Otto von Bismarcks Lebensgang
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Es ist ein eigen Ding, das Privatleben eines Mannes zu schildern, dessen Geist ein Menschenalter lang die Geschicke eines Erdteils beherrschte, dessen Entschlüsse das Wohl und Wehe von Millionen bestimmten, dessen Gedanken mit Völkern und Staaten zu rechnen gewohnt waren. Alles Persönliche, was es von ihm zu sagen giebt, alle die tausendfältigen Erlebnisse in Haus und Familie, die im Leben gewöhnlicher Sterblicher die Hauptsache auszumachen pflegen, sie sinken unter dem Eindruck der geschichtlichen Größe eines solchen Mannes zu der Rolle einer fast bedeutungslosen Nebensache herab. Darin ist der große Dichter vom großen Staatsmann verschieden.
Dem Dichter, der aus sich selbst schafft, ihm werden seines eigenen Lebens Wechselfälle, sein Lieben und Hassen, sein Genießen und Entbehren, sein Hoffen und Fürchten zur Quelle, daraus er Gedanken und Gestalten schöpft. Wer diese verstehen will, thut wohl, jene zu kennen. Nicht so der Staatsmann! Er führt zwei getrennte Leben – eins des Berufs, eins des eigenen Ichs. Und wenn auch die Brandung, die den Lenker des Staatsschiffs umtost, oft ihre Wogen bis in sein Heim und sein Herz wirft – nie soll die Hand am Steuer aus dem Reiche der persönlichen Gefühle und Empfindungen ihre Befehle empfangen. Des Staatsmanns Arbeitsfeld sind nicht die Regungen der eigenen Brust – fremde, außer ihm stehende Strebungen, Forderungen, Gegensätze, das Spiel der Kräfte zwischen des eigenen Volkes Gliedern, wie zwischen den Völkern unter sich, das ist das Feld, auf dem er sich bewähren muß.
Und trotzdem haftet seines Wirkens Ursprung in seiner Persönlichkeit. Dieser auch beim großen Staatsmann in ihren reinmenschlichen Beziehungen nachzuforschen, die Entwicklung seines Charakters zu verfolgen, seine Heimat, seine Lieben, sein Gehaben im vertrauten Kreis der Seinen kennenzulernen, ist daher ein wohlbegründetes Verlangen. Da zeigt sich denn, daß ein Abglanz von der Größe, die sein öffentliches Wirken auszeichnet, auch auf die kleinen Dinge fällt, die den Inhalt seines Privatlebens bilden. Der wahrhaft große Staatsmann kann auch in seinen eigenen vier Wänden kein kleiner Durchschnittsmensch sein. Es ist nicht anders möglich, als daß die Kraft, welche den Mann zu politischen Erfolgen emporgetragen hat, sein ganzes Sein durchdringt und ihm ihren Stempel aufdrückt.
Altmärker sind die Bismarcks, soweit man ihr Geschlecht zurückverfolgen kann, und ein merkwürdiges Spiel des Zufalls will es, daß die ältesten von den bekannten Ahnherren des Mannes, der mit Meisterhand des Deutschen Reiches Staatsgewand zugeschnitten hat, in gewissem Sinne zur Zunft der Gewandanfertiger gehörten. „Biscopesmark“ oder „Bischofsmark“ hieß eine alte Burg der Bischöfe von Havelberg, und von ihr hat das Geschlecht der Bismarck seinen Namen. Es behielt ihn auch, als es die Burg verlassen und in dem nahen Stendal sich angesiedelt hatte. Dort in Stendal gehörten die Bismarcks der sehr angesehenen Gilde der „Gewandschneider“ an. Wenn die Legende von der Jugend des Marschalls Derfflinger recht hätte, wonach er von der Schere sich zum Säbel geflüchtet hätte, dann würde noch ein zweiter Faden von Bismarck zur ehrsamen Schneiderzunft hinüberführen. Denn Bismarcks Großvater, Karl Alexander, war mütterlicherseits ein Urenkel von Derfflinger. Längst aber haben die Geschichtsforscher das Nähfadengewebe um die Jugend des Siegers von Fehrbellin zerstört, und auch mit jener Zugehörigkeit der Bismarcks zur Stendaler Gewandschneidergilde ist nicht gesagt, daß sie mit Nadel und Ellenmaß sich durchs Leben geschlagen hätten. Mit dem Anschluß an eine Gilde erfüllte der Bürger einer mittelalterlichen Stadt lediglich eine Form, weil eben jede Teilnahme am öffentlichen Leben nur in diesem Rahmen sich abspielen konnte. Und die alten Stendaler Bismarcks haben kräftig eingegriffen in die Geschicke ihrer Stadt. Unter den vielen Ehrenbürgerbriefen, die dem Fürsten Bismarck zu teil geworden sind, darf sich derjenige von Stendal einer besonderen geschichtlichen Begründung rühmen.
Erhebliche Verdienste um die Wittelsbacher Markgrafen in Brandenburg hatten den Bismarcks 1345 die erbliche Belehnung mit Schloß Burgstall an der damaligen Südgrenze der Altmark eingetragen. Aber zwei Jahrhunderte später, 1562, ließen sie sich, nicht eben gerne, zu einem Tausche bewegen. Die herrlichen Jagdgründe von Burgstall stachen dem Kurprinzen Hans Georg von Brandenburg in die Augen, er lag den Bismarcks stark an, sie ihm gegen irgend ein anderes Besitztum abzutreten, und nach langen widerwärtigen Verhandlungen kam es so weit, daß der ältere Stamm der Bismarcks für seinen Anteil an Burgstall die Propstei des Klosters Crevese nahm, während der jüngere sich mit Amt und Dorf Schönhausen nebst Fischbeck abfinden ließ. Aus dieser jüngeren Linie stammt unser Otto von Bismarck und in dem Schloß von Schönhausen, das unsere Abbildung S. 562 darstellt, hat er am 1. April 1815 das Licht der Welt erblickt.
Es ist ein schlichter, schwerer, viereckiger Bau, dieses Herrenhaus. Auf den Resten des früheren, die der Dreißigjährige Krieg übrig gelassen, hatte es Bismarcks Urgroßvater, August Friedrich, erbaut, die Vollendung im Jahre 1700 wird durch die Jahreszahl über dem Haupteingange bezeugt. Bis in die neueste Zeit, d. h. bis es von dem Grafen Herbert Bismarck mit seiner jungen Gemahlin bezogen wurde, war seine innere Einrichtung wenig verändert worden; im wesentlichen fand sich alles so erhalten, wie es zu Bismarcks Jugendzeit aussah. Stieg man von der Flurhalle die Treppe hinan, so trat man zunächst in den verhältnismäßig niedrig erscheinenden schlichten Eßsaal; aus ihm führte eine Thür zur Rechten in das trauliche Wohnzimmer, welches die untenstehende Abbildung S. 560 darstellt. Bilder und Lithographien aus der Zeit Friedrich Wilhelms III schmückten die Wände, über dem Kamin prangte, in Stuck eingelegt, eine antike Frauenschönheit; das Hauptstück in diesem Raume aber war ein großes Bildnis von Bismarcks Mutter, Luise Wilhelmine von Bismarck, geborenen Menken. „Geistvoll, fast herrschend,“ so schildert Hesekiel dieses Bild, „blicken die Augen unter der klaren Stirn; es ist etwas Strenges in dem Umriß des Gesichtes, aber der Mund ist so überaus lieblich, daß das Ganze ein Bild hohen Geistes und edelster Weiblichkeit giebt.“ Und diese äußeren Züge stimmen mit dem, was wir sonst von Bismarcks Mutter erfahren. Die bürgerliche Tochter des preußischen Kabinettsrats Menken, welche Karl Wilhelm Ferdinand von Bismarck 1806 nicht ohne Anstoß bei den Freunden und Verwandten in sein Haus einführte, besaß einen mächtig strebenden Geist, einen seltenen Verstand, verbunden mit feinem weiblichen Takt und ungewöhnlicher Schönheit.
An jenes Wohngemach stieß unmittelbar das Schlafzimmer mit einem Alkoven, dessen geöffneter Vorhang auf unserem obenstehenden Bilde S. 560 eine Bettstelle sehen läßt. Ernste und fröhliche Erinnerungen knüpfen sich an diesen kleinen Raum. In dem Bette starb am 22. November 1845 der alte Karl Wilhelm Ferdinand, in dem Alkoven aber hatte auch die Wiege seines Otto gestanden, wie wohl ebenso die der älteren Geschwister desselben, von denen freilich nur eins, der erst im Sommer des Jahres 1893 verstorbene Geheime Regierungsrat und Kammerherr Bernhard von Bismarck-Külz, ein höheres Alter erreichte, während zwei andere, ein Bruder und eine Schwester, in jugendlichem Alter [560] dahinstarben. Bismarcks jüngere Geschwister, ein ebenfalls jung verstorbener Bruder Franz und seine geliebte Schwester Malwine, sind auf Kniephof in Pommern geboren, wohin die Eltern im Jahre 1816 ihren Wohnsitz verlegten.
Ehe wir indessen mit ihnen von Schönhausen scheiden, muß noch eines Umstandes Erwähnung geschehen. Von dem ursprünglichen Besitz der Bismarcks auf Schönhausen hatten die Eltern des Fürsten unter den Nachwirkungen der Kriegsnöte in der Franzosenzeit, in der Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts ein gutes Stück verkaufen müssen, zu welchem ein zweites Herrenhaus gehörte. Als Otto von Bismarck preußischer Ministerpräsident geworden war, da machte er den Versuch, dieses Gut zurückzuerwerben, konnte sich aber mit dem Besitzer, dem Deichhauptmann Gärtner, über den Preis nicht einigen. Erst dem siebzigjährigen Jubilar führte die Dankbarkeit des deutschen Volkes das alte Stammgut in unverkürzter Gestalt wieder zu. In dem Herrenhaus des früher Gärtnerschen Besitzes befindet sich heute das Bismarckmuseum, von welchem noch später die Rede sein wird.
Schon im Jahre 1816 siedelten also, wie bemerkt, Bismarcks Eltern von Schönhausen nach Pommern über. Dort hatten sie von einem Vetter die Güter Kniephof, Jarchelin und Külz im Kreise Naugard geerbt, und aus Gründen, die wir nicht näher kennen, beschloß der Vater, auf Kniephof Wohnung zu nehmen. Dort verflossen auch die ersten Knabenjahre des kleinen Otto, ausgefüllt von all jenem ländlichen Zeitvertreib, wie ihn ein Gutsbetrieb dem unternehmenden Jungen bietet. Er spielte mit den Hunden, ließ sich auf die Pferde heben, fischte im Karpfenteich und dergleichen mehr. In den Erziehungsgrundsätzen scheinen die beiden Eltern etwas auseinandergegangen zu sein; wenigstens erzählt man von dem Vater, daß ihn der Anblick seines mit den „Beeneken“ baumelnden Jungen in Entzücken versetzt habe, während die strengere Mutter gerne frühzeitig den vollendeten Kavalier in ihm erzogen hätte, der er sein mußte, wenn ihr Ideal, die diplomatische Laufbahn des Sohnes, in Erfüllung gehen sollte.
Aus diesen Gegensätzen mag auch der Entschluß herausgewachsen sein, Otto ziemlich früh einer Erziehungsanstalt zu überweisen. Kaum sechs Jahre alt, mußte er das väterliche Haus verlassen und in die damals sehr geschätzte Plamannsche Erziehungsanstalt zu Berlin übersiedeln. Er hat ihr keine sehr freundlichen Erinnerungen bewahrt; die derbe Deutschtümelei, das Streben nach körperlicher Abhärtung wurde dort nicht ohne bedenkliche Uebertreibung gepflegt, eine besonders liebevolle Anteilnahme scheint er bei den Lehrern nicht gefunden zu haben – kurz, der kleine Junker bekam bitterlich Heimweh, so daß er eine Zeit lang „nicht pflügen sehen konnte, ohne zu weinen“. Etwas besser wurde es, als er 1827 in die Tertia des Friedrich Wilhelm-Gymnasiums überging. Dort hatte er das Glück, gleich bei seinem Eintritt die Zuneigung eines vortrefflichen Mannes, des Dr. Bonnell, zu gewinnen; und was dieser über seine erste Begegnung mit Bismarck erzählt, ist zu bezeichnend für den Eindruck, den der zwölfjährige Junge machte, als daß wir seinen Bericht nicht vollständig hier wiedergeben sollten.
„Meine Aufmerksamkeit,“ so äußert sich Bonnell, „zog Bismarck schon am Tage seiner Einführung auf sich, bei welcher Gelegenheit die Neuaufgenommenen im Schulsaal auf mehreren Bänken hintereinander saßen, so daß die Lehrer während der Einleitungsfeier Gelegenheit hatten, die Neuen mit vorahnender Prüfung durchzumustern. Otto von Bismarck saß, wie ich mich noch deutlich erinnere und später auch öfter erzählt habe, mit sichtlicher Spannung, klarem freundlichen Knabengesicht und hellleuchtenden Augen frisch und munter unter seinen Kameraden, so daß ich bei mir dachte: Das ist ja ein nettes Jungchen, den will ich besonders ins Auge fassen! Er wurde zuerst mein Schüler im Lateinischen, als er nach Obertertia kam. Michaelis 1829 wurde ich ans Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster versetzt, an das auch Bismarck im folgenden Jahre überging. Ostern 1831 kam er als Pensionär in mein Haus, wo er sich freundlich und anspruchslos in meiner einfachen Häuslichkeit und durchaus zutraulich bewegte. Er zeigte sich in jeder Beziehung liebenswürdig. Er ging des Abends fast niemals aus; wenn ich zu dieser Zeit zuweilen nicht zu Hause war, so unterhielt er sich freundlich und harmlos plaudernd mit meiner Frau und verriet eine starke Neigung zu gemütlicher Häuslichkeit. Er hatte unser ganzes Herz gewonnen, und wir brachten ihm volle Liebe und Sorgfalt entgegen, so daß sein Vater später, nach seinem Scheiden von uns, äußerte, daß der Sohn sich in keinem Hause so wohl wie bei uns befunden habe.“ Und dieses Urteil des Vaters wurde dadurch bestätigt, daß der ehemalige Zögling auch als Ministerpräsident und Reichskanzler dem alten Lehrer die herzlichste Zuneigung bewahrte.
Im allgemeinen war Bismarck ein vorzüglicher Schüler, musterhaft in seinem Betragen und ausgezeichnet durch leichte Fassungsgabe, die es ihm möglich machte, das Erforderliche ohne sonderliche Anstrengung zu leisten. Ein hervorstechendes Merkmal bildete seine ausgeprägte Vorliebe für die Geschichte, namentlich für die seines engeren Vaterlandes. Schon in der Plamannschen Anstalt [561] war dieser Zug hervorgetreten, bei Bonnell vertiefte er sich, und in Schönhausen während der Ferien übte die reichhaltige Bibliothek eine so mächtige Anziehungskraft auf den Gymnasiasten aus, daß er gelegentlich sogar die sonst peinlich eingehaltene Mittagessenszeit darüber vergaß. So legte er in jungen Jahren den Grund zu jenem riesigen geschichtlichen Wissen, das später ein gewaltiges und stets bereites Rüstzeug des Parlamentariers und Diplomaten bildete.
Das Jahr 1832 bildet einen der schärfsten Einschnitte in dem Entwicklungsgange Bismarcks. Aus der Enge und Ordnung des Gymnasiallebens, in welche die Ferien jeweils eine willkommene, aber doch nicht wesentlich nachwirkende Abwechslung gebracht hatten, trat er - im Besitze eines Maturitätszeugnisses „Nr. 2“ – nunmehr hinaus in die völlige Ungebundenheit des Studententums. Der ganze übermächtige Lebensdrang seiner Kraftnatur brach sich mit einem Mal fessellos Bahn. Mit seinem Einzug auf der „Georgia Augusta“ zu Göttingen, wo er sich als Student der Rechts- und Staatswissenschaft eintragen ließ, beginnt die Zeit des „tollen Bismarck“, die eigentlich erst mit seinem Uebergang in das politische Leben und mit seiner Verheiratung anderthalb Jahrzehnte später ihr Ende fand. Der Begriff „Kollegium“ existierte für den Studiosus Bismarck fast nur in negativer Bedeutung, ebenso in Göttingen wie später in Berlin. Dafür aber hat er über zwanzig Duelle ausgefochten und in Göttingen nach dem Wortlaut seines Abgangszeugnisses „außer einigen weniger erheblichen Rügen zehn Tage Karzer wegen Gegenwart bei einem Pistolenduell, sodann, neben der bedingten Unterschrift des consilii abeundi, drei Tage Karzer wegen Gegenwart bei einem Duelle und viertägiges strenges Karzer wegen Überschreitung des für die Gesellschaften der Studierenden vorgeschriebenen Regulativs“ zuerkannt erhalten. Ja, er nahm sogar eine noch in Göttingen verwirkte Karzerstrafe mit nach Berlin, indem er von Prorektor und Senat in Göttingen feierlich die Erlaubnis erhielt, sie dort abzusitzen. Seine Wohnung in Voß' Garten an der „Kleinen Mühle“ (s. die untenstehende Abbildung S. 562) mag ihn nicht eben viel in ihren vier Wänden beherbergt haben, und wenn er nach Pommern heimkam, so war seine Mutter gar nicht mit ihm zufrieden; sein Sammetrock, seine lange Pfeife, mit der er ihr die Zimmer verqualmte, sein studentischer Ton wollten ihr gar nicht zu der Vorstellung passen, die sie sich von ihm als zukünftigem Diplomaten gemacht hatte. Am 11. September 1833 ging Bismarck von Göttingen ab, aber erst auf den 10. Mai fällt seine Immatrikulation in Berlin. In der Zwischenzeit wird er sich wohl in Kniephof aufgehalten haben; das aus dem Jahre 1834 stammende Bildchen von der Hand Gustav von Kessels (s. unten rechts S. 562) trägt deutlich die Unterschrift „Kniephof“. Wenn Bismarck sein Auskultatorexamen im Mai 1835 dennoch mit Erfolg bestand, so verdankte er dies dem eisernen Fleiß, den er privatim in der letzten Zeit seines Studiums zu Berlin entfaltete, seiner großen Begabung und einem geschickten Privatdocenten, dem er sich zum Examensdrill anvertraut hatte.
So wurde nun also Bismarck königlich preußischer Auskultator beim Stadtgericht zu Berlin und führte sein Amt nicht eben mit viel Eifer, aber doch mit so viel Erfolg, daß seine Vorgesetzten in ihm das Zeug zu einem tüchtigen Beamten erkannten. Hervorzuheben ist aus dieser Zeit seine erste Begegnung mit dem späteren Kaiser Wilhelm I. Während des Winters 1835 bis 1836 wurde Bismarck auch in die Hofkreise eingeführt, und auf einem Hofballe war es denn auch, daß er zum erstenmal mit dem „Prinzen Wilhelm, Sohn Sr. Maj. des Königs“, wie derselbe in gewissenhafter Unterscheidung von dem „Prinzen Wilhelm, Bruder Sr. Maj. des Königs“ damals stets genannt wurde, in Berührung kam. Bismarck wurde dem Prinzen zugleich mit einem Herrn von Schenck vorgestellt, der ebenso groß war wie er und auch Auskultator. Den beiden gewaltigen Jünglingsgestalten gegenüber äußerte der Prinz scherzend: „Nun, die Justiz sucht sich ihre jungen Leute jetzt wohl nach dem Gardemaß aus!“ – Als Bismarck 1836 von der Justiz zur Verwaltung übertrat, führte ihn der Dienst als Regierungsreferendar nach Aachen. Es war dies eine Zeit, an die er später nicht gerne zurückdachte. Er geriet in Aachen und in den benachbarten vielbesuchten Badeorten Westdeutschlands so sehr in den Strudel eines überschäumenden Genußlebens, daß er wohl eine reiche Menschen- und Lebenskenntnis, aber nach Andeutungen, die er später machte, auch eine bedenkliche Verwirrung seiner eigenen Angelegenheiten davontrug, eine Verwirrung, die ihm noch lange nachging und die noch nach 14 Jahren seine Seele mit einer Art moralischen Druckes belastete. Ein Brief an seine Gemahlin vom 3. Juli 1851 ist ein tiefernster Zeuge dafür, zugleich aber auch für die gründliche Wandlung, die in der Folge mit ihm vorging. „Vorgestern war ich in Wiesbaden zu Mittag,“ schrieb er, „und habe mit einem Gefühl von Wehmut und altkluger Weisheit die Stätten früherer Thorheit angesehen. Möchte es doch Gott gefallen, mit seinem klaren und starken Weine dies Gefäß zu füllen, in dem damals der Champagner 21jähriger Jngend nutzlos verbrauste und schale Neigen zurückließ. Wo und wie mögen ** und Miß ** jetzt leben, wie viele sind begraben, mit denen ich damals liebelte, becherte und würfelte, wie hat meine Weltanschauung doch in den vierzehn Jahren seitdem so viele Verwandlungen durchgemacht, von denen ich immer die gerade gegenwärtige für die rechte Gestaltung hielt, und wie vieles ist mir jetzt klein, was damals groß erschien, wie vieles jetzt ehrwürdig, was ich damals verspottete! Wie manches Laub mag noch an unserem inneren Menschen ausgrünen, schatten, rauschen und wertlos welken, bis wieder vierzehn Jahre vorüber sind, bis 1865, wenn wir’s erleben! Ich begreife nicht, wie ein Mensch, der über sich nachdenkt und doch von Gott nichts weiß oder wissen will, sein Leben vor Verachtung und Langeweile tragen kann. Ich weiß nicht, wie ich das früher ausgehalten habe; sollte ich jetzt leben wie damals, ohne Gott, ohne Dich, ohne Kinder – ich wüßte doch in der That nicht, warum ich dies Leben nicht ablegen sollte wie ein schmutziges Hemd; und doch sind die meisten meiner Bekannten so und leben.“ [562] Sich aus solchen Wirrnissen herauszureißen, ließ sich Bismarck im Herbst 1837 an die Regierung nach Potsdam versetzen. Und als er, im Frühjahr 1838 bei den Gardejägern daselbst zur Ableistung seiner Militärpflicht eingetreten, im Verkehr mit den Offizieren wiederum dem Zauber lustigen Lebensgenusses verfiel, beantragte er noch im selben Jahre seine Versetzung zum 2. Jägerbataillon nach Greifswald, in der Hoffnung, dort nebenher Vorlesungen an der landwirtschaftlichen Akademie Eldena hören zu können.
Ein weiterer Grund für diese Veränderung lag in sehr wenig erfreulichen Verhältnissen. Der alte Herr von Bismarck hatte als Landwirt kein Glück, seine Güter kamen herunter, er stak tief in Schulden und sein Hauswesen mit wechselndem Aufenthalt in Kniephof, Schönhausen und Berlin kostete viel Geld. So griff er zu dem Auskunftsmittel, die pommerschen Güter seinen beiden Söhnen Bernhard und Otto noch bei Lebzeiten zu übergeben und sich auf Schönhausen zurückzuziehen. Das geschah denn auch – aber dann kam das Unglück in anderer Gestalt über ihn: am 1. Januar 1839 starb seine Gattin, und er selbst erlitt infolge der Erregung einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholte.
Sowie Otto von Bismarck mit seinem Militärdienstjahre zu Ende war, trat er die Verwaltung der pommerschen Güter an und führte sie zwei Jahre gemeinschaftlich mit seinem Bruder, bis dieser Landrat in Naugard wurde, in die Kreisstadt zog und einen eigenen Hausstand gründete. Das machte eine Teilung nötig; Bernhard behielt Külz, Otto übernahm Kniephof und Jarchelin. Mit Eifer und wirklichem Erfolg warf sich der Regierungsreferendar nun auf die Landwirtschaft. Als aber das Gröbste überwunden war, als alles wie von selber ging, da kam über den einsamen Junker ein seltsamer Geist der Unrast, der ihn bald in tollen Ritten zu irgend einem entfernten Offiziersgelage führte, bald einsam durch die Felder schweifen ließ, der alle jene abenteuerlichen Geschichten vom „tollen Bismarck“ erzeugte, die insbesondere in Damenkreisen umgingen und in der ganzen Gegend seinen Ruf gründlich verdarben.
Damals entstanden die Redensarten: „Kniephof ist Kneiphof worden“ und „Noch lange nicht genug, sagt Bismarck“. Damals hörte man von einem großen, halb mit Porter, halb mit Champagner gefüllten Pokal, aus dem keiner so flott trank wie Bismarck, da raunte man sich von unheimlichen Pistolenschüssen zu, durch die mitten in der Nacht erschrockene Zechkumpane aus dem Schlafe gestört wurden. Aber dieser selbe Bismarck saß dann wieder hinter geschichtlichen oder philosophischen Werken oder er führte mitten unter den Genossen ein ernsthaftes, weitausblickendes politisches Gespräch, tief in die Nacht hinein, daß die andern sich „sträflich langweilten“, weil so etwas sonst nicht Sitte war unter den preußischen Landjunkern der vormärzlichen Zeit. Kurz, man hat von ihm den Eindruck wie von einem Gefangenen, der bald gefaßt sich in sein Schicksal fügt, dann wieder knirschend an den Stangen seines Kerkers rüttelt. Kein Wunder, daß, als eines Tags dieser Otto von Bismarck bei Herrn von Puttkamer auf Reinfeld um die Hand seiner Tochter warb, der alte sittenstrenge Herr erst „wie mit der Axt vor den Kopf geschlagen“ war, daß die Mutter rundweg ihre Einwilligung versagte, bis der so schlecht beleumundete Freier selber kam und durch die natürliche Gewalt seiner Persönlichkeit allen Widerstand glorreich besiegte.
Doch wir haben damit etwas vorgegriffen. Die Jahre, während deren Bismarck in so unerquicklichen Stimmungen sich hin- und hergeworfen fühlte, brachten ihm auch ein Erlebnis, das für seine spätere politische Laufbahn von Bedeutung war. Am 15. Oktober 1840 wohnte Bismarck der Huldigungsfeier für Friedrich Wilhelm IV in Berlin bei und er nahm einen tiefen Eindruck davon mit nach Hause.
Am 30. Oktober 1844 war Hochzeit auf Schönhausen. Bismarcks geliebte Schwester Malwine vermählte sich mit seinem Freunde Oskar von Arnim Kröchlendorf. Ein Jahr darauf kehrte [563] der Tod ein unter den Linden und Kastanien des alten Schlosses.
Der Vater legte sich nieder zur letzten Ruhe. Und nunmehr teilten die Brüder sich so in das Erbe, daß der ältere zu Külz noch Jarchelin, der jüngere zu Kniephof noch das durch den Verkauf der größeren Hälfte sehr verkleinerte Schönhausen bekam. Jener nannte sich von da an „von Bismarck-Külz“, dieser „von Bismarckschönhausen“. Als Besitzer des letzteren Guts, wo Otto auch seinen Wohnsitz nahm, gelangte er jetzt zur Würde eines Deichhauptmanns des Kreises Jerichow, welches Amt ihn an die Spitze der Deichgenossenschaft stellte, deren Aufgabe in dortiger Gegend der Schutz des flachen Landes gegen Überschwemmung durch Anlage und Erhaltung von Deichen und Dämmen ist. Gleichzeitig wurde er zum Abgeordneten in den sächsischen Provinziallandtag zu Merseburg gewählt, in welcher Eigenschaft er 1847 Mitglied des Bereinigten preußischen Landtags in Berlin wurde. Hier that er sich bald hervor als leidenschaftlicher Verfechter konservativer Grundsätze, vor allem der Anhänglichkeit an das angestammte Königshaus.
Auf Schönhausen führte Otto von Bismarck dann auch seine geliebte Johanna heim. Am 28. Juli 1847 fand zu Reinfeld die Vern mählung mit der damals 23jährigen Braut statt. Die Ehe, welche hier geschlossen ward, sollte eine durchaus glückliche werden. In gleichem Maße wußte die junge Frau dem geliebten Galten Verständnis und Selbstbescheidung entgegenzubringen. Auf manche bisher geübte Lebensgewohnheit des heißblütigen Gatten machte sich ihr Einfluß aufs wohlthätigste geltend. „Ich habe den Segen gefunden, der mit einer Gattin, die nur Gott gesucht, in unser Haus einzieht,“ so pries er später das gewonnene Glück. Und dankbaren Herzens sagte er in anderer Stunde von seiner Johanna: „Sie ahnen nicht, was diese Frau aus mir gemacht hat!“ Als das junge Paar auf seiner Hochzeitsreise nach Venedig kam, traf es dort zufällig mit dem König Friedrich WilhelmIV zusammen. DerMonarch, welcher sich des tapferen Verteidigers des Königtums auf dem eben geschlossenen „Vereinigten Landtag“
wohl erinnerte, befahl Bismarck alsbald zu Tisch. Die damals geführten Tischgespräche mit dem König haben auf die spätere Gestaltung von Bismarcks Schicksal vielleicht einen tieferen Einfluß gehabt, als vorläufig äußerlich zu Tage trat. Jedenfalls hat Johanna von Bismarck schon auf der Hochzeitsreise Gelegenheit gehabt, sich daran zu gewöhnen, daß ihr Gatte zunächst seinem König und dann erst seiner Frau gehörte.
Mit dem Augenblick, da der „Deichhauptmann von Jerichow“ Otto von Bismarck im Jahre 1847 als Stellvertreter des vom sächsischen Provinziallandtage gewählten Abgeordneten v. Brauchitsch in den Vereinigten Landtag zu Berlin eintrat, lenkte sein Leben ein in den ruhelosen Strom der Politik, durch dessen Wogen er später das ihm anvertraute Staatsschiff als zielbewußter Pilot so meisterhaft zu steuern wußte. Die Versammlungssäle des ersten und zweiten „Vereinigten Landtags“, der preußischen Abgeordnetenkammer, des Erfurter Unionsparlaments waren die ersten Stationen auf dieser sturmbewegten Fahrt; sie führte ihn nach Frankfurt an den Bundestag, in die preußischen Gesandtschaftshotels zu Petersburg und Paris und schließlich in die Räume des preußischen Ministerpräsidenten und des deutschen Reichskanzleramts. Auf ihr drang er rastlos vor von Sieg zu Sieg, wurde er der machtvollste Staatsmann Europas zum Heile des Vaterlands, bis nach dreiundvierzig Jahren die Fahrt ein jähes Ende nahm und er widerwillig einlenkte in den Hafen der ihm aufgezwungenen Ruhe. Diese ganze Zeit, die gleichbedeutend ist mit der Erstarkung Preußens zur führenden Macht in Deutschland, mit Deutschlands Einigung unter dieses erstarkten Preußens Führung, mit dem inneren Ausbau des Deutschen Reichs – diese ganze Zeit hat dem, der ihr einen wesentlichen Teil ihres politischen Gehalts gab, nicht viel Spielraum gelassen, sich der behaglichen Ruhe und Freiheit des Privatmanns zu erfreuen. Wer sein Leben nach solchen Stunden durchsucht, der findet ihrer allerdings, wenn auch wenige, und sie sind von ihm selbst am köstlichsten beschrieben in seinen eigenen Briefen an Frau, Schwester, Freunde und Kollegen.
Mitten unter den Wirren des Revolutionsjahres 1848, am 21. August, wurde Bismarck zu Schönhausen das erste Kind, seine Tochter Marie Elisabeth Johanna, geboren, und am 28. Dezember 1849 folgte dieser ein Sohn, in der Taufe Nikolaus Heinrich Ferdinand Herbert genannt, ein Berliner Kind, denn der Vater hatte in dem Winter 1849/50 seine Familie von Schönhausen nach Berlin kommen lassen. Nach Schluß des Erfurter Unionsparlaments (29. April 1850) hatte der vielbeschäftigte Abgeordnete einmal wieder Muße, sich ein paar Wochen lang in Schönhausen um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Dann sollte eine Reise nach Angermünde ins Seebad sich anschließen, um „Mariechens“ willen, welcher die Seeluft gut thun sollte. Aus diesen Tagen stammt das spaßhafte Bild eines sorgenbelasteten Familienvaters, das Bismarck seiner Schwester in einem Glückwunschbrief zu ihrem Geburtstag entwirft.
„Einen feierlichen Geburtstagsbrief“ – so heißt es da – „schreibe ich Dir zu Deinem, wie mich dünkt, 24sten (ich sage es nicht weiter) Geburtstag. Du bist nun wirklich majorenn, oder würdest es doch sein, wenn Du nicht das Unglück hättest, dem weiblichen Geschlechte anzugehören, dessen Glieder nach Ansicht der Juristen selbst dann nicht, wenn sie Mütter der dicksten Hänse sind, aus der Minderjährigkeit heraustreten. Warum dies trotz seiner anscheinenden Ungerechtigkeit eine sehr weise Einrichtung sei, werde ich Dir auseinandersetzen, wenn ich Dich, hoffentlich in etwa 14 Tagen, à portée de voix humaine[1] vor mir habe. Johanna, welche augenblicklich noch in den Armen des Lieutenants Morpheus ruht, wird Dir geschrieben haben, was mir bevorsteht. Der Junge in Dur brüllend, das Mädchen in Moll, zwei singende Kindermädchen, zwischen nassen Windeln und Milchflaschen ich als liebender Familienvater. Ich habe mich lange gesträubt, aber da alle Mütter und Tanten darüber einig waren, daß nur Seewasser [564] und Luft dem armen Mariechen helfen können, so würde ich, wenn ich mich weigerte, bei jedem Schnupfen, der das Kind bis in sein 70. Jahr befällt, meinen Geiz und meine väterliche Barbarei anklagen hören, mit einem ‚siehst Du wohl, ach wenn das arme Kind hätte die See gebrauchen können!‘“
Jene kurze Ruhepause nach Schluß des Erfurter Parlaments, in welchem er noch gegen die Einheitsbestrebungen des liberalen deutschen Bürgertums ankämpfte, fand am 8. Mai 1851 ein Ende durch Bismarcks Ernennung zum Rat bei der preußischen Bundestagsgesandtschaft in Frankfurt a. M., welcher bald, am 15. Juli, seine Erhebung zum Bundestagsgesandten an Stelle des Herrn von Rochow folgte. Nach dieser Beförderung konnte Bismarck auch seine Familie nach Frankfurt nachkommen lassen, und bald entfaltete sich in der schönen Villa nahe dem Bockenheimer Thore, welche er jetzt einem Rothschild abmietete, ein reges gesellschaftliches Leben. Es fiel auf, daß an diesen Gesellschaften nicht bloß Diplomaten von Fach und hohe Offiziere teilnahmen, sondern auch Musiker, Schriftsteller und Künstler. Eine derartige Weitherzigkeit war nicht gewöhnlich unter den Vertretern der deutschen Staaten am Bunde. Die Bekanntschaft mit den künstlerischen Kreisen hatte besonders der von Bismarck sehr hochgeschätzte Maler Jakob Becker vermittelt, der mit seiner Gattin und seinen schönen Töchtern zu dem engeren Kreise des Hauses gehörte, und von dessen Hand das Bild Bismarcks als Bundestagsgesandter stammt, welches wir in dem Holzschnitt auf S. 563 wiedergeben.
In Frankfurt a. M. wurde auch – am 1. August 1852 – Bismarcks zweiter Sohn geboren, der seinen Rufnamen Wilhelm keinem Geringeren verdankt als dem damaligen Prinzen von Preußen und späteren Kaiser Wilhelm I, welcher eine Patenstelle bei ihm übernommen hatte. Derselbe weilte in jener Zeit wiederholt in Frankfurt, und gleich nach der ersten Begegnung hatte er eine sehr günstige Meinung von Bismarck gewonnen.
Diese Jahre der Frankfurter Wirksamkeit gehörten, wenn auch nicht zu den aufregendsten, so doch zu den unruhigsten, welche Bismarck erlebt hat. Die Arbeit, welche ihm sein Amt verursachte, war nicht eben groß, aber dasselbe wurde ihm zur Vorschule zu der großen staatsmännischen Thätigkeit, für welche ihn das Schicksal zum Heile der deutschen Nation berufen hatte. Die Sitzungen des Bundestags eröffneten seinen scharfen Augen den Einblick in das Intriguenspiel, welches Preußens berechtigte Ansprüche schmälerte, ließen ihn die kleinliche dynastische Eifersucht erkennen, welche das Elend der deutschen Zustände gewirkte. Die Eindrücke, die er in Frankfurt empfing, gaben ihm den Anlaß zu jenen ausführlichen Berichten an seinen König und den Ministerpräsidenten, in welchen immer lebhafter die Ueberzeugung zu Tage trat, daß die deutsche Frage nur gelöst werden könne durch einen Entscheidungskampf der beiden rivalisierenden Großmächte, daß nur ein auf ein starkes Heer sich stützendes Preußen berufen sei, den Einheitstraum des deutschen Volks, den das Frankfurter Parlament nicht hatte verwirklichen können, zur lebendigen Wahrheit zu machen. Zugleich beseelte ihn der Drang, den politischen Zustand Europas aus eigener Anschauung zu studieren, im Verkehr mit den Personen, die auf die politische Gestaltung entscheidenden Einfluß übten. Zahlreiche Reisen, teils dienstlicher, teils privater Natur, die Bismarck fast in ganz Europa umherführten, boten ihm dazu die reichste Gelegenheft. Bald fährt er mit Freunden oder mit der Gemahlin den Rhein hinab, dann begleitet er in diplomatischer Sendung den österreichischen Hof bis nach Ofen und unternimmt tagelange Ausflüge in die ungarischen Steppen zwischen Donau und Theiß; unzähligemal ruft ihn der Dienst nach Berlin, ein andermal die Aufmerksamkeit seines Königs zu den Jagden nach Letzlingen; dann wieder finden wir ihn teils zur Erholung, teils in amtlichem Auftrag in Ostende und Holland, in Westfalen, in Norderney, am Genfer See, in Oberitalien, in München und Stuttgart, mit dem Könige auf Rügen, in Paris beim Kaiser Napoleon, auf Jagden in Dänemark, Schweden und Kurland – kurz, diese Jahre waren rechte Wanderjahre, und auch nach seiner Versetzung von Frankfurt nach St. Petersburg (1858) wie während der kurzen Zeit seiner Pariser Gesandtschaft hat er große Reisen in Rußland und Frankreich unternommen.
Das Bedürfnis nach Häuslichkeit, nach dem Zusammensein mit der Gattin, fand natürlich bei dieser Art von Leben nicht immer seine Rechnung. Bald fühlt Bismarck Gewissensbisse, daß er so viel Schönes allein sehe, bald meint er, in Ermangelung des gewohnten häuslichen Behagens werde er noch das Spielen anfangen müssen. Leider war die Zeit seiner St. Petersburger Gesandtschaft durch bedenkliche Krankheitserscheinungen getrübt, die sehr schmerzhaft verliefen. Es waren die Folgen einer Beinwunde, die er sich zwei Jahre vorher durch einen unglücklichen Sturz auf der Jagd in den Einöden Skandinaviens zugezogen hatte, ein Leiden, das „zugleich rheumatisch, gastrisch und nervös war“ und auf das sein späteres Venenleiden zurückgeführt worden ist. Er fühlte sich auch noch nach der Genesung oft so [565] müde und erschöpft, daß die trübsten Gedanken durch seine Seele zogen. „Ich bin seit meiner Krankheit geistig so matt geworden, daß mir die Spannkraft für bewegte Verhältnisse verloren gegangen ist,“ schreibt er im Anfang des Jahres 1862 an seine Schwester. „Vor drei Jahren hätte ich noch einen brauchbaren Minister abgegeben, jetzt komme ich mir in Gedanken vor wie ein kranker Kunstreiter. Einige Jahre muß ich noch im Dienst bleiben, wenn ich’s erlebe. In drei Jahren wird Kniephof pachtlos, in vier Schönhausen; bis dahin weiß ich nicht recht, wo ich wohnen sollte, wenn ich den Abschied nähme. Das jetzige Revirement der Posten läßt mich kalt, ich habe eine abergläubische Furcht, einen Wunsch deshalb auszusprechen und ihn später erfahrungsmäßig zu bereuen. Ich würde ohne Kummer und ohne Freude nach Paris, London gehen, hier bleiben, wie es Gott und Sr. Majestät gefällt, der Kohl wird weder für unsere Politik noch für mich fetter, wenn das eine oder das andere geschieht.“
Auch äußerlich war er schon recht verändert. Das einst reiche Haar war dünn geworden und ließ die Stirn mächtig hervortreten, die Züge hatten eine Schärfe angenommen, die ihn älter erscheinen ließ als er war. Doch der Glanz des Auges und die feste aufrechte Haltung waren ihm geblieben.
Seine endgültige Ernennung zum preußischen Gesandten in Paris (Mai 1862) machte den Tagen des Schwankens und der Unklarheit noch immer kein Ende. Schon als Prinzregent hatte König Wilhelm, der am 2. Januar 1861 zur Regierung gelangt war, Bismarck ins Auge gefaßt als den berufenen Vollstrecker seines Wunsches, der preußischen Politik durch eine Steigerung der Wehrhaftigkeit des Staats eine festere Stütze zu geben. Bereits im März 1862, nach dem Rücktritt des Ministeriums Auerswald-Schwerin, welches die Heeresreform des Königs diesem zu matt vertrat, schien Bismarcks Ernennung zum Ministerpräsidenten beschlossene Sache. Aber angesichts der Unpopularität des als „Junker“ verschrieenen Diplomaten zauderte der König noch. Er sandte ihn als Gesandten nach Paris mit der Aufgabe, zu sondieren, wie Kaiser Napoleon der von Preußen geplanten energischen deutschen Politik gegenüber sich stellen werde. Erst als auch das Ministerium Hohenlohe sich unfähig zeigte, den wegen der Forderungen für die Heeresreform zum Ausbruch gelangten Konflikt mit der preußischen Volksvertretung auf gütlichem Weg auszugleichen, entschloß sich der König, schon jetzt die Durchführung seiner Pläne dem energischen Geiste Bismarcks anzuvertrauen. Am 15. September 1862 – Bismarck befand sich eben in Montpellier – erfolgte seine telegraphische Berufung nach Berlin, am 23. September seine Ernennung zum Staatsminister und interimistischen Vorsitzenden des Staatsministeriums, am 8. Oktober endlich diejenige zum Präsidenten des Staatsministeriums und Minister der Auswärtigen Angelegenheiten. Wie wenig die Nachwirkungen der Krankheit die gewaltige Kraft seines innersten Wesens erschüttert hatten, bewies sogleich sein erstes Auftreten. „Soll es sein, dann voran!“ schrieb er an seine Gattin.
Mehr als je war von nun an Bismarcks Leben von seinem Berufe aufgesogen. Ist ja doch das Jahrzehnt von 1862 bis 1872 ausgefüllt von einer Stufenfolge politischer Großthaten, [566] deren Vollbringen in einem so kurzen Zeitraum sich heute kaum noch begreift! Welche hingebende Arbeit des einen Mannes, der die Siege des preußischen Heeres von 1866, die Triumphe des deutschen Volks in Waffen über Frankreich zur Grundlage der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches machte, drängt sich allein in die Hälfte dieser Zeit zusammen! Welche Hingabe des ganzen Mannes forderte dieses Werk! Es gehört denn auch zu Bismarcks charakteristischen Eigenschaften, daß er das, was er that, stets mit ganzer Seele that und vollständig darin aufging. Bezeichnend hierfür ist eine Aeußerung, die er in späteren Jahren einmal im vertrauten Gespräch that. Als er sich im Laufe desselben einen alten Mann nannte und die Fürstin darauf einwandte: „Du bist aber doch erst 63 Jahre,“ da erwiderte er: „Ja, aber ich habe immer schnell und bar gelebt.“ Dann setzte er, zu einem Dritten gewendet, hinzu: „Bar – das heißt, ich bin immer ganz bei der Sache gewesen, mit meinem vollen Wesen – was erreicht wurde, ich habe dafür bezahlt mit meinen Kräften und meiner Gesundheit.“
Zunächst war es ihm auch keineswegs leicht gemacht, seine Kräfte frei zu entfalten, und es fiel ihm schwer, sich in die Regelmäßigkeit eines ununterbrochenen Bureaudienstes zu finden. Kein Wunder, wenn in seinen Briefen mitunter recht bittere Aeußerungen fallen über das „Sträflingsleben“, das er in Berlin führen müsse, über das „Tretrad“, zu dem er verurteilt sei und auf dem er sich vorkomme wie der müde Gaul, der es unter sich fortschiebe, ohne von der Stelle zu gelangen. Selbst wenn er zur Kur in einem Bade weilte oder seinen König nach einem solchen begleitete, erquickte ihn wohl die herrliche Natur, aber die Geschäfte ließen ihn nicht los. „Ich habe eine rechte Sehnsucht, einmal einen faulen Tag in Eurer Mitte zu verleben,“ schreibt er am 28. August 1863 von Baden aus an seine Gemahlin; „hier werde ich auch bei dem reizendsten Wetter die Tinte nicht von den Fingern los. Gestern bin ich bei wundervollem Mondschein bis Mitternacht in den Feldern spazieren gegangen, kann aber doch die Geschäfte nicht aus dem Kopf loswerden … Ich wollte, irgend eine Intrigue setzte ein anderes Ministerium durch, daß ich mit Ehren diesem ununterbrochenen Tintenstrom den Rücken drehen und still auf dem Lande leben könnte; die Ruhelosigkeit der Existenz ist unerträglich, seit zehn Wochen im Wirtshaus Schreiberdienste und in Berlin wieder; es ist kein Leben für einen rechtschaffenen Landedelmann und ich sehe einen Wohlthäter in jedem, der mich zu stürzen sucht.“
Und wie damals in Baden, so ging es ihm überall, in Gastein, Karlsbad und Kissingen, in Varzin und Friedrichsruh. Immer verfolgte ihn die hohe Politik bis hinein in die Idylle seiner sommerlichen Landaufenthalte. In manchen Stunden überschlich den sonst so eisernen Mann eine tiefe Wehmut, ein fast verzweifelter Weltschmerz. Als er auf der Höhe seiner Erfolge stand, beklagte er einmal einem Vertrauten gegenüber, daß er von seiner politischen Thätigkeit wenig Freude und Befriedigung gehabt. Niemand liebe ihn deshalb, er habe damit niemand glücklich gemacht, sich selbst nicht, seine Familie nicht, auch andere nicht. Und auf den Widerspruch der Anwesenden fuhr er fort: „Wohl aber viele unglücklich. Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären achtzigtausend Menschen nicht umgekommen, und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht.“ – „Und Liebsten,“ sagte jemand. – „Und Liebsten,“ wiederholte er. „Das habe ich indessen mit Gott abgemacht. Aber Freude habe ich wenig oder gar keine gehabt von allem, was ich gethan habe, dagegen viel Verdruß, Sorge und Mühe.“ Welche Güter er seinem Volke mit „solchen Opfern, heilig großen“ erkauft, das versank in diesen Stunden der Bitterkeit vor seinem inneren Auge in dunkle Tiefe. – Die Sehnsucht nach einem geordneten freien Leben als Landedelmann hat ihn denn auch niemals, so lange er im Amt war, verlassen, auch nicht in der Zeit seiner größten ruhmgekrönten Erfolge. So oft es nur irgend ging, zog er sich in der Sommerzeit auf das Land zurück, wohin [567] ihn freilich ein Heer von Amtssorgen und Amtspflichten begleitete. Und als ihm das preußische Abgeordnetenhaus aus Anlaß seiner Verdienste um den preußischen Staat nach dem siegreichen Krieg 1866 eine Dotation von 400000 Thalern überwies, da erwarb er sich für diese Summe am 23. April 1867 in der pommerschen Heimat seiner Frau die Herrschaft Varzin, auf welcher er bis in die Mitte der achtziger Jahre allsommerlich oft Monate zubrachte. Varzin liegt an der Eisenbahn von Stolp nach Rummelsburg, etwa in der Mitte zwischen beiden, in der Nähe der Station Hammermühle, nicht weit von dem ehemals Puttkamerschen Gute Reinfeld, das nach dem Tode von Bismarcks Schwiegereltern ebenfalls in seinen Besitz übergegangen war. Das ältere, niedrige Hauptgebäude ist wie auch ein neuerer Anbau des Fürsten äußerst schlicht in Ausstattung und Möblierung; wenig deutet darauf hin, daß diese Räume dem Kanzler des Norddeutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches so vielfach erfrischende Zuflucht geboten haben. Nur das Arbeitszimmer des Fürsten trägt ein im Verhältnis zu dem übrigen etwas luxuriöseres Gepräge. Mit den Erweiterungen, welche Bismarck dazu kaufte, mag der gesamte Varziner Besitz etwa 30000 Morgen umfassen. Der Grund und Boden ist aber zum großen Teile nicht besonders fruchtbar und hat Stellen, welche sich selbst zur Bepflanzung mit Kiefern nicht eignen; die Feldwirtschaft tritt gegen die Waldwirtschaft zurück. Der Stolz von Varzin ist der prächtige Park, er bildete stets einen Lieblingsaufenthalt des Fürsten. Stattliche Buchen, Birken und Eichen, an einigen Stellen auch Gruppen rotstämmiger Tannen mit schirmartig sich ausbreitendem Geäst erheben ihre Kronen über das Unterholz der Hügel oder über das Gras und Moos der lichteren Senkungen. Schön gewundene Wege ziehen sich über Thal und Höhen.
Hier in Varzin fand Bismarck, in den Jahren der großen Entscheidungskämpfe seiner Politik, immer wieder die Frische zurück für den Kraftaufwand, den sie heischten. Hier konnte er seinem starken Familiengefühl und -bedürfnis Genüge thun, im Sinn jener Worte, die er nach seiner Silbernen Hochzeit an Kaiser Wilhelm richtete: „Mit Recht heben Eure Majestät unter den Segnungen, die ich Gott zu danken habe, das Glück der Häuslichkeit in erster Linie hervor.“
Die Worte tiefschmerzlicher Resignation, welche in seinen Briefen öfter wiederkehren, waren eben doch nur der Ausfluß von Stimmungen, denen er ja wie alle stark empfindenden Naturen zeitlebens zugänglich war. Es stehen ihnen andere Aussprüche, auch aus der Zeit seiner Vereinsamung in Friedrichsruh, die ganz anders lauten, gegenüber. Und die schönste Auslösung der sein Gemüt bedrängenden Gegensätze war dann sein Humor, von dem er mitten unter den Erregungen des Feldzugs und im Drange der Geschäfte, die zum stolzen Tage der Kaiserverkündigung in Versailles führten, wie im Feuer parlamentarischer Kämpfe aus vollem Kraftgefühl heraus immer aufs neue die köstlichsten Proben gegeben hat. Aber Bismarck hat wirklich viel Undank erlitten: das wissen und fühlen vor allem die, die ihn einst verkannt und dann erkannt haben. Wie tief, wie bis in die innerste Seele hinein ihn der nicht immer in die schonendsten Formen gekleidete Widerstand gegen seine politischen Maßnahmen kränkte, das mögen wohl nur wenige geahnt haben. Gewiß waren die Rücktrittsgesuche, die er wiederholt – am 17. Dezember 1874, am 27. März 1877, am 6. April 1880 und vielleicht noch öfter – an seinen kaiserlichen Herrn richtete, mehr als eine bloße Form. Und wie wollte man über schwarzsichtige Stunden rechten mit einem Manne, dem zweimal eine mörderische Hand nach dem Leben trachtete, zweimal gerade in solchen Augenblicken, als er am schwersten mit sich selber rang um Klarheit darüber, ob das, was er that oder wollte, auch wirklich das Richtige sei, als seine ganze Seele gleichsam wund war von Zweifeln, die auf ihn einstürmten.
Wir wollen die Geschichte der beiden Attentate auf Bismarcks Leben heute nicht wiedererzählen; es genüge, daran zu erinnern, daß das eine ihn traf, als er in Berlin am 7. Mai 1866 in den schwülen Tagen vor Ausbruch des Krieges mit Oesterreich vom Vortrag bei König Wilhelm zu Fuß nach Hause ging. Der Angreifer, Ferdinand Cohen-Blind, der Stiefsohn des badischen Flüchtlings Karl Blind, nahm sich im Gefängnis das Leben, noch bevor eine Untersuchung eingeleitet war. Und das andere Mal, am 13. Juli 1874, geschah’s in Kissingen. Damals hat der fanatisierte Böttchergeselle Kullmann den Anschlag auf das Leben des Fürsten gemacht, den er mit 14 Jahren Zuchthaus büßen mußte. Beidemal wurde die glückliche Errettung Bismarcks Anlaß zu den überwältigendsten Kundgebungen der Teilnahme und der Verehrung.
Kein Tag aber hat dem Fürsten, so lange er am Ruder war, wohl mehr gezeigt, wie sehr er trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen einem großen, sehr großen Teile seines Volkes ans Herz gewachsen war, als die Feier seines siebzigsten Geburtstags am 1. April 1885.
3738 Glückwunschschreiben, 2644 Telegramme, 175 Adressen von Korporationen und Vereinen, 560 Geschenke, 3 Ehrenbürgerbriefe, [568] 2 Ehrendoktordiplome trafen zu diesem Festtage bei ihm ein. Der Kaiser übersandte dem Fürsten mit einem Handschreiben voll inniger Wärme Anton von Werners Riesengemälde „Die Kaiserproklamation zu Versailles“, deutsche und auswärtige Fürstlichkeiten – selbst der König von Siam und der Sultan von Sansibar – sandten ihre Glückwünsche, 3600 Mitglieder der Krieger- und Landwehrvereine huldigten ihm, und 7000 Fackelträger, die Studierenden von Berlin, Abordnungen von sämtlichen Hochschulen, Künstler, Innungen, städtische Vereine, brachten ihm ihren flammenden Gruß. Kaiser, Bundesrat und Generalität, die kaiserlichen Prinzen erschienen persönlich bei dem Jubilar, Abordnungen aller Art drängten sich an diesem Tage in dem Reichskanzlergebäude, darunter auch ein paar Miesbacher Bauern in ihrer ländlichen Tracht, welche als Angebinde einen jungen Stier und fünf Kalbinnen für den Stall von Schönhausen mitgebracht hatten. Denn, wie schon früher erwähnt, auch die einst von Bismarcks Vater preisgegebene Hälfte des Ritterguts Schönhausen hatte dieser frohe Tag wiedergeschenkt.
Um allen Kreisen des deutschen Volkes Gelegenheit zu geben, nach Lust und Vermögen den Zoll der Dankbarkeit an den gefeierten Mann zu entrichten, war der Gedanke einer Bismarckspende angeregt worden, und aus einem Teil ihres Ertrags, der sich insgesamt auf etwa 23/4 Millionen Mark belief, war jenes Gut dem damaligen Besitzer Deichhauptmann Gärtner abgekauft und dem Fürsten als Festgabe überreicht worden. Der Rest der Spende blieb Bismarck zu freier Verfügung überlassen und wurde von ihm in der Höhe von 1200000 Mark zu einer „Schönhauser Stiftung“ bestimmt, woraus deutschen jungen Männern, die sich dem höheren Lehrfach an deutschen höheren Lehranstalten widmen, vor ihrer Anstellung Unterstützungen gewährt, auch im Inlande wohnenden Witwen von Lehrern des höheren Lehrfachs Beihilfe für ihren Lebensunterhalt und für die Erziehung ihrer Kinder geleistet werden sollten. In dem früher Gärtnerschen Hause auf Schönhausen aber wurde das Bismarckmuseum eingerichtet, das heute in seinen Sälen und Zimmern, an den Wänden und in Schränken aller Art die Fülle alles dessen enthält, was dem Fürsten in der langen Zeit seines Amtes an Geschenken und Ehrungen zugeflossen ist. Auch manche denkwürdige Reliquie aus der Geschichte seiner Großthaten steht darunter, wie z. B. jener zerrissene Strohsessel, auf dem einst Kaiser Napoleon III saß, als er am Morgen des 2. September 1870 vor Sedan mit Bismarck über die Bedingungen der Kapitulation verhandelte.
Die Wiederherstellung des ursprünglichen Umfangs von Schönhausen war der letzte große Zuwachs zu dem Besitz des Fürsten, der schließlich für einen reichen Mann gelten konnte. Als er noch einfacher Herr von Bismarck war, konnte man das bekanntlich nicht von ihm sagen, und auch als Graf – welchen Rang er am 15. September 1865 erhielt – hatte er noch nicht viel mehr zu verzehren als sein Ministerpräsidentengehalt und die Erträgnisse von Kniephof und dem reduzierten Schönhausen. Dann kam der Erwerb von Varzin hinzu, und im Jahre 1871 nach der glorreichen Beendigung des französischen Kriegs wurde ihm neben der Würde des Fürsten vom Kaiser die Domäne Schwarzenbek im Herzogtum Lauenburg mit dem „Sachsenwald“ verliehen, für welche der Name „Friedrichsruh“ volkstümlich wurde, nach der Bezeichnung eines Jagdhauses, das ehemals Graf Friedrich zur Lippe hier errichtet hatte.
Unter dem Namen Friedrichsruh begreift man jetzt den gesamten zur früheren Domäne des Herzogtums Lauenburg gehörigen Grundbesitz im Amte Schwarzenbek. Ursprünglich bestand er fast ausschließlich aus Wald, und es gab darin weder Schloß noch Herrenhaus. Fürst Bismarck aber kaufte später die an den westlichen [569] Saum des Waldes grenzenden kleinen Güter Silk und Schönau dazu und baute sich das an die Stelle des einstigen Jagdhauses getretene bescheidene Wirtshaus zu einem durchaus nicht prächtigen, aber behaglichen Wohnhaus um. Wenn er in den letzten Jahren seiner Amtsführung Friedrichsruh vor Varzin bevorzugte, so mag der Grund hiervon in der leichteren Erreichbarkeit des ersteren gelegen haben; denn Friedrichsruh liegt unmittelbar an der Eisenbahnlinie Berlin-Hamburg. Die Gewöhnung aber mag dahin geführt haben, daß er auch nach seinem Rücktritt vom Amte hier verblieb, unberührt vom Getriebe der Welt und doch ihm nahe genug, um mit dem Strom der Ereignisse in Fühlung zu bleiben. Unsere Bilder zeigen uns den in einer Art Schweizerstil gehaltenen Bau des Herrenhauses von der Straßen-, bezw. Eisenbahnseite sowie von der Parkseite, umringt und überragt von den hohen Baumkronen des Sachsenwalds und sich spiegelnd in dem stillen Gewässer des Auflüßchens, von dessen idyllischem Charakter unsere Ansicht aus der Umgebung von Aumühle auf Seite 567 einen Begriff giebt. Sie zeigen uns auch die Schloßterrasse, an deren Fuße so manches Mal die Scharen der Verehrer vorüberzogen, die Musikkorps ihre Ständchen brachten, zu der so oft Fackel- oder Liedergruß sich emporschwang und auf deren Brüstung gestützt der Hausherr so manches Mal jene Reden an atemlos lauschende Hörer richtete, die für die ganze Welt von Bedeutung waren.
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Der Tod Kaiser Wilhelms des Ersten am 9. März 1888, dessen Kunde Fürst Bismarck unmittelbar danach in tiefster Ergriffenheit dem Reichstag überbrachte, bedeutete für ihn selbst eine verhängnisvolle Schicksalswendung. Dem Tode des ersten Kaisers folgte die Tragödie der „hundert Tage“, während deren es dem todwunden Kaiser Friedrich vergönnt war, die Krone des Reiches zu tragen, dessen Errichtung er als siegreicher Heerführer durch unvergeßliche Thaten mit herbeigeführt hatte. Und zwei Jahre später, am 18. März 1890, zwang ein tieftragischer Konflikt, in welchen die Anschauungen des alten Kanzlers von seinen Pflichten und Rechten mit den Plänen und Wünschen des jugendlichen zweiten Erben der Kaiserkrone gerieten, den Einiger der Nation zum Rücktritt von seinen Aemtern; unter Kundgebungen bewegtester Teilnahme, die ihm die Bevölkerung der Reichshauptstadt darbrachte, verließ er am 29. März Berlin, um fortan in der friedlichen Stille des Sachsenwaldes seine Tage zu verbringen. Unfreiwillig sah er sich nun im Besitze der Ruhe und im Genuß der ländlichen Abgeschiedenheit, die er in den Jahren seines Wirkens an der Spitze der Staatsgeschäfte sich so oft als höchstes Glück ersehnt hatte, und die Resignation, mit welcher einst der alternde Goethe den Spruch niederschrieb: „Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle“, forderte das Geschick auch von ihm, dem Manne der That, dessen Geist in ungebrochener Kraft nach weiterer Bethätigung im Dienste des Vaterlandes verlangte.
Es liegt außerhalb des Rahmens dieses Erinnerungsbildes, auf die Motive einzugehen, welche dieses Schicksal bedingten. Die Tragik desselben ist von allen Zeitgenossen miterlebt worden. Sie erhob aber auch Bismarcks Charakterbild schon zu seinen Lebenszeiten [590] immer mehr über Haß und Gunst der Parteien, mit denen seine Politik jeweils im Kampf gestanden hatte. Das menschliche Mitgefühl erweiterte von Jahr zu Jahr den Kreis seiner Verehrer; das starke urdeutsche Gemütselement seines Wesens entfaltete sich jetzt in all seiner gewinnenden Liebenswürdigkeit ungehemmt, nun er sich als Privatmann in bedeutsamen Ansprachen an die Vertreter der verschiedensten Volkskreise wandte, die von überall her zu ihm gepilgert kamen. In großartigen Kundgebungen der Dankbarkeit der von ihm geeinten Nation fand das tragische Geschick, das auf Bismarcks letzte Lebenszeit dunkle Schatten warf, seine Verklärung.
Die Schloßterrasse zu Friedrichsruh, dann jene im Schlosse zu Varzin, und endlich der Hof der Oberen Saline zu Kissingen, das waren die Rednerbühnen, von denen der greise Staatsmann noch zur Welt sprach, nachdem er seinen amtlichen Platz an den Ministertischen des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses verlassen hatte. Da scharten sich um ihn jene Massenbesuche, die, ohne Beispiel in der Geschichte, oft von weither in tagelangen Reisen zu ihm strömten, aus Schwaben und Baden, aus der Pfalz, Hessen und Thüringen, aus Schleswig-Holstein, Lübeck, Oldenburg, Mecklenburg, aus Lippe-Detmold, Braunschweig, Bayern, aus Posen und Westpreußen – aus fast allen Teilen des Vaterlands.
Bismarck selbst ist in den Jahren nach seinem Rücktritt wenig mehr gereist. Nur die Bäder von Kissingen suchte er bis 1893 regelmäßig auf, wie er es schon früher gethan, nach dem guten Erfolg, den der erste Besuch gehabt hatte. Vom Jahre 1876 an bewohnte er hier die „Obere Saline“, das alte Badeschloß der Würzburger Bischöfe, dessen ganze Anlage ihn an die heimischen Gutshöfe in Pommern und der Mark erinnerte und ihm schon darum sympathisch war. Gerade die letzten Jahre, in denen er Kissingen besuchte, um im Badehaus der „Unteren Saline“ in seinen Quellen zu baden, machten den gartenartigen Hof der „Oberen“ zum Schauplatz großartiger Versammlungen von Hunderten, ja Tausenden, die von fernher gekommen waren, um dem Gründer des Reichs zu huldigen. Als Bismarck im Juni 1892 an der Hochzeit seines ältesten Sohnes Herbert in Wien teilgenommen, kehrte er auf der Rückkehr wieder in Kissingen zur Kur ein, und wie schon die ganze Fahrt für ihn ein Triumphzug gewesen war, so wurde er jetzt hier Gegenstand von immer neuen Ovationen, und mächtig hallten im Vaterland die Ansprachen wieder, welche er im Hof der Oberen Saline an die Scharen seiner Verehrer hielt, die aus den Ländern des deutschen Südens sich bei ihm einfanden. In Kissingen war es auch, wo ihn im Sommer 1893 jene Krankheit befiel, auf deren Nachricht hin Kaiser Wilhelm II sich telegraphisch nach dem Befinden des Fürsten erkundigte und ihm eins der kaiserlichen Schlösser als Wohnung anbot. Am 26. Januar 1894 war Bismarck dann einer Einladung des Kaisers folgend zu eintägigem Besuch nach Berlin gekommen. Wie ein Aufatmen nach langer quälender Spannung ging es durch das weite deutsche Vaterland, und bei Gelegenheit des 80. Geburtstags gelangte dann diese Freude in einer Weise [591] zum Ausdruck, die wohl einzig in der Geschichte dasteht. Kaiser Wilhelm II war an der Spitze der höchsten Vertreter des deutschen Heers und der deutschen Marine nach Friedrichsruh gekommen, Vertreter der höchsten Regierungskörperschaften des Reichs und der verschiedensten Volkskreise brachten ihre Glückwünsche dar, Wochen, ja Monate hindurch lösten die Besuche und Deputationen einander in Friedrichsruh ab. Und so oft der Fürst in diesen Tagen das Wort ergriff, leuchtete aus dem resignierten Grundton das stolze Bewußtsein dessen hervor, was er zum Besten der Nation erstrebt und geleistet hatte. Als der „getreue Eckart“ der Nation mahnte er sie, Das festzuhalten und treu zu pflegen, was er und alle, die an der Begründung des Reiches teilgenommen, in schweren Kriegszeiten durchgeführt, damit es zum Hort der Einheit und des Friedens des deutschen Volks und seiner Fürsten werde.
Im großen und ganzen verbrachte der Altreichskanzler die letzten Jahre im Behagen des Familienkreises zu Friedrichsruh, umhegt von sorgender Liebe, inmitten lieblicher Enkel und treuer Freunde, ein würdiger Patriarch unter den Seinen. In den Tagen seiner pflichtenreichen Amtsführung hatte er geklagt: „Ich möchte wohl einmal gern ein volles Jahr keinen Menschen weiter sehen als meine Frau, meine Kinder und Enkel; für die sollte man doch eigentlich leben!“ – jetzt war ihm noch eine Reihe von Jahren vergönnt, dieses Glück zu genießen. Sie brachten ihm als Vater und Großvater gar manchen Anlaß zu festlicher Freude. Graf Herbert, den er sich zum Stellvertreter im Amt herangezogen hatte und der gleichzeitig mit ihm 1890 aus seiner Stellung geschieden war, vermählte sich am 21. Juni 1892 mit der Gräfin Marguerite Hoyos; am 22. November 1893 wurde er Vater eines Töchterleins, dem am 4. März 1896 ein Schwesterchen und am 25. September 1897 ein Bruder folgte. Graf Wilhelm, seit dem 6. Juli 1885 vermählt mit Sibylle von Arnim, bescherte ihm nach drei Enkelinnen am 26. Mai 1896 den ersten Enkelsohn, Wilhelm Nikolaus, der in Königsberg zur Welt kam. Mit Genugthuung sah der Fürst die strammen Söhne seiner Tochter Marie heranwachsen, welch letztere, nachdem ein im Jahre 1875 geschlossener Herzensbund mit Graf Wend von Eulenburg durch den Tod des Verlobten ein jähes Ende gefunden, am 6. November 1878 dem Grafen Kuno zu Rantzau die Hand gereicht hatte. Derselbe war bis zum Sommer 1895, wo er ganz nach Friedrichsruh übersiedelte, Gesandter im Haag. Auch Malwine von Arnim, Bismarcks geliebte Schwester, die Vertraute seiner Jugend, mit der er einst war „wie mit einer Braut“, verkehrte viel im Hause. Dazu kamen als befreundete Nachbarn Herr und Frau von Merck, der treue Hausarzt Schweninger, Dr. Chrysander, der Assistent des Arztes und zugleich Sekretär des Fürsten.
Früher gehörte auch Lothar Bucher zum vertrauten Kreise, bis der Tod ihn 1892 von der Seite seines Meisters riß, dem er so lange ein gescheiter, [592] gewandter, kenntnisreicher Gehilfe gewesen war. In den lebensvollen Zeichnungen, welche C. W. Allers in den Bänden „Bismarck in Friedrichsruh“ und „Unser Bismarck“ vereinigt hat, findet sich gar reizvoll das glückliche Familienleben veranschaulicht, das sich in den ersten Jahren unseres Jahrzehnts in Friedrichsruh entfaltete, zumal an den Geburtstagen des Fürsten, welche nach altem Brauch von unzähligen Verehrern des Altreichskanzlers benutzt wurden, ihm ihre Liebe durch Geschenke und Ovationen zu bezeigen.
Jetzt hatte der Weltberühmte auch Muße, den Ansprüchen der Kunst an ihn zu genügen. In den Jahren, da sein Wille der Geschichte neue Bahnen wies, fand er dazu wenig Zeit. Die gewaltige Heldengestalt, die, auf den Pallasch des Kürassiers gestützt, dem besiegten Frankreich den Frieden diktierte, ist wohl unzähligemal dargestellt worden, aber gar selten unmittelbar nach dem Leben. Wie die Zeit, fehlte ihm damals auch die Neigung dafür, den Künstlern, die ihn malen wollten, als Modell zu dienen. Das erste Bismarckbild Lenbachs wurde 1879 für die Berliner Nationalgalerie gemalt. Nur schwer war Fürst Bismarck zu gewinnen, daß er dem Maler die nötigen Sitzungen gewährte; die Weihnachtszeit in Friedrichsruh wurde dazu benutzt. Nach seinem Rücktritt war der Fürst weniger zurückhaltend; ein großer Teil der Bismarckbildnisse Lenbachs stammt aus den letzten acht Jahren.
Eines derselben, aus dem Jahre 1891, das den Altreichskanzler mit dem Kürassierhelm auf dem Haupte in wunderbar lebensvoller Charakteristik darstellt, geben wir in nebenstehendem Bilde wieder. Aus dem Jahre seines Rücktritts stammt die photographische Aufnahme, welche ihn in Civil zu Pferd darstellt (s. S. 590). Das dritte der Porträts, auf S. 593, zeigt ihn auf einem der Gartenstühle in Friedrichsruh sitzend, bewacht von seinen treuen Doggen. So, mit dem schwarzen breitrandigen Schlapphut auf dem Haupte, im bequemen, aber festanschließenden Gehrock, die Rechte auf einen kräftigen Stock gestützt, sah man ihn oft in seinem Parke rasten oder gedankenvoll durch die Laubgänge seines Sachsenwalds schreiten, und so hat sich auch die äußere Erscheinung des Altreichskanzlers dem deutschen Volksgemüte zuletzt eingeprägt. Ueber Bismarcks Antlitz äußerte sich ein scharfer Beobachter, wie folgt: „Es ist ein seltenes Gesicht, das allenthalben Aufmerksamkeit erregen würde, selbst wenn es nicht einem Manne gehörte, dessen Thaten die moderne Welt verändert haben. Es sind Züge, die man nicht wieder vergißt ... In längst vergangenen Tagen war dies Gesicht auffallend klar, voller Fröhlichkeit, ja selbst Ausgelassenheit; jetzt ist es ernst geworden, beinahe feierlich, mit einem Ausdruck unerschrockenster Energie und Kühnheit. Die kahle Stirn, für den Phrenologen ein Gegenstand der Bewunderung, ist von ungewöhnlichem Umfang. Die großen und hervortretenden blauen Augen scheinen, ohne zu blinzeln, in die Sonne sehen zu können; sie sind nicht schnell, sondern wandern langsam von einem Gegenstand zum andern. Aber wenn sie auf einem menschlichen Antlitz ruhen bleiben, werden sie in so hohem Grade forschend, daß mancher, welcher diesen Blick auszuhalten hat, sich unbehaglich fühlt.... Wenn er unter seinen wenigen persönlichen und intimen Freunden sitzt, frei von allem Zwang, seine lange Pfeife rauchend, den Kopf seines großen Hundes streichelnd und mit halber Aufmerksamkeit der in gedämpftem Ton geführten Unterhaltung zuhörend, legt es sich über sein kaltes Gesicht wie ein leichter, durchsichtiger Schleier, hinter welchem seine harten Züge weicher werden und einen ungeahnten Ausdruck von gedankenvoller Traurigkeit annehmen. Denn obgleich einer der sachlichsten Menschen, welche die Welt je gekannt hat, birgt er in seiner Brust eine Ader tiefen Gefühls. Und so gewiß es ist, daß dieses Gefühl nichts gemein hat mit krankhafter Sentimentalität, so gewährt es ihm doch die Möglichkeit, alles nachzuempfinden, was ein Herz während der Reise durch das Leben zu ertragen hat.“
Leider wurde dem Fürsten auch der andauernde Genuß des Landaufenthaltes durch körperliche Leiden immer wieder beeinträchtigt. Seit jener Erkrankung in Sankt Petersburg, welche der Jagdunfall in Skandinavien zur Folge hatte, ist der so reckenhaft gebaute eiserne Kanzler eigentlich nie mehr ganz gesund gewesen. Hauptsächlich quälten ihn neuralgische Schmerzen, begünstigt und gesteigert durch die ungeheure Arbeit und Verantwortung, die auf ihm lastete, nervöse Magenverstimmungen kamen hinzu, welche auch die Leber angriffen. Es ist bekannt, in welch verzweifeltem Zustand er sich befand, als anfangs der achtziger Jahre der Münchner Arzt Dr. Schweninger seine Behandlung übernahm, der denn auch den schwer angegriffenen Körper des Fürsten wieder in eine leidliche [593] Verfassung brachte. Ohne Störungen, zum Teil recht schwerer Natur, ging es jedoch auch in der Folgezeit nicht ab. Im Sommer 1893 war der Fürst so krank, daß man das Schlimmste zu fürchten begann; aber noch einmal brach seine starke Natur sich Bahn durch alle Schmerzen, und der beinahe Achtzigjährige faßte neuen Lebensmut und neue Lebenskraft.
Erst der am 27. November 1894 in Varzin erfolgende Tod seiner innig geliebten Frau, die sich ihm in den Jahren nach seinem Rücktritt in ihrer ganzen Charakterstärke als treueste Gesinnungsgenossin bewährte, ließ in ihm selbst eine Sehnsucht nach dem Tode aufkommen, welche von Jahr zu Jahr zunahm. Er begann sich immer einsamer zu fühlen in dieser Welt. Immer seltener ergriff er das Wort, um seinen Rat geltend zu machen für die weitere Schicksalsgestaltung des Vaterlandes; immer häufiger wurden die Nachrichten aus Friedrichsruh von einem erschreckenden Rückgang im Gesundheitszustand des „Einsiedlers im Sachsenwald“. Sie beruhten auf Wahrheit. Und als im Oktober vorigen Jahres sich Ohnmachtsanfälle von anhaltender Natur einstellten, da wuchs in dem Kreise der Eingeweihten die bange Ahnung des nahenden Endes. Der letzte Anfall hatte die ganze Familie, die auf das Schlimmste gefaßt war, um ihn versammelt. Aber noch einmal gelang es den Bemühungen Schweningers, die Sorgen zu verscheuchen; Donnerstag, den 28. Juli, war eine Besserung eingetreten, welche dem Fürsten erlaubte, bei Tisch zu erscheinen. Lebhaft und gut gelaunt, nahm er an der Unterhaltung teil, und nach der Mahlzeit griff er nach langer Zeit wieder zur Pfeife. Als er dann am Abend ernstlich gemahnt wurde, sich niederzulegen, antwortete er im Scherze: „Mein Gott, soll ich schon schlafen gehen?“ Die Familie und Schweninger hielten schon aufatmend auch diesen Anfall für gebrochen und der letztere glaubte daher, dem Ruf zu einem Patienten in Sachsen folgen zu können. Doch in seiner Abwesenheit trat plötzlich eine starke Verschlimmerung ein. Die besorgte Familie rief telegraphisch den abwesenden Arzt dringend zurück. Aber als er am Sonnabend, dem 30. Juli, in später Abendstunde in Friedrichsruh wieder eintraf, hatte der Leidende beinahe den schweren Todeskampf überstanden.
Fürst Bismarck starb umgeben von den Seinen. Als seine Tochter bei einem der letzten Anfälle der ihn bedrückenden Atemnot seine Stirn trocknete, sagte er leise: „Danke, mein Kind“ – dies waren seine letzten Worte. Es war nahezu elf Uhr, als er entschlief. Schweninger, der ihm noch die Atmungsbeschwerden hatte lindern können, konstatierte erschüttert den Tod. Der Fürst lag, wie er zu schlafen pflegte, leicht mit dem Kopf nach links geneigt. Der Gesichtsausdruck war friedlich und mild. Kindesliebe gab dem Toten eine weiße Rose in die Hand, wie er eine solche an sich genommen hatte aus der Fülle des Blumenflors, der nach dem Hingange seiner Frau deren Sarg geschmückt hatte.
- ↑ Auf Stimmweite.