wenn es überhaupt Zweck der Künste wäre. Wenn auch die bedeutendsten Kunstwerke stets auf der Grundlage einer solchen allgemein religiösen oder sittlichen Idee entstanden sind (wie Händel’s Messias, Bach’s Matthäus-Passion, Beethoven’s 9te Symphonie), ein höheres Kunstwerk einer solchen Idee überhaupt gar nicht entbehren kann, so kommt doch diese nicht ihrem wissenschaftlichen Inhalt nach zum Ausdruck.

Eines selbstständig für sich in Worten denkbaren oder gedachten Inhaltes, der sich von der Musik, wie diese von ihm, abtrennen ließe, so daß (worauf es bei der Programmmusik hinausläuft) die Musik nur als Illustration eines für sich ausgearbeiteten poetischen Planes erscheint, bedarf die Tonkunst nicht. Bei der Gesangmusik scheint nun allerdings ein solcher Wortinhalt gegeben, aber nicht diesen Wortinhalt nach seiner wörtlichen und begrifflichen Bedeutung, sondern nur den dahinter ruhenden Gefühlsinhalt bringt die Musik zum Ausdruck. Diesen Gefühlsinhalt vermag sie aber in der Vocalcomposition zu einer Geltung zu erheben, zu der es der Wortausdruck allein nicht bringen kann.

Aus der Vereinigung der Poesie und Musik in der Vocalcomposition geht daher eine begriffliche Klarheit, verbunden mit einer Intensität des Gefühlsausdrucks hervor, daß in der That Veranlassung dazu wäre, dieser Musikgattung die höchste Stellung in der Tonkunst anzuweisen, besonders da die Musik keineswegs genöthigt ist, bei der Verbindung mit der Poesie von ihrer Eigenthümlichkeit etwas zu opfern. Sie soll beim engsten Anschluß an die Dichtung doch für sich selbstständig freie Kunst bleiben, nicht aber dienende Magd des einzelnen Wortes werden.

Bei der reinen Instrumentalmusik aber, welche ihre eigene Logik, abgetrennt von jedem Worte, für sich hat, erscheint ein erklärendes, gemeinhin nur an Aeußerlichkeiten anknüpfendes Wortprogramm nur störend. Es ist ganz der Natur unserer Kunst zuwider, uns zwingen zu wollen, daß wir Dinge aus der Musik herausverstehen sollen, die doch die Kunst selbst, ihrer innersten Bestimmung nach, nicht klar darzustellen vermag. Der ganze Kunstgenuß, von welchen, bei solchen Programmmusiken deshalb fast nie die Rede ist, wird auf eine kleinliche Spielerei des Verstandes reducirt.

Also ebensowenig, als wir die Formen der Musik in der äußeren Natur vorgebildet fanden, ist auch ihr Inhalt bis in’s Einzelne bestimmt in Worten darstellbar und mittelst unserer Sprache faßlich. Der einem Musikwerke zu Grunde liegende Gedanke kann nur geahnt werden und hüllt sich vor jeder bestimmteren Erklärung durch das Wort in einen undurchdringlich geheimnißvollen Schleier. Als Ersatz für den Mangel an bestimmt ausgesprochenen Ideen führt uns die Musik in jene höchsten und tiefsten Regionen der Empfindung und des Gefühls, wohin, wie gesagt, nur unsere Ahnungen reichen, die aber jeder Wort- und Bildsprache verschlossen bleiben.

Wodurch vermag nun aber die Musik einen Gefühlsinhalt so darzustellen, daß der Hörer denselben mit zu empfinden im Stande ist und zu verstehen glaubt?

Das einzige Mittel ist die Analogie, das Gleichniß, wie es [408] J. C. Lobe in seiner Compositionslehre mit großer Klarheit dargestellt hat.

Jede Gefühlsbewegung im Menschen nimmt ihren Anfang und erreicht ihr Ende und durchläuft während ihrer Dauer einen Kreis von mehr oder minder mannichfaltigen Hebungen und Senkungen, Steigerungen und Ermattungen. Es treten Nebenstimmungen hinzu, welche Modificationen des Grundgefühls bewirken; das Gefühl schlägt plötzlich, auf seiner höchsten Höhe, in sein Widerspiel um und kehrt wieder zu seinem ursprünglichen Inhalte zurück oder wechselt diesen allmählich in kürzeren oder längeren Uebergängen.

Das ist seinem Wesen nach Niemanden unbekannt, wenn auch vielleicht nur dem kleineren Theile durch Beobachtungen an sich oder anderen Menschen zur deutlichen Vorstellung gelangt.

Jeder entwickelte Mensch kennt den Verlauf und die mannichfaltigen Schattirungen einer Freude, eines Schmerzes; jeder hat den plötzlichen Umschlag von der ersten zum zweiten und umgekehrt erfahren; jeder hat die aus zwei Gefühlsgegensätzen entstehenden gemischten Gefühle erlebt: Schwanken zwischen Freude und Schmerz, Furcht und Hoffnung, Liebe und Haß.

Ein jedes Gefühl trägt eine Bewegung, Gliederung und Begrenzung in sich, tritt also in einer Form auf.

Das Musikwerk soll nun einen ähnlichen Gefühlsproceß im Hörer hervorrufen, indem es die zu schildernden Gefühle durch die Ausdrucksmittel der Musik wiederzuspiegeln und zu versinnlichen sucht.

Jedes Gefühl für sich oder jeder Complex von Gefühlen erschien in einer bestimmten, in seinen einzelnen Erscheinungen und im Ganzen gegliederten und begrenzten Form – das den Gefühlsproceß versinnlichende Tonwerk wird nun ebenfalls einer solchen, durch den Inhalt auch äußerlich gegliedert erscheinenden Form bedürfen, um für uns verständlich zu werden.

Da sämmtliche Gefühle in ihrem Verlaufe viel Aehnliches mit einander haben, werden auch die allgemeinen Formen der sie versinnlichenden Tonwerke in ihren Umrissen viel Gemeinsames unter sich zeigen; eben so mannichfaltig aber wie dasselbe Grundgefühl durch die Veranlassung seiner Entstehung und durch hinzutretende Nebenumstände modificirt wird, eben so verschiedenartig wie dasselbe Grundgefühl in verschiedenen Menschen durch die Individualität in unerschöpflich reichen Nuancirungen erscheint, eben so unerschöpflich reich an Specialitäten werden auch die allgemeinen Umrisse der Kunstformen sich erweisen. Dieselbe Gefühlsregung wird in verschiedenen Menschen sich nach ihrer Individualität verschieden äußern, überdies werden auch andere Menschen dieselbe Sache anders empfinden – also bei allem Allgemeinen eine unendliche Mannichfaltigkeit; gerade so ist es auch in den Musikformen.

Um nur allein von dem Reichthume der Beethoven’schen Sonaten zu sprechen: sämmtliche bieten in ziemlich denselben Umrissen eine solche Mannichfaltigkeit des Inhaltes und demgemäß der Gliederung, Gruppirung und Theilung im Kleinen und Großen, daß keine der anderen, trotz der im wesentlichen gleichen Grundform, ähnlich erscheint.

Doch kann die Tonkunst nur das Gefühl selbst analogisiren; die Veranlassung seines Entstehens, die Gründe seiner Modificationen und Contraste höchstens nur unbestimmt ahnen lassen. Wir werden nur aus dem mehr oder minder bedeutenden Auftreten und größeren Aufschwünge zur Erhabenheit oder aus dem minder pathetischen Ergusse des Gefühles annähernd zu schließen vermögen, ob die Veranlassung desselben von Leben und Seele erschütternder oder minder ergreifender Bedeutung gewesen ist. Bei der allgemein genannten C moll-Symphonie von Beethoven wird fast Jeder ahnen, daß die Veranlassung der großen Gemüthsbewegungen eine gewaltsam hereinbrechende und erschütternde gewesen ist. Ob diese Veranlassung aber z. B. der Tod einer geliebten Person oder irgend ein anderer heftiger Schicksalsschlag war, können wir nicht aus der Musik erfahren wollen; die Veranlassungen der Gemüthsbewegungen können wir nur selbst in das Werk hineindichten.

Das Individuelle des Gefühls, wodurch es allerdings gerade den Stempel des Interessanten erhält, darf jedoch nicht die allgemeine Faßlichkeit desselben überwuchern, indem sonst auch das Tonwerk, sowie das Gefühl selbst, unverstanden bleiben muß. Durchaus capriciöse Subjectivität, welche von der Natur aus individueller Laune sich entfernt und darauf fußt, alle Dinge anders ansehen und fühlen zu wollen, wie andere gesunde Menschen, wird naturgemäß auch nur von gleichen Geistern, oder besser, gar nicht begriffen werden. Die Empfindungen in einem Tonwerk sollen nicht bunt durcheinander auf uns einstürmen, uns bald da, bald dorthin reißen, von einem Gefühl zum andern ohne denkbare Ursache überspringen; wie wir einem Menschen, den wir in einem Augenblicke weinen, lachen, lieben und hassen, rasen und sich mild anstellen sehen, wenig Vernunft und Charakter zutrauen, ebenso werden wir auch naturgemäß an einem Musikstück, in dem nur charakterlose Laune waltet und die Gedankeneinheit fehlt, kein Wohlgefallen finden. Das Tonstück, welches schnell vorüberziehend ein freies Spiel der Phantasie zu sein scheint, soll also nicht aus momentaner Willkür einer mehr oder minder phantastisch erregten Subjectivität hervorgegangen sein, sondern, wie schon gesagt, auf allgemeiner Faßlichkeit und natürlicher Entwickelung seiner Gedanken beruhen.

Neben diesen, einen bestimmten Gefühlsinhalt in sich tragenden Musikwerken sprachen wir auch von solchen, die nur reine Musik sind, reine Composition in Tönen ohne einen auch nur zu ahnenden Gefühlsinhalt. In der That würde es bei vielen Werken, besonders der Haydn-Mozart’schen Periode, sehr schwer werden, einen solchen idealen Inhalt herauszufinden. Man könnte geradezu sagen, daß ein solcher ihnen gänzlich fehlt oder dem Künstler wenigstens nicht zum klaren Bewußtsein gelangt und zur Absicht geworden ist. In diesem Falle ist das Werk ein reines Tonspiel; und doch können wir solchen Werken, in denen nur eine rein musikalische Wirkung zu walten scheint, oft unser größtes Wohlgefallen nicht versagen. Von solchen Werken, deren ganze Bedeutung in ihrem rein musikalischen Inhalte ruht, die eine Parallelisirung desselben mit einem bestimmten Gefühlsinhalte gar nicht zu fordern oder zuzulassen scheinen, hat man wohl gesagt, daß gerade sie die Tonkunst am reinsten erfüllten.

Das kann hier nicht weiter erörtert werden; gewiß ist aber, daß besonders durch Beethoven die reine Instrumentalmusik als dichterische Tonkunst zur höchsten Entfaltung gelangt ist, indem sie bei ebenso vollendeter rein musikalischer Schönheit noch eine tiefere allgemeine Idee in sich tragen soll. In der Vocalmusik ist dieses höhere Ideal der Musik schon durch Bach und Händel erreicht. Die Schritte, welche einzelne Künstler nach Beethoven über ihn hinaus gethan zu haben beanspruchen, gehen meist nach der Seite des Aeußerlichen und Materiellen hin. – Wir sprachen schon vorhin davon, daß die musikalischen Formen eben so mannichfaltig seien, wie der Gefühlsinhalt, der in ihnen zur Entscheidung kommen soll, verschieden ist. Aber die Umrisse sind sich ähnlich, sowie bei der menschlichen Gestalt das individuell Verschiedene doch an denselben allgemeinen äußeren Formen haftet; die sonst gleiche äußere Körperbildung zweier Menschen erscheint in ihrem geistigen Ausdrucke durch das innere Leben des Individuums modificirt.

Diese allgemeinen Kunstformen zerfallen in der Musik in zwei, ihrem idealen Inhalte nach ziemlich deutlich zu scheidende Hauptabtheilungen, in die des strengen oder kirchlichen und in die des freien oder weltlichen Styles. Die Kirchenmusik, welche ebenfalls die menschlichen Empfindungen, aber in ihrer directen Beziehung zum göttlichen Wesen zum Inhalte hat, bedient sich meist der auf den polyphonen contrapunktischen Satz begründeten Formen. Der Chorgesang ohne Begleitung (a capella) und in Verbindung mit dem Orchester hat in der kirchlichen Kunst seine höchste Entwickelung erlangt; die reine Instrumentalmusik dagegen tritt hier in den Hintergrund zurück. Dafür hat sie in der weltlichen Musik, besonders in der Symphonie ihre großartigste und freieste Entfaltung gewonnen.

Die Formen der weltlichen Musik haben sich besonders in der neueren Zeit am höchsten entwickelt (durch Haydn, Mozart und Beethoven) und schärfer von den kirchlichen gesondert; die letzteren haben schon in Bach und Händel ihre höchste Erfüllung erreicht, über die die neuere Zeit keinen Schritt hinausgelangt ist – wahrscheinlich, weil es ihr auch an bestimmten religiösen Ideen gebricht.

Nun wollen wir aber in unserer Besprechung wieder umkehren und, ehe wir die einzelnen Formen in’s Auge fassen, betrachten, wie der Ton, welchen die Kunst, von der Natur empfangen und nach bestimmten aufgefundenen Gesetzen der Höhe und Tiefe, des Zusammenklanges und des Wechsels in der Zeit geordnet hat, Darstellungsmittel der Gefühle und Leidenschaften durch drei Factoren wird. Diese drei Factoren sind: die Melodie, die Tonfolge in Betreff der Höhe und Tiefe; die Harmonie, der Zusammenklang der Töne, und der Rhythmus, die Bewegung in der Zeit.

Darüber wohl ein anderes Mal etwas Näheres.

[638]
II.
Ton. – Intervall. – Melodie.

Wenn man einen Gegenstand von cohärenter Masse, eine Glocke, Glastafel, Holzplatte, Stahlfeder, Darmsaite u. dgl. durch Stoß, Schlag oder Reibung in vibrirende Bewegung setzt, so entsteht, indem diese Bewegung auch zugleich die den Gegenstand umgebende Luft in Schwingungen bringt, der Schall. Die Luft bewegt sich bei der Schallerzeugung in zahlreichen, immer größer werdenden concentrischen Kreisen, welche in Wellenform, nicht nur der Länge und Breite nach, wie die Wasserkreise bei einem hineingeworfenen Stein, sondern auch in allen Richtungen der Höhe und Tiefe von dem Schallwerkzeug ausgehen. Das Medium, durch dessen Vermittlung der Schall zu uns getragen wird, kann die Luft selbst sein, aber auch, mit mehr oder weniger gutem Resultat, ein fester oder flüssiger Gegenstand, Holz, Eisen, Blei, Glas, das Wasser u. s. w.

Ist dieser Schall von bestimmt vernehmlicher und unterscheidbarer, sich gleichbleibender Höhe oder Tiefe, so nennen wir ihn Ton.

Der Raum, das Entfernungsverhältniß zwischen einem höheren und tieferen Ton heißt Intervall.

Den Klang, der einen Ton vom andern, nicht der Höhe oder Tiefe, sondern dem Charakter nach unterscheidet (auf der Geige, Flöte, dem Horn oder Klavier), nennen wir die Klangfarbe.

Die Höhe und Tiefe des Tones wird bedingt durch die Anzahl der in einer Zeiteinheit von dem Tonwerkzeug ausgehenden Schallwellen. Verkürzen Sie eine Saite, so wird die Anzahl ihrer Schwingungen in derselben Zeit vermehrt, der Ton wird höher; verlängert man die Saite, so vermindert sich die Schwingungszahl, der Ton sinkt zur Tiefe herab.

Die Stärke des Tones ist durch die Größe der in der Tonwelle erzitternden Luftmasse und durch den Grad der Heftigkeit, mit der sie erregt wird, bestimmt. Tonhöhe und Tonstärke gehen also von ganz gesonderten Bedingungen aus – ein Glück für die Musik, indem sonst jede Veränderung der Stärke des Tones auch eine Umstimmung seiner Höhe und Tiefe nach sich ziehen würde. Das ist aber, wie Sie wissen, nicht der Fall – man kann einen Ton anschlagen, so stark oder schwach man will, die Tonhöhe bleibt nichtsdestoweniger dieselbe.

Die Klangfarbe des Tones geht aus der Form der Luftwellen hervor; allerdings hängt sie ab von dem Bau des Tonwerkzeuges und der Masse, woraus es besteht, jedoch nur sofern Bau und Masse Einfluß haben auf die Form der Luftwelle.

Damit wir uns in der Folge besser verständigen können, wollen wir wenigstens einige der einfachsten Tonverhältnisse betrachten. Natürlich können hier nur Andeutungen der äußersten Umrisse gegeben werden – denken Sie deshalb nicht, Sie hätten die Sache selbst sich schon zu eigen gemacht, wenn Sie diese Andeutungen in sich aufgenommen haben. Wirkliche Kenntniß von einer Sache, und besonders von einer Kunst und den ihr eigenthümlichen Ausdrucksmitteln werden Sie nicht aus populären Aufsätzen darüber, sondern nur aus der Sache unmittelbar und ihrer positiven Lehre schöpfen können. Hier soll Ihnen nur Anregung zum eigenen Denken und Lernen gegeben werden. Wollten Sie sich etwas eingehendere Kenntniß von der Harmonielehre verschaffen, so müßten Sie sich wirklich hineinarbeiten; zur Anleitung empfehle ich E. F. Richter’s ebenso gründliche, wie klare und kurzgefaßte Harmonielehre.

Wenn Sie zwei Saiten von genau gleicher Länge, Dicke und Schwere mit derselben Kraft ausspannen, so lassen beide ganz genau denselben Ton hören. Dieses Tonverhältniß von z. B. c mit sich selbst heißt die reine Prime.

Verkürzen Sie eine der beiden Saiten, die wir c nennen wollen, genau um die Hälfte, so erhalten wir wiederum den Ton c, aber als Potenz der doppelten Tonhöhe der andern Saite. Dieser Ton (auf dem Klavier die achte Untertaste vom Grundton) ist die reine Octave (2:1).

Verkürzt man die Saite um ein Drittel, so entsteht der fünfte Ton der Tonleiter, die reine Quinte, c–g (3:2); nehmen Sie ein Viertel von der Saite hinweg, so daß nur drei Viertel tönen, so entsteht c–f, die reine Quarte (4:3.)

Diese 4 genannten Intervalle stehen zu ihrem Grundton (der unverkürzten Saite) in den reinsten consonirenden Verhältnissen, deren Einfachheit schon aus den Zahlen einleuchtet, deshalb werden sie reine Intervalle genannt.

Je weiter die Zahlenverhätnisse der Intervalle sich von dieser Einfachheit entfernen, desto mehr verlieren die Intervalle an reiner Consonanz mit dem Grundton; so sind die großen und kleinen Terzen, die dritte, und die Sexten, die sechste Stufe der Tonleiter, schon unvollkommene Consonanzen; die zweite und siebente Stufe, die Secunden und Septimen, sind endlich Dissonanzen.

Mit den Benennungen Consonanz und Dissonanz dürfen Sie nicht eine Unterscheidung in Wohlklang und Mißklang verbinden – auch die Dissonanz trägt den Wohlklang in sich, wenngleich noch nicht in der Erfüllung, sondern erst in der Erwartung.

Die Consonanz ist ein abgeschlossenes Klangverhältniß, welches einen weiteren Fortgang, eine weitere Folge nicht unabweislich fordert; ihr Charakter ist Ruhe, Selbstständigkeit, Befriedigung in sich selbst. Ueberzeugen Sie sich am Klavier, indem Sie eines jener reinen oder consonirenden Intervalle c–c, c–g oder c–e, c–a anschlagen; Gehör und Gefühl werden von diesem Zusammenklingen völlig befriedigt sein, kein Bedürfniß einer Aenderung, keine Unruhe unbedingt empfinden – deshalb auch keine Ausgleichung, keine Wiederherstellung der Ruhe durch eine weitere Tonfolge beanspruchen.

Die Dissonanz dagegen liegt mit sich selbst gewissermaßen in Streit, und sehnt sich aus dieser Unbefriedigung heraus nach [639] der Ruhe und Erfüllung der Consonanz, Sie erreicht diesen erwünschten Zustand in der Auflösung – sie wird zur Consonanz, wenn ihr unteres oder oberes Intervall einen Schritt abwärts (mitunter auch aufwärts) geht. Geben Sie auf dem Instrument z. B. die Secunde d–e an, so haben Sie den herben Klang der Dissonanz; er wird noch herber und schärfer, wenn das Intervall noch enger zusammentritt, d–es; führen Sie das d nach c abwärts, so ist der Streit oder die Sehnsucht der Secunden-Dissonanz in die Ruhe und Befriedigung der Terzen-Consonanz (c–e oder c–es) übergegangen, die Dissonanz hat sich aufgelöst.

Consonanzen waren also nur die 4 reinen Intervalle und die großen und kleinen Terzen und Sexten; Dissonanzen die Secunden und Septimen, außerdem aber noch alle aus den reinen großen und kleinen Intervallen durch chromatische Erweiterung und Zusammenziehung entstandenen verminderten und übermäßigen Intervalle. Die Dissonanzen sind also der Zahl nach viel reicher und mannichfaltiger in der Musik, als die Consonanzen. –

Wir wollen noch ganz kurz die allernächsten Verwandtschaftsverhältnisse der Töne und Tonarten betrachten.

Sie wissen, daß einem jeden Musikstück eine Haupttonart zu Grunde liegt, deren Toninhalt in der Tonleiter zusammengefaßt ist. Um diese Haupttonart herum bewegt sich in unmittelbarer oder entfernterer Nähe der Kreis der in verschiedenen Verwandtschaftsgraden zur Haupttonart stehenden Nebentonarten.

Betrachten Sie die Cdur Tonleiter:

c d e⁀f | g a h⁀c

und Sie werden vom 3. zum 4. und vom 7. zum 8. Ton eine kleine Secunde, einen halben Ton, finden. Durch diese Halbtöne theilt sich die Tonleiter in zwei ganz gleiche Hälften (Viertöne, Tetrachorde), deren erste vom Grundton zur Quarte, die zweite von der Quinte zur Octave geht.

Sehen Sie nun den zweiten Vierton g–c als Anfangsstufen, und den ersten Vierton c–g als Schlußstufen zwei neuer Tonleitern an, und führen Sie dieselben auf- und abwärts bis zu ihren Octaven hin:

wobei Sie, um auch hier wiederum die richtige Lage der Halbtöne zu gewinnen, den 7. Ton von g, die Septime f in fis, und den 4. Ton von f unten, die Quarte h in b verwandeln müssen: so erhalten Sie die mit der Haupttonart cdur nächstverwandten Nebentonarten, gdur, die Dominanten-, und fdur, die Unterdominanten-Tonart genannt.

So können Sie auf jedem 5. Ton einer Tonleiter eine neue errichten, wobei Sie jedoch stets den 7. Ton erhöhen müssen. Dieser siebente Ton spielt eine sehr wichtige Rolle in der Musik, er heißt der Leiteton, weil er die aufwärtssteigende Tonleiter in ihre Octave zum Abschluß führt. Es darf nur ein halber Ton von der Octave aus sein, weil er nur als große Septime (c–h) entschieden zur Octave hindrängt, als kleine (c–b) dagegen sich abwärts neigt. Alle (durch oder ) erhöheten Töne haben überhaupt die Neigung, ihren Gang aufwärts weiter fortzusetzen, während die erniedrigten Intervalle (durch oder ), ebenso ihrem Wesen entsprechend, sich abwärts neigen.

Wenn wir uns nun zur Besprechung der Melodie wenden, so ist vorauszusenden, daß die 3 Factoren der Musik, Melodie, Harmonie und Rhythmus, getrennt eigentlich gar nicht darstellbar sind – sie treten, strenge genommen, eigentlich niemals vereinzelt wirkend auf, sondern stets mit einander verbunden, wenn auch der eine oder andere von ihnen zeitweilig eine überwiegende Geltung über die andere erlangt, so daß man wohl sagen kann, diese oder jene Stelle sei überwiegend melodisch, oder ihre Wirkung beruhe hauptsächlich auf der Harmonie oder auf der rhythmischen Bewegung, während Harmonie und Melodie weniger ausgeprägt erscheinen.

Sie fehlen darum jedoch keineswegs. So ist, wie wir später sehen werden, eine Melodie ohne gleichzeitige Harmonie gar nicht denkbar, und die Harmonie ist, so lange unsere Musik Kunst ist und über den primitivsten Standpunkt eines bloßen Naturgesanges sich erhoben hat, unbedingt nothwendiges, weil eben in der Natur der Musik begründetes, Kunstmittel geworden. Die Harmonielehre hat sich zu einer selbstständigen Wissenschaft von bedeutendem Inhalt und Umfang und tiefsinnig entwickeltem System entfaltet, trotzdem daß Sulzer die Harmonie für eine überflüssige, Rousseau sogar für eine verwerfliche Beigabe der Musik erklärt, für „eine gothische, barbarische Erfindung, an die wir nie gedacht haben sollten, wenn wir mehr Gefühl für die wahren Schönheiten und für eine wahrhaft natürliche und rührende Musik gehabt hätten.“ Aus solchen Worten spricht genug Unklarheit, um einen schwachen Sinnlichkeitsstandpunkt deutlich erkennen zu lassen.

Eine Melodie ist also ohne eine ihr zu Grunde liegende Harmonie eigentlich gar nicht denkbar, ebensowenig das umgekehrte Verhältniß – richtige und wohlklingende Harmoniefolgen ohne irgend welche Melodie in den einzelnen Stimmen. Beide aber können wiederum niemals ohne eine Bewegung und Gliederung, ohne einen Rhythmus oder ein Metrum gedacht werden. Doch hat auch jeder dieser drei Factoren seine ihm allein eigenen unterscheidbaren Merkmale für sich, so daß man sie erst einzeln betrachten kann.

Melodie im eigentlichen Sinne des Wortes ist eine Reihe nacheinanderfolgender Töne. Betrachten Sie ein mehrstimmiges Musikstück, am besten ein Quartett für Singstimmen, so werden Sie es abwechselnd aus einer, zwei, drei oder vier solcher übereinanderliegender Tonreihen – Melodieen in der allgemeinen Bedeutung des Wortes – bestehend sehen.

Wir können auch gleich einen Schritt weiter gehen und sagen: Melodie ist eine einstimmige Folge von Tönen, deren Hebung und Senkung, beziehentlich zur Höhe und Tiefe ihres Tonumfanges, die Hebung und Senkung einer Gemüthsbewegung zum idealen Inhalt hat.

Also schon die einfache Tonfolge, nur das Steigen und Fallen, die ruhig stufen- oder hastig sprungweise Bewegung ihrer Tonschritte, erscheint als der Reflex einer Gemüthsbewegung. Das stufenweise Aufwärtssteigen einer Tonreihe von der Tiefe zur Höhe ihres Tonumfanges erweckt in uns schon das Bild einer allmählichen Gefühlssteigerung; ebenso umgekehrt das stufenweise Abwärts von der Höhe zur Tiefe die Vorstellung einer nach und nach vor sich gehenden Abspannung und Rückkehr zur Ruhe.

Ein Beispiel dafür dürfen wir nicht gerade weit suchen: Sie alle kennen die Tonleiter, woran sich das eben Gesagte schon nachweisen läßt, soweit es überhaupt nachweisbar ist.

Wenn Sie unsere Tonleiter c d e f g a h c aufwärtssteigen, so werden Sie fühlen, daß die Spannung wächst, je höher Sie kommen. Auf dem 7. Ton (dem Ihnen schon bekannten Leiteton) erreicht diese Spannung den höchsten Grad; würden Sie auf diesem Ton abbrechen oder umkehren wollen, so würde das Resultat davon offenbar Unbefriedigung Ihres Gehöres und Gefühles sein, die sich jedoch löst, sowie Sie die Octave betreten, indem alsdann die Steigerung vom Grundton aus ihr Ziel und einen Ruhemoment in dessen Octave erreicht hat.

Beim aufmerksamen Durchspielen oder Singen der Tonleiter werden auch die beiden Punkte fühlbar werden, welche wir vorhin als die End- und Anfangstöne der beiden mit der Haupttonart nächstverwandten Nebentonarten gefunden hatten. Diese beiden Stationspunkte, die Quarte f und die Quinte g, sind uns schon als Unterdominante und Dominante bekannt. Der Gang und die Steigerung zur Octave wird beim Betreten dieser beiden Stellen in der Tonleiter, besonders auf dem f (als dem Schlußton einer um eine Quarte tiefer liegenden Tonart), etwas gehemmt erscheinen, und nimmt auf dem g, so zu sagen, einen neuen Anlauf, und die Tonleiter zerfällt ganz natürlich, wie melodisch (und später harmonisch), so auch schon rhythmisch in zwei Theile, in denen der Wechsel von Bewegung und Ruhe sich schon deutlich erkennbar zeigt. Wir haben hierdurch schon im Voraus einen Beweis, daß keine Melodie, möge sie noch so einfach sein, ohne irgendwelche rhythmische Gliederung sein kann, und daß ebenso wie der Wechsel von Höhe und Tiefe als Melodie, der Wechsel des Zusammenklanges in der Harmonie, so auch die Mannichfaltigkeit der Bewegung und Ruhe als Rhythmus eine nothwendige Eigenschaft der Musik ist.

[651]
II.
Harmonie. – Rhythmus.

Ein ähnliches Gefühl, nur entgegengesetzter Art, wie beim Aufwärtssteigen der Tonleiter, wird man haben, wenn man sich niederwärts wendet; wie dort nach dem Leitton hin immer allmählich anwachsende Bewegung stattfand, so macht sich hier ein Nachlassen von der Octave zum 1. Ton abwärts fühlbar. Dieser Ton (d) verlangt allerdings nicht mit der Bestimmtheit wie der Leitton seine Rückkehr nach c, sondern nimmt auch mit einem unvollkommenen Schluß auf dem 3. Ton, e, fürlieb.

Bei diesem stufenweisen Auf- und Absteigen der Tonleiter haben wir stets die Vorstellung einer ruhigen Stetigkeit, entweder in der An- oder Abspannung. Versetzen wir nun einmal die Intervalle, so daß sie nicht mehr allein stufenweise, sondern auch sprungweise aufeinander folgen, also ein Wechsel von ruhiger Folge und hastiger Bewegung sich bildet – und Sie werden augenblicklich die, so zu sagen, veränderte Gemüthsstimmung erkennen, welche die Tonleiter neu angenommen hat:

c⁀e d⁀g f⁀a g⁀c

Die Octave wird hier nicht mehr in jenem ruhig stetigen Aufwärtssteigen erreicht, sondern in mit stufenweisen Folgen abwechselnden Sprüngen – es ist ein Charakter der Munterkeit, der Lebhaftigkeit in unsere vorhin durchaus ruhige Tonfolge hineingekommen.

Diese Lebhaftigkeit wird fast das Wesen des Affectes annehmen, wenn die schrittweisen Stufenfolgen ganz wegfallen, und die Sprünge sich erweitern, unregelmäßiger werden. So z. B.

c f d a f h g c.

[652] So wird also ganz naturgemäß eine Steigerung des Gefühls aufsteigender Tonfolgen sich bedienen, ein Abnehmen oder Zurücksinken der Stimmung in abwärts sich neigenden einen entsprechenden Ausdruck finden. Eine unruhige, feurige Leidenschaft wird in größeren, unregelmäßigeren Intervallensprüngen sich kundgeben, während dagegen ein ruhiges Sichgleichbleiben auch sanftere, ruhigere Tonfolgen hervorruft. Der Jubel, die Freude, überhaupt die mehr als Affecte sich äußernden Gefühle streben aufwärts, die Trauer, die Demuth, sowie alle mehr in sich selbst sich versenkenden Gemüthsbewegungen neigen sich niederwärts.

Den Punkt, bis zu dem eine solche Ausdrucksfähigkeit bloßer Intervallenfortschreitungen ohne Rhythmus und Harmonie, mit vollkommener Sicherheit zu verfolgen wäre, können wir hier nicht aufsuchen – wie überhaupt bei der populären Darstellung einer Wissenschaft oder Kunst die in sehr enge Grenzen gewiesene Untersuchung zur völligen Austragung des Gegenstandes nicht gelangen kann. Später werden wir noch sehen, daß die Melodie manches Uebereinstimmende mit der Sprache und Declamation hat, selbst eine Sprache ist, jedoch eine potenzirte, zum freien selbständigen Gesang für sich, erhobene Sprache, von der die Declamation als allerdings nothwendiger Theil erscheint. Man möge nur die Töne eines wirklich empfindungsvollen, von einem begabten Menschen im richtigen Affect gesprochenen Satzes zusammenfassen, und wird nicht leugnen können, daß die Hebungen und Senkungen der Declamation, folglich auch des dem Satze zu Grunde liegenden Gefühls, die Grundlage der Hebungen und Senkungen der zu demselben Satze gebildeten Melodie sein werden. Doch was die bloße Sprache und Declamation gewissermaßen noch auf einer Naturstufe ausdrückt, gibt die Musik und Melodie in freiem Kunstausdruck wieder; daß ich eine in’s Einzelne hineingehende Nachahmung der Wortdeclamalion in der Melodie keineswegs für zulässig halte, wird sich später zeigen.

Im Allgemeinen sind Sie gewohnt, die Melodie im engeren Sinne aufzufassen, und zwar als die obere oder überhaupt am meisten in’s Ohr fallende Stimme eines Musikstücks; es ist Ihnen geläufig, die Melodie von der Harmonie getrennt, die letztere als Begleitung der ersteren, zu denken. In der weiteren Bedeutung ist, wie schon erst erwähnt, jede Stimme eines gutgesetzten Tonstücks bis zu einem gewissen Grade, Melodie, diese deshalb Bestandtheil der Harmonie, wie die Harmonie wiederum ihre Grundlage ist.

Unter Harmonie versteht man nun das, auf mannichfachen Gesetzen beruhende gleichzeitige Erklingen von Tönen.

Man kann auch weiter sagen: die Harmonie ist das, zu consonirenden und dissonirenden Ton-Verhältnissen zusammentreffende, gleichzeitige Erklingen mehrerer übereinanderliegender Melodieen. Besonders deutlich zeigt sich dieses an dem polyphonen Styl der kirchlichen Tonkunst, dessen Charakter ist, daß jede der übereinanderliegenden Stimmen ausgebildete, selbständige Melodie sein, und doch mit den andern in einem einheitlichen Zusammenklang aufgehen soll. Dieser Zusammenklang ist die Harmonie.

Sowie eine Folge von richtigen und wohlklingenden Harmonien ohne irgend welche Melodie nicht denkbar ist – ebensowenig eine, wenn auch rein einstimmige Melodie ohne einen, ihren Intervallenschritten zu Grunde liegenden harmonischen Inhalt. Die meisten Intervallenschritte einer Melodie sind Bestandtheile eines Accordes; harmoniefremde (durchgehende) Noten leiten von einem Accord-Intervall zum andern über, die Härte bloßer Accordschritte mildernd und zur Melodie abrundend.

Auch eine rein einstimmige Melodie, ohne jede Begleitung hat in ihren Tonfolgen und Entfernungsmaßen des einen Tones vom andern doch jederzeit eine Hinweisung auf Zusammenklang mit andern Nebenstimmen; ein musikalisch gebildetes Ohr vernimmt mit der Melodie die Harmonie gleichzeitig, auch wenn sie nicht dazu gespielt oder gesungen wird. Ebenso entsteht in der Composition bei Erfindung der Melodie die Harmonie unmittelbar gleichzeitig mit ihr, wird nicht erst, nachdem jene fertig ist, ausgedacht und hinzugefügt.

An und für sich gedacht, erscheinen bloße Accordfolgen eines Gefühlsausdruckes bei weitem weniger fähig, wie die Melodie (oder der Rhythmus). Erst der neuesten Musik gehört eine größere Selbständigkeit der Harmonie für sich an; diese erst besitzt eigentliche harmonische Effecte und Wirkungen, während in der erstern, besonders auf den Grundsätzen des polyphonen Styles ruhenden, die Harmonie, wie schon erst erwähnt, mehr als aus dem Zusammentreffen übereinanderliegender Melodien gewissermaßen zufällig hervorgeht. Wenn in unserer modernen Musik die Melodie bei einer Reihe von Accordfolgen auch niemals gänzlich fehlt, so tritt sie doch oft in den Hindergrund zurück, sodaß die Wirkung und der Ausdruck einer oder der anderen Partie in einem Tonstück hauptsächlich auf der Harmonie beruht. Es kann nicht nur plötzliche Modulation in ferne Tonarten eine plötzliche Umstimmung des Gefühls, oder ein allmähliches Verlassen, ein entsprechend allmähliches Heraustreten aus einem Gemüthszustande versinnlichen, sondern bestimmte Harmoniefolgen je nach der Härte oder Weichheit, dem einfachen oder complicirten Verhältniß ihres Zusammenklanges können auch entsprechenden Gefühlsausdrücken zur Folie dienen.

Also, wie die Harmonie jederzeit tonliche Grundlage der Melodie ist, so hat sie auch sehr wichtige Bedeutung, nicht etwa als nur decoratives, sondern auch zur Deutlichkeit und Modification der in der Melodie ausgesprochenen Stimmung beitragendes Element. Manche Theoretiker, die der Harmonie nur reines Verstandesinteresse gönnen und sie deshalb als etwas der Tonkunst überflüssiges, ja nachtheiliges ansehen, haben diese Meinung wohl mehr einer eigenen begrenzteren Sinnlichkeit wie einem objectiven Nachdenken über die Sache zu verdanken.

Eine rein einstimmige Musik würde uns geradezu langweilen – denken Sie sich, wenn Sie können, eine Symphonie ohne die Fülle der Nebenstimmen und den Reichthum des Tonwechsels in der Harmonie! Und ganz von der Tonwirkung abgesehen, steht der Harmonie eine hohe ästhetische Bedeutung zu; denn die, man möchte sagen, subjective Einsamkeit einer einzelnen einstimmigen Melodie geht in der Vereinigung mit der Harmonie gewissermaßen ein Bündniß mit der größeren Allgemeinheit ein, von der sie nunmehr getragen wird. Die Vereinigung einer reicheren Mannichfaltigkeit von Tönen oder Melodien in der Einheit der Harmonie kann weder der Bedeutung noch der Form nach der Kunst entgegensein, da die Harmonie nicht nur eigene Wirkungen für sich mit sich führt, sondern auch die vereinzelte Schönheit einer einstimmigen Melodie auf eine höhere Stufe der Mannichfaltigkeit erhebt.

Ueber einige Harmonieverhältnisse sei es gestattet, noch etwas zu erwähnen; die Zusammenklänge von Tönen sind jedoch so ungemein reich, daß wir uns natürlich auf die allereinfachsten beschränken.

Daß unser Tonsystem sich in zwei Hauptklanggeschlechter sondert, in Dur und Moll, ist Ihnen bekannt. In der Durtonleiter sind Terz und Sexte groß, in der Molltonleiter klein. Das Durgeschlecht charakterisirt sich in helleren und heiteren Klangfärbungen, die kräftigeren und heiteren Stimmungen gehören ihm an; dem Mollgeschlecht ist der Stempel der Schwermuth und Weichheit aufgedrückt,[WS 1] und die entsprechenden Gefühle finden im allgemeinen in ihm ihren Ausdruck.

Die ganze Masse von Accordgestalten, welche die Musik besitzt, können wir in zwei Hauptgruppen theilen – nämlich in Dreiklänge und Septimenaccorde; alle anderen Accordbildungen sind entweder Ableitungen von diesen Grundformen, oder auch zufällige Accorderscheinungen (Vorhalte, alterirte Harmonien) und deshalb auch im letzteren Falle auf jene Grundformen stets zurückzuführen.

Der Dreiklang ist das Zusammenklingen des Grundtons mit seiner Terz und Quinte: ist die Terz groß, so ist es ein großer Dreiklang, ein Duraccord (c–e–g); ist sie klein, so ist es ein kleiner Dreiklang, ein Mollaccord (c–es–g). Ebenso entsteht aus dem großen Dreiklang der übermäßige (c–e–gis) durch Erhöhung der Quinte, und der verminderte (cis–e–g) durch Erhöhung des Grundtons.

Fügen Sie dem Dreiklang eine dritte Terz (die Septime vom Grundton) hinzu, so entsteht der Septimenaccord. (c–e–g–h der große, mit großer Septime, c–e–g–b, der kleine, mit kleiner Septime und cis–e–g–b, der verminderte Septimenaccord mit verminderter Septime; ebenso auch die Septimenaccorde c–e–gis–h und c–es–g–b.)

Nur der große und kleine Dreiklang sind consonirende Accorde – alle übrigen chromatisch veränderten Dreiklänge, sowie alle Septimenaccorde sind dissonirende Harmonien, welche demgemäß der Auflösung in consonirende Harmonien bedürfen. Alles vorhin über die Dissonanzen gesagte, findet hier seine Anwendung.

In der Tonleiter waren uns vorhin drei Töne besonders [653] wichtig geworden: der Grundton, die Quinte und die Quarte. Ebenso wichtig sind uns die auf diesen drei Tönen errichteten Dreiklänge: der tonische, der Dominant- und der Unterdominant-Dreiklang genannt.

Ebenso können Sie auf allen andern Stufen Dreiklänge aus den Tönen der Tonleiter errichten, und diese Accorde heißen alsdann leitereigene Dreiklänge. So also z. B. in C-dur:

g a h c d e f
e f g a h c d
c d e f g a h

Die 1., 4. und 5. Stufe trägt Durdreiklänge, die 2., 3. und 6. Molldreiklänge, die 7. dagegen einen verminderten Dreiklang. Ebenso kann man auch jedem dieser Dreiklänge eine leitereigene Septime hinzufügen.

Diese Accorde kann man nun miteinander verbinden, ohne die Tonart zu verlassen. Der Dominantaccord macht stets, direct oder indirect mit dem tonischen Dreiklang verbunden, den Schluß, weil seine Terz der Leiteton ist. Tritt nun der Dominantaccord einer fremden Tonart mit seiner der vorherigen Tonart fremden Vorzeichnung vor seiner Terz auf (z. B. d-fis-a), so führt er in diejenige Tonart, deren Leiteton seine Terz ist (fis ist Leiteton von g, also nach g-dur oder Moll). –

Der Rhythmus ist die Gliederung des Zeitinhaltes eines Tonwerkes. Unsere bisher ohne Theilung, so zu sagen anfang- und endlos hinströmende Reihe melodisch und harmonisch verbundener Töne sondert und gliedert der Rhythmus nun in bestimmte Sätze, in geordnet zusammengefaßte Gedanken, deren jeder als seinem Inhalt nach durch Anfang und Ende faßlich begrenzter Zeitraum für sich, als Satz, Periode oder Satzgruppe im Ganzen des Tonstückes und als Theil desselben ähnlich dasteht, wie Satz, Periode und Satzgruppe in der Rede.

Der Rhythmus ist der selbstständigste unserer drei Factoren. Man könnte sich keine Melodie ohne Harmonie denken, ebensowenig das umgekehrte Verhältniß – viel eher kann man sich einen Rhythmus von beiden abgelöst, für sich allein denken. Als das am leichtesten verständliche und faßliche der musikalischen Ausdrucksmittel, erscheint er auch als das selbst dem weniger gebildeten Menschen am leichtesten erkennbare Analogen unserer Gemüthsbewegungen. Er verleiht der Verbindung von Melodie und Harmonie erst recht eigentlich den charakteristischen Ausdruck; durch seine beharrende oder wechselnde, dem Gange des zu schildernden Gefühls analoge Bewegung macht er die Melodie oder den Tonsatz zu einem Spiegelbild des inneren Seelenlebens.

Ebenso, wie zur Melodie ein Wechsel von Höhe und Tiefe, zu der Harmonie ein Wechsel der Vereinigung erforderlich ist, ebenso gehört zum Rhythmus eine Mannichfaltigkeit in der Bewegung. Ganz gleichmäßig, sowohl in Betreff der Zeit als auch der Stärke, aufeinanderfolgende Schläge bieten gar keine Veranlassung zu einer Gliederung. Man kann das angenommen ganz gleichmäßige Pendelschlagen einer Uhr zu keinem rhythmischen Gedanken zusammenfassen, denn es fehlt jeder Moment, der sich auf Grund einer deutlich hervortretenden Gliederung oder Betonung als Anfang oder Ende eines rhythmischen Gebildes kundgeben könnte.

Anders wird es schon, wenn der erste von zweien oder dreien dieser Pendelschläge stärker betont wird, wenn ein Accent darauf ruht. So finden wir in unserer einfachen Choralmelodie, welche sich in ganz gleichen halben oder Viertelnoten bewegt, außer den die Sätze abtheilenden Fermaten nur den Rhythmus des Accents: ´– – | ´– – | ´– – | u. s. w.

Setzen Sie statt dieses Wechsels von stark und schwach den von lang und kurz, also – υ | – υ | – υ |, so erhält der Rhythmus, da der Accent nichtsdestoweniger nicht ausbleibt, schon ein beliebteres rhythmisches Bild.

Der musikalische Rhythmus ist nun einer unendlich reichen Gliederung fähig, deren Grundlage allerdings immer der Wechsel von langen und kurzen, betonten und accentlosen Noten sein wird. Ebensowenig, wie bei einem völligen Mangel an Abwechselung, können wir von Rhythmus sprechen, wenn diese Verschiedenheit zwar vorhanden ist, aber ohne alle gleichmäßige Wiederkehr. Also eine Regelmäßigkeit in der Verschiedenheit, eine Wiederkehr in der Abwechselung ist die Bedingung des Rhythmus.

Diese Regelmäßigkeit ist der Takt (in der Poesie das Metrum), die Zusammenfassung der ungleichartigen rhythmischen Momente in stets wiederkehrende gleiche Summen. Die gesammte, mannichfach wechselvolle Bewegung einer Melodie, so zu sagen ihre Physiognomie der Bewegung in der Zeit, ist der Rhythmus – das Maß, nach welchem die Verschiedenheit der Bewegung in einer Tonreihe zu gleiche Summen enthaltenden Zeitabschnitten sich zusammenaddirt, ist der Takt.

Kann man die Inhaltssumme des Taktes durch fortgesetzte Halbirung ohne Brüche in stets gleiche Theile zerlegen, so ist es eine gerade Taktart, der 4/4 Takt (der 2/4, 4/8 Takt sind nur Unterarten); gibt die Halbirung dagegen einen Bruch, so ist es eine ungerade Taktart, 3/4 Takt. Die einzelnen Theile des Taktes können Sie nun in kleinere zerlegen oder zu größeren zusammenziehen, ohne dadurch die Zeitdauer des Taktes zu verändern. So kann z. B. der 3/4 Takt in 12/16 sich auflösen oder zu einer halben Note und einem Viertel sich zusammenziehen – der Zeitinhalt des Taktes wird dadurch nicht verändert, nur seine rhythmische Gestalt.

Das erste Theilungsglied des Taktes trifft der Accent, die natürliche metrische Betonung; es wird der gute Takttheil genannt.

Alle Rhythmen im Tonstück, die großen rhythmischen Perioden und die kleinen rhythmischen Bilder oder Motive, ebenso auch der Takt bewegen sich nun auf einem in völliger Gleichmäßigkeit seines fortströmenden Flusses beharrenden Hintergründe. Dieser ist das Tempo, das allgemeine Zeitmaß, der Grad der Geschwindigkeit oder Langsamkeit der Bewegung des ganzen Tonsatzes. Das Tempo des Musikstückes strömt in unablässiger Gleichmäßigkeit vorwärts, während mannichfache, ihrem speciellen Zeitwerth nach verschiedene Gliederungen des gesammten Zeitinhaltes, die einzelnen Rhythmen, auf und niedertauchen, und der Takt diese Mannichfaltigkeit der einzelnen Rhythmen in Zeitabschnitte von gleicher Inhaltssumme zusammenfaßt.

Im nächsten Briefe[WS 2] wollen wir die ersten Gedankenbildungen, die Entwicklung des Motivs zum Satz und zur Periode betrachten. Manches Einzelne wird alsdann noch klarer werden.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: aufdrückt
  2. Weitere Briefe sind nicht erschienen.