Ottilie Wildermuth (Die Gartenlaube 1892/25)
[801] Ottilie Wildermuth. Eine litterarische Erscheinung, die sich im Wechsel der Zeiten zu behaupten weiß, die allen Veränderungen im Geschmack und in den Anschauungen zum Trotz fortfährt, ihre eifrige und zahlreiche Gemeinde zu versammeln, die hat den Beweis ihres inneren Werthes geliefert. Und das ist mit Ottilie Wildermuth der Fall. Nicht als ob die Zeitgenossen Ottilie Wildermuths an dem inneren Werth ihrer literarischen Schöpfungen gezweifelt hätten – nein, eine so einstimmige Verehrung hat selten eine Schriftstellerin genossen. Aber es ist doch schön, das Urtheil der Mitwelt, dem man leicht eine gewisse Befangenheit zutraut, durch das objektivere der Nachwelt bestätigt zu finden. So haben denn auch die „Gesammelten Werke“ Ottilie Wildermuths, welche ihre Tochter Adelheid gegenwärtig herausgiebt, eine gute Statt im deutschen Volke gefunden; die beiden bis jetzt erschienenen Bände, welche der unsern Lesern wohlbekannte Maler Fritz Bergen mit hübschen Bildern versehen hat, umfassen die „Bilder und Geschichten aus Schwaben“, kleine Skizzen in humorvoll erzählender Form, die den Typus urschwäbischen kleinstädtischen Lebens und Denkens mit all seinen Schwächen und wiederum mit all seinen liebenswürdigen Zügen so getreu verkörpern, wie dies eigentlich in keinem anderen Werke unserer Litteratur, auch der schwäbischen nicht, der Fall ist.
Während so die „Gesammelten Werke“ die Wildermuthschen Schöpfungen in immer weitere Kreise tragen, wirken auch ihre beiden Töchter Agnes Willms und Adelheid Wildermuth in dem Geiste der Mutter weiter, hauptsächlich durch die Fortführung des „Jugendgartens“, den einst Ottilie Wildermuth gegründet hat. Auch dieses Jahr liegt uns wieder ein stattlicher Band vor, mit Erzählungen, Märchen, Gedichten, geschichtlichen, biographischen, kulturgeschichtlichen, geographischen und naturwissenschaftlichen Aufsätzen, mit Räthseln, Knacknüssen, Spielen u. dergl., endlich mit trefflichen Bildern, darunter vielen farbigen, reichlich ausgestattet, eine Festgabe, die unserer Jugend gewiß nicht minder willkommen sein wird, als dem Alter die „Gesammelten Werke“ von Ottilie Wildermuth.