Textdaten
<<< >>>
Autor: Friedrich Schiller
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Philosophische Briefe
Untertitel:
aus: Thalia – Erster Band,
Heft 3 (1786), S. 100–139
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1786
Verlag: Georg Joachim Göschen
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld bzw. Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[100]

III.

Philosophische Briefe.

Vorerinnerung.


Die Vernunft hat ihre Epochen, ihre Schiksale, wie das Herz, aber ihre Geschichte wird weit seltner behandelt. Man scheint sich damit zu begnügen, die Leidenschaften in ihren Extremen, Verirrungen und Folgen zu entwikeln, ohne Rüksicht zu nehmen, wie genau sie mit dem Gedankensysteme des Individuums zusammenhängen. Die allgemeine Wurzel der moralischen Verschlimmerung ist eine einseitige und schwankende Philosophie, um so gefährlicher, weil sie die umnebelte Vernunft durch einen Schein von Rechtmäßigkeit, Wahrheit und Ueberzeugung blendet, und eben deswegen von dem eingebohrnen sittlichen Gefühle weniger in Schranken gehalten wird. Ein erleuchteter Verstand hingegen veredelt auch die Gesinnungen – der Kopf muß das Herz bilden.

In einer Epoche, wie die jezige, wo Erleichterung und Ausbreitung der Lektüre den denkenden Theil des Publikums so erstaunlich vergrößert, wo die glükliche Resignation der Unwissenheit einer halben Aufklärung [101] Plaz zu machen anfängt, und nur wenige mehr da stehen bleiben wollen, wo der Zufall der Geburt sie hingeworfen, scheint es nicht so ganz unwichtig zu sein, auf gewisse Perioden der erwachenden und fortschreitenden Vernunft aufmerksam zu machen, gewisse Wahrheiten und Irrthümer zu berichtigen, welche sich an die Moralität anschließen und eine Quelle von Glükseligkeit und Elend sein können, und wenigstens die verborgenen Klippen zu zeigen, an denen die stolze Vernunft schon gescheitert hat. Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit – wir müssen den Irrthum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit hinauf arbeiten.

Einige Freunde, von gleicher Wärme für die Wahrheit und die sittliche Schönheit beseelt, welche sich auf ganz verschiedenen Wegen in derselben Ueberzeugung vereinigt haben, und nun mit ruhigerem Blik die zurükgelegte Bahn überschauen, haben sich zu dem Entwurfe verbunden, einige Revolutionen und Epochen des Denkens, einige Ausschweifungen der grübelnden Vernunft in dem Gemählde zweier Jünglinge von ungleichen Karakteren zu entwikkeln, und in Form eines Briefwechsels der Welt vorzulegen. Folgende Briefe sind der Anfang dieses Versuchs.

Meinungen, welche in diesen Briefen vorgetragen werden, können also auch nur beziehungsweise wahr [102] oder falsch sein, gerade so, wie sich die Welt in dieser Seele und keiner andern spiegelt. Die Fortsezung des Briefwechsels wird es ausweisen, wie diese einseitige, oft überspannte, oft widersprechende Behauptungen, endlich in eine allgemeine, geläuterte und festgegründete Wahrheit sich auflösen.

Scepticismus und Freidenkerei sind die Fieberparoxysmen des menschlichen Geistes, und müssen durch eben die unnatürliche Erschütterung die sie in gut organisirten Seelen verursachen, zulezt die Gesundheit bevestigen helfen. Je blendender, je verführender der Irrthum, desto mehr Triumph für die Wahrheit, je quälender der Zweifel, desto größer die Aufforderung zu Ueberzeugung und fester Gewisheit. Aber diese Zweifel, diese Irrthümer vorzutragen, war nothwendig; die Kenntniß der Krankheit mußte der Heilung vorangehen. Die Wahrheit verliert nichts, wenn ein heftiger Jüngling sie verfehlt, eben so wenig als die Tugend, und die Religion, wenn ein Lasterhafter sie verläugnet.

Diß mußte voraus gesagt werden um den Gesichtspunkt anzugeben, aus welchem wir den folgenden Briefwechsel gelesen und beurtheilt wünschen.




[103]
Julius an Raphael.
Im October.

Du bist fort, Raphael – und die schöne Natur geht unter, die Blätter fallen gelb von den Bäumen, ein trüber Herbstnebel ligt wie ein Bahrtuch über dem ausgestorbnen Gefilde. Einsam durchirre ich die melancholische Gegend, rufe laut deinen Namen aus, und zürne, daß mein Raphael mir nicht antwortet.

Ich hatte deine lezten Umarmungen überstanden. Das traurige Rauschen des Wagens, der dich von hinnen führte, war endlich in meinem Ohre verstummt. Ich Glüklicher hatte schon einen wohlthätigen Hügel von Erde über den Freuden der Vergangenheit aufgehäuft, und jezt stehest du gleich deinem abgeschiedenen Geiste von neuem in diesen Gegenden auf, und meldest dich mir auf jedem Lieblingsplaz unsrer Spaziergänge wieder. Diesen Felsen habe ich an deiner Seite erstiegen, an deiner Seite diese unermeßliche Perspektive durchwandert. Im schwarzen Heiligthum dieser Buchen, ersannen wir zuerst das kühne Ideal unsrer Freundschaft. Hier wars, wo wir den Stammbaum der Geister zum erstenmal aus einander rollten und Julius einen so nahen Verwandten in Raphael fand. Hier ist keine Quelle, kein Gebüsche, kein Hügel, wo [104] nicht irgend eine Erinnerung entflohener Seligkeit auf meine Ruhe zielte. Alles, alles hat sich gegen meine Genesung verschworen. Wohin ich nur trete, wiederhole ich den bangen Auftritt unsrer Trennung. –

Was hast du aus mir gemacht, Raphael? Was ist seit kurzem aus mir geworden! Gefährlicher großer Mensch! daß ich dich niemals gekannt hätte oder niemals verloren! Eile zurük, auf den Flügeln der Liebe komm wieder oder deine zarte Pflanzung ist dahin. Konntest du mit deiner sanften Seele es wagen, dein angefangenes Werk zu verlassen, noch so fern von seiner Vollendung? Die Grundpfeiler deiner stolzen Weisheit wanken in meinem Gehirne und Herzen, alle die prächtigen Palläste die du bautest, stürzen ein, und der erdrükte Wurm wälzt sich wimmernd unter den Ruinen.

Selige paradiesische Zeit, da ich noch mit verbundenen Augen durch das Leben taumelte, wie ein Trunkner – Da all mein Fürwiz und alle meine Wünsche an den Gränzen meines väterlichen Horizonts wieder umkehrten – da mich ein heitrer Sonnenuntergang nichts höhres ahnden ließ, als einen schönen morgenden Tag – da mich nur eine politische Zeitung an die Welt, nur die Leichengloke an die Ewigkeit, nur Gespenstermährgen an eine Rechenschaft nach dem Tode erinnerten, da ich noch vor einem Teufel bebte, und desto herzlicher an der Gottheit hieng. Ich empfand und war glüklich. Raphael hat mich denken gelehrt, [105] und ich bin auf dem Wege meine Erschaffung zu beweinen.

Erschaffung? – Nein, das ist ja nur ein Klang ohne Sinn den meine Vernunft nicht gestatten darf. Es gab eine Zeit, wo ich von nichts wußte, wo von mir niemand wußte, also sagt man, ich war nicht. Jene Zeit ist nicht mehr, also sagt man, daß ich erschaffen sei. Aber auch von den Millionen die vor Jahrhunderten da waren, weis man nun nichts mehr, und doch sagt man, sie sind. Worauf gründen wir das Recht den Anfang zu bejahen und das Ende zu verneinen? Das Aufhören denkender Wesen, behauptet man, widerspricht der unendlichen Güte. Entstand denn diese unendliche Güte erst mit Schöpfung der Welt? – Wenn es eine Periode gegeben hat wo noch keine Geister waren, so war die unendliche Güte ja eine ganze vorhergehende Ewigkeit unwirksam? Wenn das Gebäude der Welt eine Vollkommenheit des Schöpfers ist, so fehlte ihm ja eine Vollkommenheit vor Erschaffung der Welt? Aber eine solche Voraussezung widerspricht der Idee des vollendeten Gottes, also war keine Schöpfung – Wo bin ich hingerathen, mein Raphael? – Schreklicher Irrgang meiner Schlüsse! Ich gebe den Schöpfer auf, sobald ich an einen Gott glaube. Wozu brauche ich einen Gott, wenn ich ohne den Schöpfer ausreiche?

Du hast mir den Glauben gestohlen, der mir Frieden gab. Du hast mich verachten gelehrt, wo ich [106] anbetete. Tausend Dinge waren mir so ehrwürdig, ehe deine traurige Weisheit sie mir entkleidete. Ich sah eine Volksmenge nach der Kirche strömen, ich hörte ihre begeisterte Andacht zu einem brüderlichen Gebet sich vereinigen – zweimal stand ich vor dem Bette des Todes, sahe zweimal – mächtiges Wunderwerk der Religion! – die Hofnung des Himmels über die Schrökniße der Vernichtung siegen und den frischen Lichtstral der Freude im gebrochnen Auge des Sterbenden sich entzünden. Göttlich, ja göttlich muß die Lehre sein, rief ich aus, die die Besten unter den Menschen bekennen, die so mächtig siegt, und so wunderbar tröstet. Deine kalte Weisheit löschte meine Begeisterung. Eben so viele sagtest du mir drängten sich einst um die Irmensäule und zu Jupiters Tempel, eben so viele haben eben so freudig ihrem Brama zu Ehren den Holzstoß bestiegen. Was du am Heidenthum so abscheulich findest, soll das die Göttlichkeit deiner Lehre beweisen?

Glaube niemand als deiner eignen Vernunft, sagtest du weiter. Es giebt nichts heiliges als die Wahrheit. Was die Vernunft erkennt, ist die Wahrheit. Ich habe dir gehorcht, habe alle Meinungen aufgeopfert, habe gleich jenem verzweifelten Eroberer alle meine Schiffe in Brand gestekt, da ich an dieser Insel landete, und alle Hofnung zur Rükkehr vernichtet. Ich kann mich nie mehr mit einer Meinung versönen, die ich einmal belachte. Meine Vernunft ist mir jezt alles, meine einzige Gewährleistung für Gottheit, [107] Tugend, Unsterblichkeit. Wehe mir von nun an, wenn ich diesem einzigen Bürgen auf einem Widerspruche begegne! wenn meine Achtung vor ihren Schlüssen sinkt! Wenn ein zerrissener Faden in meinem Gehirn ihren Gang verrükt! – Meine Glükseeligkeit ist von jezt an dem harmonischen Takt meines Sensoriums anvertraut. Wehe mir, wenn die Saiten dieses Instrumentes in den bedenklichen Perioden meines Lebens falsch angeben – wenn meine Ueberzeugungen mit meinem Aderschlag wanken!




Julius an Raphael.

Deine Lehre hat meinem Stolze geschmeichelt. Ich war ein Gefangener. Du hast mich herausgeführt an den Tag, das goldne Licht und die unermeßliche Freie haben meine Augen entzükt. Vorhin genügte mir an dem bescheidenen Ruhme, ein guter Sohn meines Haußes, ein Freund meiner Freunde, ein nüzliches Glied der Gesellschaft zu heißen, du hast mich in einen Bürger des Universums verwandelt. Meine Wünsche hatten noch keinen Eingrif in die Rechte der Großen gethan. Ich duldete diese Glüklichen, weil Bettler mich duldeten. Ich erröthete nicht, einen Theil des Menschengeschlechts zu beneiden, weil noch ein größerer übrig war, den ich beklagen mußte. Jezt erfuhr ich zum erstenmal, daß meine Ansprüche auf [108] Genuß so vollwichtig wären, als die meiner übrigen Brüder. Jezt sah ich ein, daß eine Schichte über dieser Atmosphäre ich gerade so viel und so wenig gelte, als die Beherrscher der Erde. Raphael schnitt alle Bande der Uebereinkunft und der Meinung entzwei. Ich fühlte mich ganz frei – denn die Vernunft, sagte mir Raphael, ist die einzige Monarchie in der Geisterwelt, ich trug meinen Kaisertron in meinem Gehirne. Alle Dinge im Himmel und auf Erden haben keinen Werth, keine Schäzung, als soviel meine Vernunft ihnen zugesteht. Die ganze Schöpfung ist mein, denn ich besitze eine unwidersprechliche Vollmacht sie ganz zu genießen. Alle Geister – eine Stufe tiefer unter dem vollkommensten Geist – sind meine Mitbrüder, weil wir alle einer Regel gehorchen, einem Oberherrn huldigen.

Wie erhaben und prächtig klingt diese Verkündigung! Welcher Vorrath für meinen Durst nach Erkenntniß! aber – unglükseliger Widerspruch der Natur – dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten, mit seinen kleinen Bedürfnissen vermengt, an seine kleinen Schiksale angejocht – dieser Gott ist in eine Welt von Würmern verwiesen. Der ungeheure Raum der Natur ist seiner Thätigkeit aufgethan, aber er darf nur nicht zwo Ideen zugleich denken. Seine Augen tragen ihn bis zu dem Sonnenziele der Gottheit, aber er selbst muß erst träge und mühsam [109] durch die Elemente der Zeit ihm entgegen kriechen. Einen Genuß zu erschöpfen muß er jeden andern verloren geben, zwo unumschränkte Begierden sind seinem kleinen Herzen zu groß. Jede neuerworbene Freude kostet ihn die Summe aller vorigen. Der jezige Augenblik ist das Grabmal aller vergangenen. Eine Schäferstunde der Liebe ist ein aussezender Aderschlag in der Freundschaft.

Wohin ich ich nur sehe Raphael, wie beschränkt ist der Mensch! Wie groß der Abstand zwischen seinen Ansprüchen und ihrer Erfüllung! – O beneide ihm doch den wohlthätigen Schlaf. Weke ihn nicht. Er war so glüklich, bis er anfieng zu fragen, wohin er gehen müsse, und woher er gekommen sei. Die Vernunft ist eine Fakel in einem Kerker. Der Gefangene wußte nichts von dem Lichte, aber ein Traum der Freiheit schien über ihm wie ein Bliz in der Nacht, der sie finstrer zurükläßt. Unsre Philosophie ist die unglükseelige Neugier des Oedipus, der nicht nachließ zu forschen, bis das entsezliche Orakel sich auflößte.

Möchtest du nimmer erfahren, wer du bist!

Ersezt mir deine Weisheit, was sie mir genommen hat? Wenn du keinen Schlüssel zum Himmel hattest, warum mußtest du mich der Erde entführen? Wenn du voraus wußtest, daß der Weg zu der Weisheit durch den schreklichen Abgrund der Zweifel führt, warum wagtest [110] du die ruhige Unschuld deines Julius auf diesen bedenklichen Wurf?

                         – Wenn an das Gute
     das ich zu thun vermeine, allzu nah
     was gar zu schlimmes gränzt, so thu ich lieber
     das Gute nicht –

Du hast eine Hütte niedergerissen, die bewohnt war, und einen prächtigen todten Pallast auf die Stelle gegründet.

Raphael ich fodre meine Seele von dir. Ich bin nicht glüklich. Mein Muth ist dahin. Ich verzweifle an meinen eigenen Kräften. Schreibe mir bald. Nur deine heilende Hand kann Balsam in meine brennende Wunde gießen.




Raphael an Julius.

Ein Glük wie das unsrige, Julius, ohne Unterbrechung, wäre zuviel für ein menschliches Loos. Mich verfolgte schon oft dieser Gedanke im vollen Genuß unsrer Freundschaft. Was damals meine Seeligkeit verbitterte, war heilsame Vorbereitung, mir meinen jezigen Zustand zu erleichtern. Abgehärtet in der strengen Schule der Resignation, bin ich noch empfänglicher [111] für den Trost in unsrer Trennung ein leichtes Opfer zu sehen, um die Freuden der künftigen Vereinigung dem Schiksal abzuverdienen. Du wußtest bis jezt noch nicht, was Entbehrung sei. Du leidest zum Erstenmale –

Und doch ists vielleicht Wohlthat für dich, daß ich gerade jezt von deiner Seite gerissen wurde. Du hast eine Krankheit zu überstehen, von der du nur allein durch dich selbst vollkommen genesen kannst, um vor jedem Rükfall sicher zu sein. Je verlaßner du dich fühlst, desto mehr wirst du alle Heilkräfte in dir selbst aufbieten, je weniger augenblikliche Linderung du von täuschenden Palliatifen empfängst, desto sicherer wird es dir gelingen, das Uebel aus dem Grunde zu heben.

Daß ich aus deinem süßen Traume dich erwekt habe, reut mich noch nicht, wenn gleich dein jeziger Zustand peinlich ist. Ich habe nichts gethan, als eine Krisis beschleunigt, die solchen Seelen wie die deinige, früher oder später unausbleiblich bevorsteht, und bei der alles darauf ankömmt, in welcher Periode des Lebens sie ausgehalten wird. Es giebt Lagen in denen es schreklich ist, an Wahrheit und Tugend zu verzweifeln. Wehe dem, der im Sturme der Leidenschaft noch mit den Spizfindigkeiten einer klügelnden Vernunft zu kämpfen hat. Was dieß heiße, habe ich in seinem ganzen Umfang empfunden, und dich vor einem solchen [112] Schiksale zu bewahren, blieb mir nichts übrig, als diese unvermeidliche Seuche durch Einimpfung unschädlich zu machen.

Und welchen günstigeren Zeitpunkt konnte ich dazu wählen, mein Julius? In voller Jugendkraft standst du vor mir, Körper und Geist in der herrlichsten Blüte, durch keine Sorge gedrükt, durch keine Leidenschaft gefeßelt, frei und stark den großen Kampf zu bestehen, wovon die erhabene Ruhe der Ueberzeugung der Preiß ist. Wahrheit und Irrthum waren noch nicht in dein Intereße verwebt. Deine Genüsse und deine Tugenden waren unabhängig von beiden. Du bedurftest keine Schrekbilder, dich von niedrigen Ausschweifungen zurük zu reissen. Gefühl für edlere Freuden hatte sie dir verekelt. Du warst gut aus Instinkt, aus unentweihter sittlicher Grazie. Ich hatte nichts zu fürchten für deine Moralität, wenn ein Gebäude einstürzte auf welchem sie nicht gegründet war. Und noch schröken mich deine Besorgniße nicht. Was dir auch immer eine melancholische Laune eingeben mag, ich kenne dich besser Julius.

Undankbarer! du schmähst die Vernunft, du vergißest was sie dir schon für Freuden geschenkt hat. Hättest du auch für dein ganzes Leben den Gefahren der Zweifelsucht entgehen können, so war es Pflicht für mich, dir Genüsse nicht vorzuenthalten, deren du fähig und würdig warest. Die Stuffe, worauf du [113] standest, war deiner nicht werth. Der Weg, auf dem du emporklimmtest, bot dir Ersaz für alles, was ich dir raubte. Ich weiß noch mit welcher Entzükkung du den Augenblik seegnetest, da die Binde von deinen Augen fiel. Jene Wärme, mit der du die Wahrheit auffaßtest, hat deine alles verschlingende Phantasie vielleicht an Abgründe geführt, wovor du erschroken zurük schauderst.

Ich muß dem Gang deiner Forschungen nachspüren, um die Quellen deiner Klagen zu entdecken. Du hast sonst die Resultate deines Nachdenkens aufgeschrieben. Schike mir diese Papiere, und dann will ich dir antworten. – – –




Julius an Raphael.

Diesen Morgen durchstöre ich meine Papiere. Ich finde einen verlorenen Aufsaz wieder, entworfen in jenen glüklichen Stunden meiner stolzen Begeisterung. Raphael, wie ganz anders finde ich jezo das alles! Es ist das hölzerne Gerüste der Schaubühne wenn die Beleuchtung dahin ist. Mein Herz suchte sich eine Philosophie, und die Phantasie unterschob ihre Träume. Die wärmste war mir die Wahre.

[114] Ich forsche nach den Gesezen der Geister – schwinge mich bis zu dem Unendlichen, aber ich vergesse zu erweisen, daß sie wirklich vorhanden sind. Ein kühner Angriff des Materialismus stürzt meine Schöpfung ein.

Du wirst diß Fragment durchlesen, mein Raphael. Möchte es dir gelingen, den erstorbenen Funken meines Enthusiasmus wieder aufzuflammen, mich wieder auszusöhnen mit meinem Genius – aber mein Stolz ist so tief gesunken, daß auch Raphaels Beifall ihm kaum mehr emporraffen wird.


Theosophie des Julius.
Die Welt und das denkende Wesen.

Das Universum ist ein Gedanke Gottes. Nachdem dieses idealische Geistesbild in die Wirklichkeit hinübertrat, und die gebohrene Welt den Riß ihres Schöpfers erfüllte – erlaube mir diese menschliche Vorstellung – so ist der Beruf aller denkenden Wesen in diesem vorhandenen Ganzen die erste Zeichnung wieder zu finden, die Regel in der Maschine, die Einheit in der Zusammensezung, das Gesez in dem Phänomen aufzusuchen und das Gebäude rükwärts auf seinen Grundriß zu übertragen. Also giebt es für mich [115] nur eine einzige Erscheinung in der Natur, das denkende Wesen. Die große Zusammensezung, die wir Welt nennen, bleibt mir jezo nur merkwürdig, weil sie vorhanden ist, mir die mannigfaltigen Aeußerungen jenes Wesens symbolisch zu bezeichnen. Alles in mir und außer mir ist nur Hieroglyphe einer Kraft die mir ähnlich ist. Die Geseze der Natur sind die Chiffern, welche das denkende Wesen zusammen fügt, sich dem denkenden Wesen verständlich zu machen – das Alphabet, vermittelst dessen alle Geister mit dem vollkommensten Geist und mit sich selbst unterhandeln. Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit, Vortreflichkeit geben mir Freude, weil sie mich in den thätigen Zustand ihres Erfinders, ihres Besizers versezen, weil sie mir die Gegenwart eines vernünftig empfindenden Wesens verrathen, und meine Verwandschaft mit diesem Wesen mich ahnden lassen. Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravitation, der entdekte Umlauf des Blutes, das Natursystem des Linnäus heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike in Herkulanum hervorgegraben – beides nur Widerschein eines Geistes, neue Bekanntschaft mit einem mir ähnlichen Wesen. Ich bespreche mich mit dem Unendlichen durch das Instrument der Natur, durch die Weltgeschichte – ich lese die Seele des Künstlers in seinem Apollo.

[116] Willst du dich überzeugen, mein Raphael, so forsche rükwärts. Jeder Zustand der menschlichen Seele hat irgend eine Parabel in der physischen Schöpfung, wodurch er bezeichnet wird, und nicht allein Künstler und Dichter, auch selbst die abstraktesten Denker haben aus diesem reichen Magazine geschöpft. Lebhafte Thätigkeit nennen wir Feuer, die Zeit ist ein Strom der reissend von hinnen rollt, die Ewigkeit ist ein Zirkel, ein Geheimniß hüllt sich in Mitternacht, und die Wahrheit wohnt in der Sonne. Ja ich fange an zu glauben, daß sogar das künftige Schiksal des menschlichen Geistes im dunkeln Orakel der körperlichen Schöpfung vorher verkündigt ligt. Jeder kommende Frühling der die Sprößlinge der Pflanzen aus dem Schoose der Erde treibt, gibt mir Erläuterung über das bange Räzel des Todes, und widerlegt meine ängstliche Besorgniß eines ewigen Schlafs. Die Schwalbe die wir im Winter erstarret finden und im Lenze wieder aufleben sehen, die todte Raupe, die sich als Schmetterling neu verjüngt in die Luft erhebt, reichen uns ein treffendes Sinnbild unsrer Unsterblichkeit.

Wie merkwürdig wird mir nun alles! – Jezt Raphael, ist alles bevölkert um mich herum. Es gibt für mich keine Einöde in der ganzen Natur mehr. [117] Wo ich einen Körper entdeke, da ahnde ich einen Geist – Wo ich Bewegung merke, da rathe ich auf einen Gedanken.

„Wo kein Toder begraben liegt, wo kein Auferstehn sein wird,“

redet ja noch die Allmacht durch ihre Werke zu mir, und so verstehe ich die Lehre von einer Allgegenwart Gottes.


Idee.

Alle Geister werden angezogen von Vollkommenheit. Alle – es gibt hier Verirrungen, aber keine einzige Ausnahme – alle streben nach dem Zustand der höchsten freien Aeußerung ihrer Kräfte, alle besizen den gemeinschaftlichen Trieb, ihre Thätigkeit auszudehnen, alles an sich zu ziehen, in sich zu versammeln, sich eigen zu machen, was sie als gut, als vortreflich, als reizend erkennen. Anschauung des Schönen, des Wahren, des Vortreflichen ist augenblikliche Besiznehmung dieser Eigenschaften. Welchen Zustand wir wahrnehmen, in diesen treten wir selbst. In dem Augenblike, wo wir sie uns denken, sind wir Eigenthümer einer Tugend, Urheber einer Handlung, Erfinder einer [118] Wahrheit, Inhaber einer Glükseligkeit. Wir selber werden das empfundene Objekt. Verwirre mich hier durch kein zweideutiges Lächeln, mein Raphael – diese Voraussezung ist der Grund, worauf ich alles folgende gründe, und einig müssen wir sein, ehe ich Mut habe, meinen Bau zu vollenden.

Etwas ähnliches sagt einem jeden schon das innre Gefühl. Wenn wir z. B. eine Handlung der Großmut, der Tapferkeit, der Klugheit bewundern, regt sich da nicht ein geheimes Bewußtsein in unserm Herzen, daß wir fähig wären ein gleiches zu thun? Verräth nicht schon die hohe Röthe, die bei Anhörung einer solchen Geschichte unsre Wangen färbt, daß unsre Bescheidenheit vor der Bewunderung zittert? daß wir über dem Lobe verlegen sind, welches uns diese Veredlung unsers Wesens erwerben muß? Ja unser Körper selbst stimmt sich in diesem Augenblik in die Gebärden des handelnden Menschen, und zeigt offenbar, daß unsre Seele in diesen Zustand übergegangen. Wenn du zugegen warst, Raphael, wo eine große Begebenheit vor einer zahlreichen Versammlung erzählt wurde, sahest du es da dem Erzähler nicht an, wie er selbst auf den Weihrauch wartete, er selbst den Beifall aufzehrte, der seinem Helden geopfert wurde – und, wenn du der Erzähler warst, überraschtest du dein [119] Herz niemals auf dieser glüklichen Täuschung? Du hast Beispiele, Raphael, wie lebhaft ich sogar mit meinem Herzensfreund um die Vorlesung einer schönen Anekdote, eines vortreflichen Gedichtes mich zanken kann, und mein Herz hat mirs leise gestanden, daß es dir dann nur den Lorbeer misgönte, der von dem Schöpfer auf den Vorleser übergeht. Schnelles und inniges Kunstgefühl für die Tugend, gilt darum allgemein für ein großes Talent zu der Tugend, wie man im Gegentheil kein Bedenken trägt, das Herz eines Mannes zu bezweifeln, dessen Kopf die moralische Schönheit schwer und langsam faßt.

Wende mir nicht ein, daß bei lebendiger Erkenntniß einer Vollkommenheit nicht selten das entgegenstehende Gebrechen sich finde, daß selbst den Bösewicht oft eine hohe Begeisterung für das Vortrefliche anwandele, selbst den Schwachen zuweilen ein Enthusiasmus hoher herkulischer Größe durchflamme. Ich weiß z. B. daß unser bewunderter Haller, der das geschäzte Nichts der eitlen Ehre so männlich entlarvte, dessen philosophischer Größe ich so viel Bewunderung zollte, daß eben dieser das noch eitlere Nichts eines Rittersternes, der seine Größe beleidigte, nicht zu verachten im Stande war. Ich bin überzeugt, daß in dem glüklichen Momente des Ideales, der Künstler, der [120] Philosoph und der Dichter die großen und guten Menschen wirklich sind, deren Bild sie entwerfen – aber diese Veredlung des Geistes ist bei vielen nur ein unnatürlicher Zustand, durch eine lebhaftere Wallung des Bluts, einen rascheren Schwung der Phantasie gewaltsam hervorgebracht, der aber auch eben deswegen so flüchtig wie jede andre Bezauberung dahin schwindet, und das Herz der despotischen Willkühr niedriger Leidenschaften desto ermatteter überliefert. Desto ermatteter sage ich – denn eine allgemeine Erfahrung lehrt, daß der rükfällige Verbrecher immer der wütendere ist, daß die Renegaten der Tugend sich von dem lästigen Zwange der Reue in den Armen des Lasters nur desto süßer erhohlen.

Ich wollte erweisen, mein Raphael, daß es unser eigener Zustand ist, wenn wir einen fremden empfinden, daß die Vollkommenheit auf den Augenblik unser wird, worinn wir uns eine Vorstellung von ihr erweken, daß unser Wohlgefallen an Wahrheit, Schönheit und Tugend sich endlich in das Bewußtsein eigner Veredlung, eigner Bereicherung auflöset, und ich glaube, ich habe es erwiesen.

Wir haben Begriffe von der Weisheit des höchsten Wesens, von seiner Güte, von seiner Gerechtigkeit – aber keinen von seiner Allmacht. Seine Allmacht [121] zu bezeichnen, helfen wir uns mit der stükweisen Vorstellung dreier Succeßionen: Nichts, sein Wille und Etwas. Es ist wüste und finster – Gott ruft: Licht – und es wird Licht. Hätten wir eine Real-Idee seiner wirkenden Allmacht, so wären wir Schöpfer, wie Er.

Jede Vollkommenheit also, die ich wahrnehme, wird mein eigen, sie gibt mir Freude, weil sie mein eigen ist, ich begehre sie, weil ich mich selbst liebe. Vollkommenheit in der Natur ist keine Eigenschaft der Materie, sondern der Geister. Alle Geister sind glüklich durch ihre Vollkommenheit. Ich begehre das Glük aller Geister, weil ich mich selbst liebe. Die Glükseligkeit die ich mir vorstelle, wird meine Glükseligkeit, also ligt mir daran, diese Vorstellungen zu erweken, zu vervielfältigen, zu erhöhen – also ligt mir daran, Glükseligkeit um mich her zu verbreiten. Welche Schönheit, welche Vortreflichkeit, welchen Genuß ich außer mir hervorbringe, bringe ich mir hervor, welchen ich vernachläßige, zerstöre, zerstöre ich mir, vernachläßige ich mir – Ich begehre fremde Glükseligkeit, weil ich meine eigne begehre. Begierde nach fremder Glükseligkeit nennen wir Wohlwollen, Liebe.


[122]
Liebe.

Jezt, bester Raphael, laß mich herumschauen. Die Höhe ist erstiegen, der Nebel ist gefallen, wie in einer blühenden Landschaft stehe ich mitten im Unermeßlichen. Ein reineres Sonnenlicht hat alle meine Begriffe geläutert.

Liebe also – das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend – Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortreflichen, gegründet auf einen augenbliklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.

Wenn ich hasse, so nehme ich mir etwas, wenn ich liebe, so werde ich um das reicher, was ich liebe. Verzeihung ist das Wiederfinden eines veräußerten Eigenthums – Menschenhaß ein verlängerter Selbstmord; Egoismus die höchste Armut eines erschaffenen Wesens.

Als Raphael sich meiner lezten Umarmung entwand, da zerriß meine Seele, und ich weine um den Verlust meiner schöneren Hälfte. An jenem seligen Abend – du kennest ihn – da unsre Seelen [123] sich zum erstenmal feurig berührten, wurden alle deine großen Empfindungen mein, machte ich nur mein ewiges Eigenthumsrecht auf deine Vortreflichkeit gelten – stolzer darauf, dich zu lieben als von dir geliebt zu sein, denn das erste hatte mich zu Raphael gemacht.


„War’s nicht diß allmächtige Getriebe
das zum ew’gen Jubelbund der Liebe
     unsre Herzen an einander zwang?
Raphael, an deinem Arm – o Wonne!

5
Wag auch ich zur großen Geistersonne

     freudig den Vollendungsgang.

Glüklich! Glüklich! Dich hab’ ich gefunden,
hab aus Millionen dich umwunden
     und aus Millionen mein bist du.

10
Laß das wilde Chaos wiederkehren,

durch einander die Atomen stören,
     ewig fliehn sich unsre Herzen zu.

Muß ich nicht aus deinen Flammenaugen
meiner Wollust Widerstralen saugen?

15
     Nur in dir bestaun ich mich.

Schöner mahlt sich mir die schöne Erde,
heller spiegelt in des Freunds Gebärde
     reizender der Himmel sich.

[124]

Schwermut wirft die bange Tränenlasten

20
süßer von des Leidens Sturm zu rasten

     in der Liebe Busen ab.
Sucht nicht selbst das folternde Entzüken
Raphael in deinen Seelenbliken
     ungeduldig ein wollüst’ges Grab?

25
Stünd’ im All der Schöpfung ich alleine,

Seelen träumt’ ich in die Felsensteine
     und umarmend küßt’ ich sie.
Meine Klagen stöhnt’ ich in die Lüfte,
freute mich, antworteten die Klüfte,

30
     Thor genug, der süßen Sympathie.“ –


Liebe findet nicht statt unter gleichtönenden Seelen, aber unter harmonischen. Mit Wohlgefallen erkenne ich meine Empfindungen wieder in dem Spiegel der deinigen, aber mit feuriger Sehnsucht verschlinge ich die höheren, die mir mangeln. Eine Regel leitet Freundschaft und Liebe. Die sanfte Desdemona liebt ihren Othello wegen der Gefahren die er bestanden; der männliche Othello liebt sie um der Träne willen, die sie ihm weinte.

     Es gibt Augenblike im Leben, wo wir aufgelegt sind, jede Blume und jedes entlegene Gestirne, jeden Wurm und jeden geahndeten höheren Geist an den [125] Busen zu drükken – ein Umarmen der ganzen Natur gleich unsrer Geliebten. Du verstehst mich, mein Raphael, Der Mensch, der es so weit gebracht hat, alle Schönheit, Größe, Vortreflichkeit im Kleinen und Großen der Natur aufzulesen, und zu dieser Mannichfaltigkeit die große Einheit zu finden, ist der Gottheit schon sehr viel näher gerükt. Die ganze Schöpfung zerfließt in seine Persönlichkeit. Wenn jeder Mensch alle Menschen liebte, so besäße jeder Einzelne die Welt.

Die Philosophie unsrer Zeiten – ich fürchte es – widerspricht dieser Lehre. Viele unsrer denkenden Köpfe haben es sich angelegen sein lassen, diesen himmlischen Trieb aus der menschlichen Seele hinweg zu spotten, das Gepräge der Gottheit zu verwischen, und diese Energie, diesen edeln Enthusiasmus im kalten tödenden Hauch einer kleinmütigen Indifferenz aufzulösen. Im Knechtsgefühle ihrer eignen Entwürdigung haben sie sich mit dem gefährlichen Feinde des Wohlwollens, dem Eigennuz abgefunden, ein Phänomen zu erklären, das ihrem begränzten Herzen zu göttlich war. Aus einem dürftigen Egoismus haben sie ihre trostlose Lehre gesponnen, und ihre eigene Beschränkung zum Maasstab des Schöpfers gemacht – Entartete Sklaven, die unter dem Klang ihrer Ketten die Freiheit verschreien. Swift, der den Tadel der [126] Thorheit bis zur Infamie der Menschheit getrieben, und an den Schandpfahl, den er dem ganzen Geschlechte baute, zuerst seinen eigenen Namen schrieb, Swift selbst konnte der menschlichen Natur keine so tödliche Wunde schlagen als diese gefährlichen Denker, die mit allem Aufwande des Scharfsinns und des Genies den Eigennuz ausschmüken, und zu einem Systeme veredeln.

Warum soll es die ganze Gattung entgelten, wenn einige Glieder an ihrem Werthe verzagen?

Ich bekenne es freimüthig, ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennüzigen Liebe. Ich bin verloren, wenn sie nicht ist, ich gebe die Gottheit auf, die Unsterblichkeit und die Tugend. Ich habe keinen Beweis für diese Hofnungen mehr übrig, wenn ich aufhöre an die Liebe zu glauben. Ein Geist, der sich allein liebt, ist ein schwimmender Atom im unermeßlichen leeren Raume.


Aufopferung.

Aber die Liebe hat Wirkungen hervorgebracht, die ihrer Natur zu widersprechen scheinen.

[127] Es ist denkbar, daß ich meine eigne Glükseligkeit durch ein Opfer vermehre, das ich fremder Glükseligkeit bringe – aber auch noch dann, wenn dieses Opfer mein Leben ist? Und die Geschichte hat Beispiele solcher Opfer – und ich fühle es lebhaft, daß es mich nichts kosten sollte, für Raphaels Rettung zu sterben. Wie ist es möglich, daß wir den Tod für ein Mittel halten, die Summe unsrer Genüsse zu vermehren? Wie kann das Aufhören meines Daseins sich mit Bereicherung meines Wesens vertragen?

Die Voraussezung von einer Unsterblichkeit hebt diesen Widerspruch – aber sie entstellt auch auf immer die hohe Grazie dieser Erscheinung. Rüksicht auf eine belohnende Zukunft schließt die Liebe aus. Es muß eine Tugend geben, die auch ohne den Glauben an Unsterblichkeit auslangt, die auch auf Gefahr der Vernichtung das nämliche Opfer wirkt.

Zwar ist es schon Veredlung einer menschlichen Seele den gegenwärtigen Vortheil dem ewigen aufzuopfern – es ist die edelste Stuffe des Egoismus – aber Egoismus und Liebe scheiden die Menschheit in zwei höchstunähnliche Geschlechter, deren Gränzen nie in einander fließen. Egoismus errichtet seinen Mittelpunkt in sich selber; Liebe pflanzt ihn außerhalb ihrer [128] in die Achse des ewigen Ganzen. Liebe zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaats, Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung. Egoismus sä’t für die Dankbarkeit, Liebe für den Undank. Liebe verschenkt, Egoismus leyht – Einerlei vor dem Tron der richtenden Wahrheit, ob auf den Genuß des nächstfolgenden Augenbliks, oder die Aussicht einer Märtyrerkrone – einerlei, ob die Zinsen in diesem Leben oder im andern fallen!

Denke dir eine Wahrheit, mein Raphael, die dem ganzen Menschengeschlecht auf entfernte Jahrhunderte wohl thut – seze hinzu, diese Wahrheit verdammt ihren Bekenner zum Tode, diese Wahrheit kann nur erwiesen werden, nur geglaubt werden, wenn er stirbt. Denke dir dann den Mann mit dem hellen umfassenden Sonnenblike des Genies, mit dem Flammenrad der Begeisterung, mit der ganzen erhabenen Anlage zu der Liebe. Laß in seiner Seele das vollständige Ideal jener großen Wirkung empor steigen – laß in dunkler Ahndung vorübergehen an ihm alle Glükliche, die er schaffen soll – laß die Gegenwart und die Zukunft zugleich in seinem Geist sich zusammendrängen – und nun beantworte dir, bedarf dieser Mensch der Anweisung auf ein anderes Leben?

[129] Die Summe aller dieser Empfindungen wird sich verwirren mit seiner Persönlichkeit, wird mit seinem Ich in eins zusammen fließen. Das Menschengeschlecht, das er jezt sich denket, ist Er selbst. Es ist ein Körper, in welchem sein Leben, vergessen und entbehrlich, wie ein Blutstropfe schwimmt – wie schnell wird er ihn für seine Gesundheit verspräzen!


Gott.

Alle Vollkommenheiten im Universum sind vereinigt in Gott. Gott und Natur sind zwo Größen die sich vollkommen gleich sind.

Die ganze Summe von harmonischer Thätigkeit, die in der göttlichen Substanz beisammen existirt, ist in der Natur, dem Abbilde dieser Substanz, zu unzähligen Graden und Maaßen und Stuffen vereinzelt. Die Natur (erlaube mir diesen bildlichen Ausdruk), die Natur ist ein unendlich getheilter Gott.

Wie sich im prismatischen Glase ein weißer Lichtstreif in sieben dunklere Stralen spaltet, hat sich das göttliche Ich in zahllose empfindende Substanzen gebrochen. Wie sieben dunklere Stralen in einen hellen Lichtstreif wieder zusammen schmelzen, würde aus [130] der Vereinigung aller dieser Substanzen ein göttliches Wesen hervorgehen. Die vorhandene Form des Naturgebäudes ist das optische Glas, und alle Thätigkeiten der Geister nur ein unendliches Farbenspiel jenes einfachen göttlichen Strales. Gefiel es der Allmacht dereinst, dieses Prisma zu zerschlagen, so stürzte der Damm zwischen ihr und der Welt ein, alle Geister würden in einem unendlichen untergehen, alle Akkorde in einer Harmonie in einander fließen, alle Bäche in einem Ozean aufhören.

Die Anziehung der Elemente brachte die körperliche Form der Natur zu Stande. Die Anziehung der Geister in’s Unendliche vervielfältigt und fortgesezt, müßte endlich zu Aufhebung jener Trennung führen, oder (darf ich es aussprechen, Raphael?) Gott hervorbringen. Eine solche Anziehung ist die Liebe.

Also Liebe, mein Raphael, ist die Leiter, worauf wir emporklimmen zu Gottähnlichkeit. Ohne Anspruch, uns selbst unbewußt, zielen wir dahin.


„Tode Gruppen sind wir wenn wir hassen,
Götter, wenn wir liebend uns umfassen,
     lechzen nach dem süßen Fesselzwang.
Aufwärts durch die tausendfache Stuffen

5
zahlenloser Geister, die nicht schufen,

     waltet göttlich dieser Drang.

[131]

Arm in Arme, höher stets und höher
vom Barbaren bis zum griech’schen Seher,
      der sich an den lezten Seraph reiht,

10
Wallen wir einmüthgen Ringeltanzes,

bis sich dort im Meer des ewgen Glanzes
     Sterbend untertauchen Maaß und Zeit.

Freundlos war der große Weltenmeister,
fühlte Mangel, darum schuf er Geister,

15
     sel’ge Spiegel seiner Seligkeit.

Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches
     schäumt ihm die Unendlichkeit.“


Liebe, mein Raphael, ist das wuchernde Arkan, den entadelten König des Goldes aus dem unscheinbaren Kalke wieder herzustellen, das Ewige aus dem vergänglichen und aus dem zerstörenden Brande der Zeit das große Orakel der Dauer zu retten.

     Was ist die Summe von allem bisherigen?

Laßt uns Vortreflichkeit einsehen, so wird sie unser. Laßt uns vertraut werden mit der hohen idealischen Einheit, so werden wir uns mit Bruderliebe anschließen an einander. Laßt uns Schönheit und Freude [132] pflanzen, so ärndten wir Schönheit und Freude. Laßt uns helle denken, so werden wir feurig lieben. Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist, sagt der Stifter unsers Glaubens. Die schwache Menschheit erblaßte bei diesem Gebote, darum erklärte er sich deutlicher: liebet euch unter einander.

„Weisheit mit dem Sonnenblik,
Große Göttin tritt zurük
     weiche vor der Liebe.
 
Wer die steile Sternenbahn

5
ging dir heldenkühn voran

     zu der Gottheit Size?
Wer zerriß das Heiligthum,
zeigte dir Elisium
     durch des Grabes Rize?

10
Lokte sie uns nicht hinein,

möchten wir unsterblich sein?
     Suchten auch die Geister
     ohne sie den Meister?
Liebe, Liebe leitet nur

15
zu dem Vater der Natur

     Liebe nur die Geister.“


[133] Hier, mein Raphael, hast du das Glaubensbekenntniß meiner Vernunft, einen flüchtigen Umriß meiner unternommenen Schöpfung. So wie du hier findest, gieng der Saamen auf, den du selber in meine Seele streutest. Spotte nun oder freue dich, oder erröthe über deinen Schüler. Wie du willst – aber diese Philosophie hat mein Herz geadelt, und die Perspektive meines Lebens verschönert. Möglich, mein Bester, daß das ganze Gerüste meiner Schlüße ein bestandloses Traumbild gewesen – Die Welt, wie ich sie hier mahlte, ist vielleicht nirgends, als im Gehirne deines Julius wirklich – vielleicht, daß nach Ablauf der tausend tausend Jahre jenes Richters, wo der versprochne weisere Mann auf dem Stuhle sizt, ich bei Erblikung des wahren Originales meine schülerhafte Zeichnung schaamroth in Stüken reiße – Alles diß mag eintreffen, ich erwarte es; dann aber, wenn die Wirklichkeit meinem Traume auch nicht einmal ähnelt, wird mich die Wirklichkeit um so entzükender, um so majestätischer überraschen. Sollten meine Ideen wohl schöner sein, als die Ideen des ewigen Schöpfers? Wie? Sollte der es wohl dulden, daß sein erhabenes Kunstwerk hinter den Erwartungen eines sterblichen Kenners zurük bliebe? – Das eben ist die Feuerprobe seiner großen Vollendung, und der süßeste Triumph für den höchsten [134] Geist, daß auch Fehlschlüße und Täuschung seiner Anerkennung nicht schaden, daß alle Schlangenkrümmungen der ausschweifenden Vernunft in die gerade Richtung der ewigen Wahrheit zulezt einschlagen, zulezt alle abtrünnige Arme ihres Stromes nach der nämlichen Mündung laufen. Raphael – welche Idee erwekt mir der Künstler, der in tausend Kopien anders entstellt, in allen tausenden dennoch sich ähnlich bleibt, dem selbst die verwüstende Hand eines Stümpers die Anbetung nicht entziehen kann!

Uebrigens könnte meine Darstellung durchaus verfehlt, durchaus unächt sein – noch mehr, ich bin überzeugt, daß sie es nothwendig sein muß, und dennoch ist es möglich, daß alle Resultate daraus eintreffen. Unser ganzes Wissen läuft endlich, wie alle Weltweisen übereinkommen, auf eine conventionelle Täuschung hinaus, mit welcher jedoch die strengste Wahrheit bestehen kann. Unsre reinsten Begriffe sind keineswegs Bilder der Dinge, sondern bloß ihre nothwendig bestimmte und coexistirende Zeichen. Weder Gott noch die menschliche Seele noch die Welt, sind das wirklich, was wir davon halten. Unsre Gedanken von diesen Dingen sind nur die endemischen Formen, worinn sie uns der Planet überliefert, den wir bewohnen – [135] unser Gehirne gehört diesem Planeten, folglich auch die Idiome unsrer Begriffe, die darinne aufbewahrt liegen. Aber die Kraft der Seele ist eigenthümlich, nothwendig, und immer sich selbst gleich; das willkührliche der Materialien, woran sie sich äußert, ändert nichts an den ewigen Gesezen, wornach sie sich äußert, so lang dieses willkührliche mit sich selbst nicht im Widerspruch steht, so lang das Zeichen dem Bezeichneten durchaus getreu bleibt. So, wie die Denkkraft die Verhältnisse der Idiome entwikelt, müssen diese Verhältnisse in den Sachen auch wirklich vorhanden sein. Wahrheit also ist keine Eigenschaft der Idiome, sondern der Schlüße; nicht die Aehnlichkeit des Zeichens mit dem Bezeichneten, des Begriffs mit dem Gegenstand sondern die Uebereinstimmung dieses Begriffs mit den Gesezen der Denkkraft. Eben so bedient sich die Größenlehre der Chiffern, die nirgends als auf dem Papiere vorhanden sind, und findet damit, was vorhanden ist in der wirklichen Welt. Was für eine Aehnlichkeit haben z. B. die Buchstaben A und B, die Zeichen: und =, + und – mit dem Faktum das gewonnen werden soll? – Und doch steigt der vor Jahrhunderten verkündigte Komet am entlegenen Himmel auf, doch tritt der erwartete Planet vor die Scheibe der Sonne. Auf die Unfehlbarkeit seines Kalkuls geht der Weltentdeker [136] Kolumbus die bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meere ein, die fehlende zwote Hälfte zu der bekannten Hemisphäre, die große Insel Atlantis zu suchen, welche die Lüke auf seiner geographischen Charte ausfüllen sollte. Er fand sie, diese Insel seines Papiers, und seine Rechnung war richtig. Wäre sie es etwa minder gewesen, wenn ein feindseliger Sturm seine Schiffe zerschmettert oder rükwärts nach ihrer Heimat getrieben hätte? – Einen ähnlichen Kalkul macht die menschliche Vernunft, wenn sie das Unsinnliche mit Hilfe des Sinnlichen ausmißt, und die Mathematik ihrer Schlüße auf die verborgene Phisik des Uebermenschlichen anwendet. Aber noch fehlt die lezte Probe zu ihren Rechnungen, denn kein Reisender kam aus jenem Land zurük, seine Entdekung zu erzählen.

Ihre eigne Schranken hat die menschliche Natur, seine eigne jedes Individuum. Ueber jene wollen wir uns wechselsweise trösten; diese wird Raphael dem Knabenalter seines Julius vergeben. Ich bin arm an Begriffen, ein Fremdling in manchen Kenntnissen, die man bei Untersuchungen dieser Art als unentbehrlich voraussezt. Ich habe keine philosophische Schule gehört, und wenig gedrukte Schriften gelesen. Es mag [137] sein, daß ich dort und da meine Phantasieen strengern Vernunftschlüßen unterschiebe, daß ich Wallungen meines Blutes, Ahndungen und Bedürfnisse meines Herzens für nüchterne Weisheit verkaufe, auch das, mein Guter, soll mich dennoch den verlorenen Augenblik nicht bereuen lassen. Es ist wirklicher Gewinn für die allgemeine Vollkommenheit, es war die Vorhersehung des weisesten Geistes, daß die verirrende Vernunft auch selbst das chaotische Land der Träume bevölkern, und den kahlen Boden des Widerspruchs urbar machen sollte. Nicht der mechanische Künstler nur, der den rohen Demant zum Brillanten schleift – auch der andre ist schäzbar, der gemeinere Steine bis zur scheinbaren Würde des Demants veredelt. Der Fleiß in den Formen kann zuweilen die massive Wahrheit des Stoffes vergessen lassen. Ist nicht jede Uebung der Denkkraft, jede feine Schärfe des Geistes eine kleine Stuffe zu seiner Vollkommenheit, und jede Vollkommenheit mußte Dasein erlangen in der vollständigen Welt. Die Wirklichkeit schränkt sich nicht auf das absolut nothwendige ein: sie umfaßt auch das bedingungsweise nothwendige; jede Geburt des Gehirnes, jedes Gewebe des Wizes hat ein unwidersprechliches Bürgerrecht in diesem größeren Sinne der Schöpfung. Im unendlichen Riße der Natur durfte keine Thätigkeit ausbleiben, zur [138] allgemeinen Glükseligkeit kein Grad des Genußes fehlen. Derjenige große Haushalter seiner Welt, der ungenüzt keinen Splitter fallen, keine Lüke unbevölkert läßt wo noch irgend ein Lebensgenuß Raum hat, der mit dem Gifte, das den Menschen anfeindet, Nattern und Spinnen sättigt, der in das tode Gebiet der Verwesung noch Pflanzungen sendet, die kleine Blüthe von Wollust, die im Wahnwize sproßen kann, noch wirthschaftlich ausspendet, der Laster und Thorheit zur Vortreflichkeit noch endlich verarbeitet, und die große Idee des Weltbeherrschenden Roms aus der Lüsternheit des Tarquinimus Sextus zu spinnen wußte – Dieser erfinderische Geist sollte nicht auch den Irrthum zu seinen großen Zweken verbrauchen, und diese weitläuftige Weltstreke in der Seele des Menschen verwildert und freudeleer liegen lassen? Jede Fertigkeit der Vernunft, auch im Irrthum, vermehrt ihre Fertigkeit zur Empfängniß der Wahrheit.

Laß theurer Freund meiner Seele, laß mich immerhin zu dem weitläuftigen Spinngewebe der menschlichen Weisheit auch das meinige tragen. Anders mahlt sich das Sonnenbild in den Thautropfen des Morgens, anders im majestätischen Spiegel des erdumgürtenden Ozeans! Schande aber dem trüben wolkigten Sumpfe, [139] der es niemals empfängt und niemals zurükgiebt. Millionen Gewächse trinken von den vier Elementen der Natur. Eine Vorrathskammer steht offen für alle; aber sie mischen ihren Saft millionenfach anders, geben ihn millionenfach anders wieder; die schöne Mannichfaltigkeit verkündigt einen reichen Herrn dieses Hauses. Vier Elemente sind es, woraus alle Geister schöpfen: Ihr ich, die Natur, Gott und die Zukunft. Alle mischen sie millionenfach anders, geben sie millionenfach anders wieder, aber eine Wahrheit ist es, die gleich einer festen Achse gemeinschaftlich durch alle Religionen und alle Sisteme geht – „Nähert euch dem Gott, den ihr meinet.“