Textdaten
<<< >>>
Autor: Paul Bekker
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Pariser Orchester
Untertitel:
aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 76 (26.02.1934), S. 4
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Paris
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite



Pariser Orchester


Die Pariser, oder, was dasselbe ist, französische Orchesterkunst ist älter als die deutsche. Als die Pflege der Instrumentalensembles in Deutschland noch hauptsächlich Liebhabern überlassen blieb, stand sie in Frankreich bereits in amtlicher Obhut und wurde berufsmässig geübt. Die frühe Fürsorge der französischen Könige für Künste und Wissenschaften kam auch der Orchestermusik zugute. Die Opéra und das 1784 gegründete Conservatoire gaben die bis zur Gegenwart wirksamen Grundlagen der Musikpflege. Dem Conservatoire entstammen alle grossen Musiker Frankreichs, Komponisten wie Instrumentalisten. Seit es 1793 die heutige Organisation erhielt, ist es durch seine Verbindung von pädagogischer Ausbildung und öffentlichen Aufführungen das eigentlich bestimmende Konzertinstitut Frankreichs geworden. An den deutschen Höfen ahmte man wohl die französische Oper nach, Einrichtungen von der Art des Conservatoire aber kannte man nicht. Erst Felix Mendelssohn schuf in Leipzig eine deutsche Musikhochschule, für die er das Pariser Conservatoire zum Muster nahm. Damit erhielten auch die noch aus dem 18. Jahrhundert stammenden, bis dahin vorwiegend liebhabermässig betriebenen Gewandhauskonzerte ihren entscheidenden Auftrieb, und von hier aus begann der Aufstieg der deutschen Orchester- und Dirigierkunst.

Das Vorbild hierfür bot François Antoine Habeneck, Sohn eines deutschen Musikers aus der Pfalz, seit 1828 Dirigent der Conservatoire-Konzerte. Eine merkwürdige Erscheinung, keineswegs das, was man heut als genialen Dirigenten bezeichnet, wohl aber ein Orchestererzieher von höchstem Rang. Wenn man liest, welche Exaktheit er von den Musikern, den Geigern in Bezug auf Gleichmässigkeit des Striches, den Bläsern hinsichtlich des Atems und der Phrasierung verlangte, so denkt man an die Despotie Gustav Mahlers, der gleichfalls sein Orchester zum willenlosen Werkzeug disziplinierte. Nicht nur Mendelssohn hat von Habeneck gelernt, wie man ein Orchester formt, es sich unterwirft, es zum Instrument eines einzigen Willens macht. Auch der junge Richard Wagner berichtet mit Bewunderung von diesem Orchestertyrannen. Er bekennt, erst durch Habeneck erfahren zu haben, wie man probieren müsse, und was eigentlich die Aufführung einer Beethoven-Symphonie bedeute.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben sich die Verhältnisse etwas verschoben. Durch die Symphonie Beethovens hatte sich das deutsche Berufsorchester gebildet, die anschliessende Produktion: Mendelssohn, Schumann, Brahms, Bruckner, Strauss gab ihm dauernd neue Aufgabenstellung. Es kamen die grossen Dirigenten der Wagner-Liszt Schule: an der Spitze Hans von Bülow, dann Richter, Levi, Mahler, Nikisch, Mottl, Strauss und viele andere. Ihre individuell betonte Interpretation wie die Qualität der Orchesterdarbietung machten die Symphoniekonzerte in allen deutschen Städten zu Höhepunkten des künstlerischen und gesellschaftlichen Lebens. Gerade weil die Theater noch immer einen höfischen Beiklang behielten, waren die grossen Konzerte der reine Ausdruck der öffentlichen Kunstgesinnung in der Musik, die Gala-Abende des deutschen Bürgertums.

Man sieht, die Orchestergründungen im 19. Jahrhundert ergaben sich nicht aus Zufall oder spekulativer Willkür. Sie wuchsen organisch an um eine neue Produktion, zu der für Deutschland wie für Frankreich Beethoven den Grund legte. Sie gehen weiterhin parallel dieser Produktion und ihr Schicksal wird durch sie bestimmt.

In Frankreich gestaltete sich das Bild weiterhin anders als in Deutschland. Habenecks Leistung ging aus von Beethovens Symphonie, dann kam Berlioz, dessen Werke dem Orchester wieder neue Probleme boten. Es kam noch eine Reihe wichtiger französischer Orchesterkomponisten, von César Franck, Vincent d’Indy, Saint-Saëns, bis zu Dukas und Ravel. Aber sie gingen im wesentlichen nicht über die Instrumentationstechnik Berlioz’ hinaus. Das französische Orchester blieb im Prinzip das Habeneck-Orchester. Es vervollkomnete sich im einzelnen, ohne dass es seine Physiognomie veränderte. Dabei ging es dauernd in die Breitenwirkung. Es wurde, wie das eigentlich dem Wesen des Orchesters entspricht, eine volkstümlich demokratische Art der Kunstdarbietung ohne betontes Literatentum, ohne Gesellschaftszauber.

Daher fehlen in Frankreich jene berühmten „faszinierenden“ Dirigenten, die in Deutschland Bedingung sind. Dafür erstehen in Paris drei richtige musikalische Volksmänner: Pasdeloup, Lamoureux, Colonne. Diese Musiktribunen setzen Habenecks sachlich saubere, objektiv gerichtete Erziehung fort. Jeder musiziert mit seinem Orchester. Pasdeloup, 1819 geboren, ist der älteste. Er leitet die Wagner-Propaganda ein. Sein Niveau muss ähnlich gewesen sein wie das Bilses, des Gründers des heutigen Berliner Philharmonischen Orchesters, des veredelten Militärkapellmeisters. Lamoureux, 1834 geboren, war kurz vor seinem 1899 erfolgten Tode mit seinem Orchester in Berlin. Die an Dirigenten-Stars gewöhnten Berliner begriffen damals nicht, was dieser behäbige Herr, der ganz schlicht Takt schlug, eigentlich wolle, denn er gab sich nicht die mindeste Mühe, das Publikum für seine Person zu interessieren. Die eindrucksvollste Erscheinung dieser Reihe war Edouard Colonne. Ein agressives Temperament, ein imposanter Musikgeneral, errang er seine Haupterfolge als leidenschaftlicher Vorkämpfer für Berlioz.

Diese Dirigenten waren gewiss keine Suggestions-Virtuosen. Aber sie waren musikalische Kulturträger grossen Formates. Ihr Publikum liebte sie, weil es die geistige Aktivität spürte, und ihnen dafür dankbar war.

Die Konzerte existieren noch heute unter den Namen ihrer Gründer mit wechselnden Dirigenten. Ihre Programme sind, mit notwendigen Ergänzungen nach der Gegenwart hin, die nämlichen geblieben: man spielt in der Hauptsache Beethoven, Berlioz, Wagner, alles andere gliedert sich dem ein. Es gibt heut sogar noch einige andere Orchester, obschon es schwer ist, sie zusammenzuhalten, denn der französische Staat gewährt nur äusserst bescheidene Beihilfen. Das Pariser Symphonie-Orchester unter Pierre Monteux unternimmt neuerdings Reisen in die Provinz, gleichsam als Wander-Orchester.

Im Ganzen hat die betont sachliche Arbeit der französischen Orchester etwas musikalisch sehr Sympathisches, wenn auch die Lockerheit der Organisation den deutschen Gewohnheiten fremd ist. Aber man findet immer wieder treffliche Einzelleistungen. Der Streichkörper zeigt einen Elan, der über manche Gefahr hinweghilft, die französischen Holzbläser, namentlich die Rohrbläser: Oboe, Englischhorn, Fagott sind noch immer die besten der Welt, nur die Blechgruppen mit ihren eng gebauten Instrumenten wollen dem deutschen Hörer nicht behagen. Aber man wird trotz allen Andersseins niemals enttäuscht werden. Diese Orchester sind stets künstlerisch sauber, intelligent, elastisch. Das deutsche Orchester und der deutsche Dirigent produziert sich, das französische Orchester musiziert. Darin bewährt sich die alte Tradition seiner Erzieher-Dirigenten.