Onkel Christians sieben Lieben

Textdaten
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Autor: M. v. Dorsner
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Titel: Onkel Christians sieben Lieben
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, 11, S. 312–321, 340–343
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[312]

Onkel Christians sieben Lieben.

Erzählung von M. v. Dorsner.

Es war nach Lilis Hochzeit.

Wir hatten den Neuvermahlten zum Abschied das Geleite gegeben und standen nun auf der Terrasse – Onkel Christian und ich und die Geschwister alle, die von nah und fern gekommen waren zum Ehrentag der Jüngsten, unseres Lieblings. Und nun riefen wir und winkten noch dem entschwindenden Wagen nach, der sie uns entführte – „mit dem letzten Aufgebot aller disponiblen Kräfte“ hatte Bruder Edwin, der Generalstäbler, gerufen, während er lustig eine Serviette im Winde flattern ließ.

Sie waren alle in fröhlichster Stimmung, die Brüder, die Schwestern und Schwäger. Es war ja auch keine Trennung von unserer „Kleinen“; dort drüben auf der Höhe stand das stattliche Herrenhaus, das fortan ihr Heim sein sollte – und ein glückliches Heim, wenn nicht alle menschliche Voraussicht trog. Der lustige laute Nachklang des Hochzeitmahles und seiner schwungvollen Reden war somit berechtigt.

Nur mir ward es weh ums Herz, als ich das Schwesterlein lachenden Mundes an der Seite des fremden Mannes hinausfahren sah in die weite Welt – meine Lili, die ich fünfzehn Jahre lang gehegt und gehütet hatte wie mein Bestes. Ich fühlte, daß sich die Thränen gewaltsam vordrängten, und schlich hinäuf in das Erkerstübchen, um hier, fern von der lustigen Gesellschaft, in dem Raume, den wir all die Jahre gemeinsam bewohnt hatten – das „Kind“ und ich – den Thränen Audienz zu geben und all den Gedanken und Bildern auch, die wehmüthig und still vor meine Seele traten. das Bild des Vaters, der diesen Raum so liebevoll für mich geschmückt hatte, als ich, ein sechzehnjähriges Mädchen, aus dem Pensionat heimkehrte, um die fremde Mutter und das kleine blonde Schwesterchen auf dem Rüdenhof zu finden, und ihr Bild, das Bild der schönen bleichen Frau, welche so hilflos und fremd den ungezügelten Stiefkindern gegenübergestanden. Arme Mutter! So willig nahm sie den stützenden Arm der großen Tochter, und dann so bald, völlig gebrochen durch den plötzlichen Tod des Vaters, neigte sie das Haupt wie eine welkende Blume.

Da kam ihr Bruder, Onkel Christian, ihr zur Stütze, uns allen als Helfer. Seine Klugheit, sein milder Ernst löste jedes Wirrniß, jeden Zweifel, schaffte Ordnung unter den wilden Knaben, hob den Muth der verzagenden Mädchen.

Eines Tages trat er in dies Stübchen. Noch sehe ich ihn, den großen schlanken Mann mit seinen ruhigen und doch so leichten Bewegungen. Schmerzlich bewegt ergriff er meine Hand und führte mich hinab in Mamas Zimmer. Sie rang mit dem Tode, die arme Mutter, und daneben lag blond und rosig die kaum dreijährige Lili in süßem Schlummer! „Wir wollen treu zusammenstehen, Leonore,“ hatte der Onkel in seiner schlichten Art gesagt, „damit das Kind nie empfinde, daß es von früh an verwaist ist.“ Nach meinen besten Kräften habe ich das Gelöbniß gehalten, das ich dann in die erkaltende Hand der Sterbenden ablegte – ich habe Mutterstelle an Lili vertreten und, so gut es ging, an den anderen Geschwistern auch. Doch daß ich dies in meiner Jugend und Unerfahrenheit konnte, das verdankte ich Onkel Christians weisem treuen Rathe. Als unser aller Vormund nahm er sofort die Zügel der Verwaltung in seine feste Hand, im Hause aber ließ er mich schalten, mit unerschöpflicher Geduld unterstützend und belehrend, wo es noth that. Und Haus und Hof gedieh, und die Kinder entpuppten sich! Die jüngeren Schwestern wurden von meiner Seite weggeheirathet, die Brüder schieden einer nach dem anderen aus dem Hause, Edwin ging zur Armee, August auf die Hochschule. Endlich nahmen sie mir auch den blonden Egon, der durch seine zarte Gesundheit und sein weiches Wesen immer besonderer Pflege bedurft hatte.

Dabei flogen die Jahre dahin und nahmen meine Jugend mit sich. Manchmal freilich war es bis an mein Ohr gedrungen, ich sei eigentlich so übel nicht, wenn auch keine Schönheit wie Hilda und nicht so geistreich wie Jette, doch könne ich wohl diesem und jenem gefallen. Bei einem hätte ich das auch leiden mögen, wenn – ja, wenn! Aber ich hatte nicht Zeit zu eitlen Grübeleien. Lili war mir ja geblieben und Onkel Christians häufige Besuche, und die gute taube Miß Wood, die „Reliquie“, wie die Brüder sie nannten. Und dann die Wirthschaft und der zunehmende Briefwechsel! Du lieber Himmel, wo hätte ich da Muße finden sollen zu Jugendträumen, zu Hoffen und Harren? Die Jahre entschwanden auch gar zu schnell in der täglich sich erneuernden Sorge; ganz plötzlich war Lili unter meinen Händen zur holdesten Jungfräulichkeit erblüht, und „ach so bald, ach so balb!“ hatte es Nachbars Fritz entdeckt! Nun hatte ich auch dieses letzte und liebste Kind meiner Sorge ziehen lassen müssen!

Es überkam mich ein Gefühl der Vereinsamung und Leere. Was konnte ich nunmehr beginnen mit meinem verwaisten Leben? Ich trat vor den Spiegel. Mit grausamer Klarheit sagte er mir, daß mit vierunddreißig Jahren das Mädchen eine alte Jungfer ist. Ich bekenne, diese Selbsterkenntniß berührte mich heute unangenehm; so gern hätte ich zurückgreifen mögen nach den entschwundenen Jugendjahren!

[314] Da tönte aus dem Salon, der unter meiner Stube lag, helles Lachen bis herauf in meine Einsamkeit.

„Und Onkel Christian?“ rief ich laut. „Welch abscheuliche Selbstsucht, des treuen Freundes zu vergessen!“

Rasch wusch ich meine verweinten Augen und eilte hinab in die Wohnräume. Ich durchschritt Billardsaal und Empfangszimmer, sie waren leer; aus der Bibliothek jedoch drangen mir laute Stimmen entgegen, die Stimmen der Brüder und Schwäger in lebhaftem fröhlichen Streite, der dann und wann von Egons Tenor und der Schwestern Lachen unterbrochen wurde. Was zankten sie denn? Ich trat ein und hörte Plato citieren, Schopenhauer und Kant, sogar den Thomas a Kempis. Schwager Philipp bat ums Wort, seine Frau hielt sich die Ohren zu, Egon rang die Hände. „Onkel Christian raubt mir meine Ideale!" – mit diesen rasch hingeworfenen Worten beantwortete er meine stumme Frage. Der Onkel aber, ein Fels im Meere, um den die Wogen branden, saß ruhig da, seinen Tschibuk rauchend, und lachte still vor sich hin.

„Um was streiten sie denn?“ fragte ich ihn.

„Um das Wesen der Liebe,“ war seine Antwort, „als wäre es zu ergründen!“

Egon jedoch, gewohnt, mich als Richterin zu betrachten, trat als Kläger vor. „Sag’ selbst, Leonore – Onkel behauptet, siebenmal geliebt zu haben, und jedesmal sei es echte, wahre Liebe gewesen; ist das möglich?“

„Siebenmal? Wirklich geliebt?“ – Onkel Christian lachte laut über mein verdutztes Gesicht.

„Ich theile Egons Ansicht,“ sagte ich. „Denn siebenmal und immer die rechte Liebe – nein, das ist unmöglich!“

„Leonore kann nicht mitsprechen in Liebesfragen,“ riefen im Chore Brüder und Schwäger, und es verdroß mich, daß sie eigentlich recht hatten. Der Onkel hingegen schien höchlich belustigt, ich hatte ihn nie so herzlich lachen hören. „Ich bin geneigt, diesen beiden Idealisten ein Zugeständniß zu machen,“ sagte er. „Möglicherweise war meine Liebe nicht in allen sieben Fällen wirkliche echte reine Liebe – aber ich hielt sie jedesmal dafür, und darauf kommt es schließlich an.“

Wieder erhob sich ein Sturm von Zwischenreden, von zustimmenden und widersprechenden. Schwager Lothars kräftiger Bariton übertönte ihn. „Ich beantrage, daß Onkel Christian aufgefordert werde, die sieben Fälle zu eingehender Betrachtung –“

„Und Belehrung,“ schaltete Edwin ein – „und Belehrung,“ fuhr Lothar fort, „dem versammelten Familienrathe vorzutragen.“

„Einverstanden! Einverstanden!“ erschallte es von allen Seiten. Nur Schwester Hilda sah sich vorsichtig um. „Ja so, die ‚Kleine‘ ist ja verheirathet,“ murmelte sie. Im Nu war die Zuhörerschaft um Onkels Armstuhl gruppiert und gab nicht nach mit Bitten, er solle seine Behauptung von den sieben echten Lieben durch die Erzählung rechtfertigen. Philipp, der Jurist, spielte Gerichtssaal und nahm die Personalien auf, wie er es nannte, während der Onkel lachend mächtige Wolken von sich blies.

„Also zur Sache!“ rief Philipp. „Fall Nummer eins – Name? Alter? Stand?“

„Halt, halt, nicht so rasch!“ rief der solchergestalt Verhörte, „ich muß mich erst besinnen, ‚Fall eins‘ ist lange her. Mein Alter? Etwa vierzehn Jahre. Das ihre ungefähr dreißig.“

Von unserer Heiterkeit oftmals unterbrochen, erzählte er nun launig und mit Humor von der schönen Babette in Prag, die als Ladenmädchen in einer Konditorei diente, wo er, von der Schule kommend, häufig einzukehren pflegte – „zur Magenstärkung, zur ‚Jause‘,“ erläuterte er, „an welche sich allmählich die Liebe knüpfte.“

Egon wollte Einwendungen erheben, Philipp verwies ihm das. „Gar nicht so ungewöhnlich, dieser Weg durch den Magen zum Herzen, mein Junge; mit vierzehn Jahren völlig normal.“

Onkel Christian gab die feierliche Versicherung, daß die Mohnkipfel und andere Herrlichkeiten eine untergeordnete Rolle gespielt hätten von dem Augenblick an, wo er sein Herz entdeckt zu haben meinte. Er schrieb Gedichte an die schöne Babette, brachte ihr Bücher und Blumen – und schon glaubte er sich ihrer Gegenliebe sicher, als er die fürchterliche Entdeckung machte, er selbst oder vielmehr seine Kappe habe als Liebesbote zwischen der Geliebten und dem eigenen Hofmeister gedient! Wilde Wuth erfaßte ihn, er wollte die Verräther und dann sich selbst töten. In Ermanglung eines Revolvers drang er mit dem Lineal auf seinen Nebenbuhler ein und hatte die Genugthuung, aus dessen Nase Blut fließen zu sehen, bevor man ihn selbst, den Rasenden, in sicheren Gewahrsam bringen konnte. „Später hat die ‚Süße‘ wohl Versöhnungsversuche gemacht, allein ich strafte die Falsche, indem ich ihr Gunst und Kundschaft entzog.“

So schloß der Berichterstatter den „Fall eins“ unter lautem Beifall der Herren.

„Hoffentlich war die zweite Liebe ernster,“ meinte Egon.

„Sentimentaler, denn sie fiel in die Zeit des Unterrichts in Rhetorik und Literaturgeschichte. Der Gegenstand war diesmal ein bleiches blondes Nähmädchen, in der ganzen Nachbarschaft als ‚Flick-Milly‘ bekannt. Sie flickte und stopfte auch bei uns allwöchentlich an bestimmten Tagen im sogenannten ‚Wäschezimmer‘. Es war dies eine Bodenkammer, fern vom lauten Treiben des großen Hausstandes, ein stilles Winkelchen, wo sie, die Holde, inmitten von riesigen Schränken und altem Gerümpel thronte, von ganzen Bergen Wäsche umgeben, und wo ich all meine Schiller-, Goethe- und sonstigen Schwärmereien ungestört in ihr ähnungsvolles Herz ergießen konnte. Ihre thränenreichen hellblauen Augen hatten es mir erschrecklich angethan; ich hielt für Schwermuth, was sich meist als Hunger erwies. Doch mich störte das wenig. Abendelang deklamierte ich und las ihr vor; alles war sie mir dabei, bald Gretchen und Klärchen, bald Hero oder Ophelia. Und sie weinte dazu, weinte Ströme von Thränen; nie wieder habe ich so wolkenbruchartig weinen sehen. Je heftiger aber ihre Thränen flossen, desto begeisterter klang mein Pathos, desto würdiger schien mir die Aufgabe, diese schöne Seele heranzubilden durch unsere großen Dichter und meine große Liebe.“

„Onkel, Du spottest!“ unterbrach ich ihn.

„Jetzt liegt mir der Spott allerdings nahe bei dieser Erinnerung, doch damals war es mir fürchterlich ernst. Ich wollte die bleiche Emilie wirklich und in aller Form heirathen! Da machte mein Vater kurzen Prozeß und steckte mich in die Armee.“

„Ein drakonisches Mittel,“ meinte Lothar.

„Sehr klug,“ betheuerte Edwin, „die Kaserne ist eine vorzügliche Kuranstalt für Sentimentalität. Ich wette, ‚Fall drei‘ ist pikant.“

„Pikant? Vielleicht für andere,“ entgegnete lachend der Onkel, „für mich ist er nur albern; eine schauderhafte Blamage.“

„Erzähle! Erzähle!“

„Stellt Euch einen langen scheuen ungeschlachten Burschen von neunzehn Jahren vor, aus einem verträumten Studentendasein in das flotte Leben eines Kavallerieregiments versetzt, wohlgemerkt: im vormärzlichen Ungarn, von dessen jubelnder berauschender Gastfreundschaft man sich heute keinen Begriff mehr machen kann. Auf mich wirkte es anfangs verblüffend; ich ließ mich gleich einer Marionette von den Kameraden hin und her schieben, zu den dienstlichen Vorstellungen wie zu den Besuchen in der Nachbarschaft. Bald genug jedoch regte sich das Soldatenblut in meinen Adern. Der ritterliche Geist, die schöne Kameradschaft, die Eleganz des Lebens verfehlten nicht, mit mächtigem Zauber auf mein leicht erregbares Gemüth zu wirken. Ich schloß mich warm an die neuen Freunde an, ihre Gesinnungen und Ansichten wurden die meinigen und mein ganzes Bemühen ging dahin, es ihnen auch in der äußeren Form gleichzuthun.

Es gab viele Edelsitze in der Nachbarschaft, wo die Gastfreundschaft fast noch überholt wurde von der Leichtlebigkeit; es gab hübsche Mädchen und allerlei Liebeshändel, deren durchsichtige Schleier von den unzarten Händen der Kameraden mehr oder minder gelüftet wurden, wenn wir an langen Abenden in der Garnison beisammen saßen. Ich horchte mit steigender Aufregung; so sehr ich mich auch bemühte, meine Neigung für die blonde Näherin vor den Freunden aufzubauschen, so erkannte ich doch mit Beschämung, daß ich eigentlich nichts Rechtes erlebt hatte. Diesem Mangel mußte schleunigst abgeholfen werden; ich sah mich in allem Ernste nach dem würdigen Gegenstand um, dem auch ich eine so stürmische Liebeserklärung hätte machen können wie etwa die, von denen der Rittmeister erzählte.

Da traf es sich glücklich, daß die Frau unseres Majors durch ein Avancement ihren glühendsten Verehrer einbüßte. Sie galt als eine Schönheit ersten Ranges – allerdings schon seit einer Reihe von Jahren! Für mich war sie die verkörperte Juno und sie imponierte mir gewaltig. ‚Versuche Dein Glück,‘ rieth einer der Freunde, ‚bist ja ein gefährlicher Schwerenöther!‘

[315] So versuchte ich denn mein Glück, und siehe da, die schöne Frau ermunterte huldvoll die schüchternen Versuche, meiner glühenden Verehrung Ausdruck zu geben.

‚Besuchen Sie mich öfter,‘ hatte sie gnädig gesprochen, in Erwiderung stummer, vermuthlich allzu beredter Blicke. So ritt ich denn hinüber nach der Stabsgarnison so oft ich nur konnte. ‚Nun?‘ fragten spöttisch die Kameraden, wenn ich erschöpft von dem weiten Ritte heimkam. Aber ich konnte immer nur durch die Beschreibung des Soupers ihren Neid erregen. Kein neues Zeichen ihrer Huld, keine Gelegenheit zu meiner kühnen, wohl vorbereiten Liebeserklärung!

Eines Tages – ich wußte den Major auf einer Dienstreise – ritt ich trotz eines schneidenden Herbstwindes wieder hinüber, in scharfem Trabe. Im Geiste sah ich mich schon auf den Knien vor der göttlichen Irene, sah ihren schmachtenden Blick, ihr huldvolles Lächeln – mir schwindelte! Wer beschreibt aber die Enttäuschung, die mich an der Thür der Angebeteten empfing – die gnädige Frau sei leidend, hieß es. Schon war ich wieder im Sattel und wollte in stummer Verzweiflung meinem Pferde die Sporen geben, da, zur guten Stunde, erschien das Kammerkätzchen.

‚O, den Herrn Lieutenant würde die gnädige Frau schon empfangen; die Migräne hat nachgelassen. Wenn der Herr Lieutenant eine Tasse Thee im Boudoir ...‘

In sehr gehobener, aber keineswegs behaglicher Stimmung folgte ich der niedlichen Führerin in das magische Halbdunkel des Heiligthums, wo die Majorin hingegossen lag, von dem knisternden Kaminfeuer à la Rembrandt beleuchtet. Die halbgeschlossenen Lider, der leidende Ausdruck des klassischen Gesichts, das wie gemeißelt auf dem dunklen Sammetkissen des Diwans ruhte, das alles erhöhte den bezaubernden Eindruck. Und als jetzt die schmale weiße Hand sich müde emporhob, um mich heranzuwinken, da war ich so befangen, so erregt, daß ich kein Wort hervorbrachte.

Ich begann denn sogleich mit der Einleitung zu meiner wohleinstudierten Erklärung – ich ließ mich auf ein Knie nieder, die schöne Hand zu küssen.“

„Sehr effektvoll,“ lobte Edwin. „Nun kommt das huldvolle Lächeln, der schmachtende Blick ...“

„So wäre es ohne Zweifel gekommen, wenn mein Schleppsäbel es nicht für gut befunden hätte, sich im entscheidenden Augenblick zwischen meine langen Beine zu stecken. Das verursachte einen Heidenlärm und überdies eine schwankende Bewegung meines Oberkörpers, die eine irrige Auffaffung meiner Kniebeugung veranlaßte – als sei sie nicht ganz freiwillig gewesen. Es traf mich ein strafender Blitz aus den Augen der göttlichen Irene, dem ein spöttisches Lächeln folgte. Nun stand ich, ein Bild des Jammers, erröthend da während der feierlichen Schwertentgürtung, bei welcher mir die Zofe, die eben wieder eintrat, mit einem nichtswürdig verständnißinnigen Gesicht Hilfe leistete. Dann schob die Kleine einen Lehnsessel an das Ruhebett der Herrin, was mir vollends alle Fassung raubte – war es denn auch schicklich, dieses nahe Zusammensein? Und dann lispelte die Majorin Fragen, die ich durchaus nicht verstehen konnte, ich – nach einigem Räuspern – machte schüchterne Versuche, allerlei Geschichten, die ich unserem Witzbold abgelauscht hatte, amüsant vorzutragen – umsonst! Ich hatte überall die Pointe vergessen!

Meine Befangenheit steigerte sich bedenklich; ich fühlte die Schweißtropfen auf der Stirn. Da – gottlob, ein Gepolter an der Thür! Ein reichgedecktes Tischchen wird an das Lager der Herrin geschoben. Das Kammermädchen reicht den Thee; die Bewegung um uns giebt mir die Haltung wieder.

Beim Anblick des kalten Hahnes und sonstiger Leckerbissen werde ich mir auch meines Hungers bewußt ich lasse es mir angelegen sein, den ermunternden Aufforderungen der schmucken Zofe zu genügen, und da meine schöne Wirthin die Augen geschlossen hält, sind mir für eine Weile die Qualen der Unterhaltung erspart. So schlürfe ich denn meinen Thee mit steigendem Wohlbehagen, er duftet köstlich. Dazu die angenehme Wärme, der bequeme Lehnsessel, die heimliche Stille, die dämmerige Beleuchtung – das Gefühl des Behagens wird immer mächtiger – weltvergessener – lautloser – –

Da, plötzlich, ein sonderbarer schnarrender Laut! Ums Himmelswillen, wo war ich denn? – Hatte mein Kopf nicht da auf dem Tische gelegen? War nicht ich der Urheber dieses sägenden Geräusches? Entsetzt schnellte ich in die Höhe. Ja, bei allen Heiligen, ich hatte geschlafen! Wie lange, das wußten die Götter und vielleicht die Frau Majorin, die mit höhnischem Lächeln bemerkte: ‚Süß geträumt, Herr Lieutenant?‘ Wie von den Furien getrieben, stürzte ich aus dem Zimmer, die Treppe hinab, nach dem Stalle – ‚und Roß und Reiter sah man niemals wieder!‘“

Unter zunehmender Heiterkeit der Znhörer hatte Onkel Christian seine Erzählung beendet und stimmte nun mit ein in das schallende Gelächter der Herren. Nur Egon blieb ernst. „Das ist doch nicht Liebe,“ meinte er kopfschüttelnd, und ich konnte nicht umhin, ihm beizustimmen.

„Bisher ist es Scherz,“ erklärte Schwester Jette, die sich etwas einbildete auf ihre Menschenkenntniß. „Doch paßt auf, nun kommt eine echte rechte Liebe! Ich habe beobachtet, daß Männer zwischen zwanzig und dreißig am tiefsten empfinden. Nicht wahr, Onkel, dem leichten Geplänkel des Jünglings folgte der ernste Kampf des Mannes?“

„Was nun folgte, war allerdings ein ernster Kampf, darin magst Du recht haben, Jette, ja es war eine wahnsinnige Neigung, und dennoch würde sie wohl vor Egons Richterstuhl nicht als echte rechte Liebe bestehen.“

„Ja, so ein kolossaler Aufwand von Empfinden ist nicht immer auch echte Liebe,“ bemerkte August.

„Das war’s, Du hast die richtige Bezeichnung gefunden, August – ein kolossaler Aufwand von Empfinden, an ein Wahngebilde meiner Phantasie vergeudet! – Es ist eine peinliche Erinnerung, ich wollte lieber davon schweigen.“

„Vielleicht nicht für Damenohren ‚Fall vier‘?“ nahm Edwin das Wort. „Ich beantrage Räumung der Galerie! Leonore, Hilda, Egon mögen ausgewiesen werden.“

Mit einem Schrei der Entrüstung wandte sich die Schwester gegen den „empörenden Antrag“.

Onkel Christian lachte herzlich. „Beruhige Dich, Hilda,“ sagte er. „‚Fall vier‘ ist entschieden weniger interessant als das Vorangegangene.“

„Aha, Du möchtest Dich um die Sache herumreden, Onkel! Aber jetzt kenne ich erst recht keine Gnade – heraus mit der Sprache!“ rief Hilda nachdrücklich.

„Onkel, wenn Du doch beginnen wolltest und Dich nicht unterbrechen ließest ...“

„Wie? Auch Du, Leonore? Auch Du willst die unsinnige Geschichte hören? Nun gut, Euer Wunsch sei mir Befehl. So hört denn! Zu Beginn des Jahres 1848 lag mein Regiment in einem der größeren ungarischen Städtchen, das von deutscher Kultur wohlthuend berührt war. Unter anderen Vorzügen besaß es auch ein ganz nettes deutsches Schauspielhaus ...“

„Ha!“ rief Lothar luftig, „ich wittere Coulissenluft.“

„O weh!“ seufzte August verständnißinnig, „eine Sirene von der Bühne! Armer Onkel!“

„Und eine der gefährlichsten ihrer Gattung,“ bestätigte dieser, „denn sie wußte sich mit einem Heiligenschein von Sittenstrenge zu umgeben, überdies mit geheimnißvollen Gerüchten über stolze Herkunft ...“

„Man kennt das – Leim, an dem die fetteste Beute hängen bleiben soll,“ brummte August.

„Beim Zeus, Du hast recht,“ gab Onkel Christian lachend zu, „darauf war es abgesehen; ein reicher Gatte sollte sich in dem Garne fangen. Damit hatte das aber in jener Zeit für eine Bühnenheldin größere Schwierigkeit als heutzutage. So suchte denn Julia – diesen Namen wollen wir ihr geben – das Unwahrscheinliche durch einen ungeheuren Aufwand von Tugendreklame wirklich zu machen. Sie führte einen förmlichen Hofstaat von Anstandsdamen mit sich; ‚das Corps der Rache‘ nannten wir diese Garde von alten Jungfern, die stumm und starr und steif sich auf feindselige Blicke beschränkten, wenn man wagte, ihrer Schutzbefohlenen zu nahen. Diesen Wächterinnen des Paradieses spielten wir Possen, wo wir nur konnten; dennoch imponierte uns die Sache und erhöhte durch den Reiz der Unnahbarkeit den Zauber von Julias Erscheinung.“

„War sie sehr schön?“ fragte ich neugierig.

„Ja, das war sie, eine äußerst schlanke Gestalt, fast etwas zu groß für die Bühne, aber in vollstem Ebenmaß gebaut; [316] das Antlitz von klassisch strenger Schönheit der Linien, eine Fülle dunkelblonder Flechten, welche diademartig das feine Köpfchen umrahmten. Sehr merkwürdig waren ihre Augen, hellbraun, genau in der Farbe der Haare, von langen schwarzen Wimpern beschattet. Julia zwinkerte mit den Lidern, wie Kurzsichtige zu thun pflegen, und hatte die Gewohnheit, von unten herauf durch den Schleier der dunklen Wimpern zu schauen, was dem Blicke etwas ungemein Berückendes verlieh. Wahrhaft vornehm war ihr Gang, ein stolzes Schweben, und die edle Ruhe ihrer Bewegungen, ihre anmuthige Würde – ja, sie war sehr schön – und ich war sehr jung.“

„Mildernde Umstände, die wir gelten lassen wollen,“ sagte Philipp. „Wenn sie dazu noch schauspielerische Begabung besaß, so will ich sogar unbedingt auf Freisprechung antragen.“

„Schauspielerische Begabung? Nein, die besaß Julia nicht. Auf der Bühne entzückte sie das Auge, allein ihr Spiel ließ kalt. Es fehlte ihr nicht an einer gewissen Routine, aber vollständig an Wärme der Empfindung und selbstloser Hingabe an ihre Rolle.“

„Eine Komödiantin, keine Künstlerin,“ schaltete Edwin ein.

„So war es. Doch davon überzeugte ich mich erst viel später. Als ich sie kennenlernte, galt mir Julia für eine Künstlerin von Gottes Gnaden; und nicht mir allein – das Publikum in meiner Garnison vergötterte sie. Der Direktor hatte nie so volle Häuser gesehen wie zur Zeit ihres Gastspiels, das sich denn auch, zur allgemeinen Befriedigung, ins unendliche ausdehnte.

Julia hatte Empfehlungsbriefe an mehrere der angesehensten Familien mitgebracht. Da sie gefällige Umgangsformen, Bescheidenheit und Zurückhaltung im Auftreten besaß, so konnte es nicht fehlen, daß sie bald in vielen Häusern als gern gesehener Gast verkehrte. Meine Kameraden wetteiferten mit den jungen Herren des Komitats, ihr Huldigungen darzubringen; Julia nahm diese freundlich hin, doch mit der ihr eigenen, kühlen Vornehmheit, welche die Uebermüthigsten in Schranken hielt.

In Gesellschaft erschien sie nur an der Seite einer stattlichen Matrone, die sich Madame Helonin nannte. und von Julia mit einer gewissen Absichtlichkeit als ihre ‚Pathin‘ bezeichnet wurde. Auch Madame gefiel allgemein, schon durch ihr schönes Französisch, in zweiter Linie durch ihre ehrwürdigen Locken. Die Frau galt als Respektsperson, und mit geheimnißvollen Andeutungen wußte sie den Glauben an Julias ideal angelegte Natur wesentlich zu bestärken, ein Glaube, der in meinem Herzen rasch zum unantastbaren Dogma wurde.

Als mein Regiment im Mai jenes ereignißreichen Jahres die Bestimmung erhielt, nach Italien zu marschieren, war ich besinnungslos verliebt in die schöne Julia, die mich aber zu meinem namenlosen Leide kaum beachtete. Ich betete sie an wie eine Heilige. wie ein höheres Wesen!

Im ganzen Regiment herrschte Jubel über die Aussicht, unter Vater Radetzky das Schlachtfeld zu betreten; dennoch schieden wir ungern aus der Gegend, wo wir frohe Gastfreundschaft genossen hatten. Man sah auch uns ungern scheiden, und so wurde dem gegenseitigen Abschiedsschmerz in zahllosen Festen Ausdruck gegeben, von denen mich jedes mit Julia zusammenführte und jedes von neuem in dem Schmerze zurückließ, von ihr übersehen worden zu sein. An einem der letzten Tage vor unserem Ausmarsch vereinigte ein besonders großartiges Abschiedsfest das ganze Offizierscorps und alle Honoratioren des Komitats. Erlaßt mir die Beschreibung von Illumination und Feuerwerk, von dem Ständchen, dessen ich mich nur verworren entsinne. Genau weiß ich, daß wir tanzten bis zum grauenden Morgen, und schließlich versammelte man sich noch zu einem improvisierten Frühstück.“

„Natürlich, die Krautsuppe,“ warf Edwin dazwischen, „das ungarische Mittel gegen Katzenjammer!“

„Ueber das Menu jenes Frühstücks weiß ich wahrlich nicht mehr Bescheid, ich hatte nur Augen für Julia, die mir gegenüber saß und deren stolze Schönheit auch gegen das fahle Licht der Morgendämmerung gefeit schien. Sie war ungemein lebhaft, die Augen schillerten in grünlichem Lichte. Auch die Stimme klang nicht weich und gedämpft wie gewöhnlich; mit scharfer Betonung kamen die Worte über die zusammengepreßten Lippen. Nicht einmal in ihren bewegtesten Rollen hatte ich Julia so leidenschaftlich erregt gesehen. Eine Ahnung sagte mir, man habe ihr wehgethan, und ich litt unsäglich bei dem Gedanken, sie nicht schützen, nicht trösten zu dürfen. In blöder Einfalt ahnte ich nicht, was die Verstimmung veranlaßt hatte.“

„Euer Ausmarsch mochte ihr leid thun,“ meinte Hilda.

„Vielleicht,“ entgegnete der Onkel mit halbem Lächeln. „Möglicherweise war die Verstimmung auch durch die Verlobung eines reichen Magnaten hervorgerufen, der seine Bewunderung für die schone Jülia ziemlich auffällig zur Schau getragen hatte; um so überraschender war es, als er zu jenem Feste an der Seite einer glückstrahlenden Braut erschien, der lieblichen Tochter eines Aristokraten.

Selbstverständlich bildete das große Ereigniß den Gesprächsstoff in allen Gruppen, auch an dem Tische, wo Julia mit einer ihrer Freundinnen inmitten einer fröhlichen Schar getreuer Verehrer thronte. ‚Ich würde den Grafen nur unter einer Bedingung genommen haben,‘ sagte jene Freundin, eine vorlaute, mir unangenehme Dame, ‚– er hätte mir seinen Vollbart opfern müssen. Sieht er doch aus, als trüge er die Perücke am Kinn.‘ Die Bemerkung war treffend, alle lachten, nur Julia entgegnete bitter: ‚Wie jung, wie naiv Du doch bist, wenn Du meinst, ein Mann sei zu solchem Opfer bereit! Keiner liebt stark genug, daß er auch nur ein Haar opferte.‘

Stürmischer Widerspruch folgte diesen Worten; ein jeder beeilte sich, überzeugende Beweise seiner oder auch fremder Opferwilligkeit zu erzählen. Ich konnte nichts sagen; der herbe Ton in Julias Rede schnürte mir das Herz zusammen. Was mußte sie leiden, um so bitter zu urtheilen! Da blitzte ein Gedanke durch mein überspanntes Gehirn! Es sollte ihr eine Genugthuung werden – um jeden Preis. Ich schlich davon – und so rasch, als dies ein verschlafener Haarkünstler zu besorgen vermochte, ward die Idee zur That – der Stolz meiner zwanzig Jahre, mein Schnurrbart war gefallen.“

„Ausgezeichnet! Glänzend! Famos!“ riefen Brüder und Schwäger im Chor.

„Als ich klopfenden Herzens den Saal wieder betrat, stand Julia im Begriff, ihn zu verlassen; lachend und scherzend umringte sie die Schar der Getreuen. Ich drängte vor – das Knie beugend, überreichte ich ihr die nicht ganz gewöhnliche Siegestrophäe auf der Säbeltasche. Der Erfolg war ungeheuer. Man schrie, man johlte und tobte. Julia jedoch blickte stumm und sichtlich überrascht auf mich nieder. ‚Der ist wohl ein edler Ritter,‘ sagte sie mit bewegter Stimme. Mir tief in die Augen sehend, neigte sie sich erröthend langsam herab – und flüchtig berührte ihr Mund meine Stirn. Alsbald faßten mich die Kameraden, hoben mich auf ihre Schultern, und ich entkam ihnen erst, als Julia längst entschwunden war.

Am nächsten Morgen – der Rausch der Begeisterung lag mir noch in allen Gliedern – erhielt ich Botschaft von ihr, die Bitte, sie vor dem Abmarsch zu besuchen. Ob meine Füße wohl den Boden berührten, als ich damals zu ihr flog? Nie wieder im Leben war ich so selig und so befangen wie in jenem Augenblick, da ich vor ihr stand, und doch war es zum Scheiden. Ihre rosigen Finger befestigten ein Amulett an meinem Halse – ‚Es möge Sie beschützen,‘ flüsterte sie, ‚wie meine Gebete Sie begleiten!‘ Dann bat sie mich, ihr manchmal Nachricht zu geben. ‚Ich bin nicht gewillt, meinen ritterlichen jungen Freund sogleich aus den Augen zu verlieren, da ich ihn kaum gewonnen habe,‘ sagte sie mit schmerzlichem Lächeln – und ich war entlassen.“

„Wie, so ohne weiteres? Ohne Abschiedskuß?“ fragte Lothar, einigermaßen enttäuscht.

„Ich hatte kaum gewagt, ihre Fingerspitzen zu berühren, so hoheitsvoll stand sie vor mir – eine Königin, eine Gottheit in meinen Augen! Ueberdies, die ganze ‚Garde‘ war zu diesem Empfang mobil gemacht worden; ein halbes Dutzend, saßen sie da wie Spinnen! Im Kreuzfeuer dieser lauernden Blicke brachte ich keinen Laut aus der Kehle. Ohne Worte nahm ich Abschied; aber dann schrieb ich um so mehr auf dem Marsche, im Biwak, vor dem Feiude – überall fand ich Muße und ein Stückchen Papier, mein übervolles Herz, meine ganze Seele auszuschütten.

Nach Jahren habe ich diese Briefe wiedergelesen; da konnte ich mich nicht genug wundern, wie ich es vermocht hatte, einer Frau, mit welcher ich kaum einige Worte gewechselt, einer Unbekannten, ich möchte sagen einem Gebilde meiner Phantasie, so ohne weiteres mein geheimstes Denken zu enthüllen ..."

[318] „Schade um die schone Begeisterung!“ brummte August.

„Schade, wahrhaftig!“ stimmte Onkel Christian bei, „schade auch um all die Aufzeichnungen, die philosophischen Betrachtungen, die ich – wie oft beim flackernden Scheine des Lagerfeuers! – für jene Unwürdige niederschrieb, für jene falschen Augen, die nichts darin zu lesen wußten als Fingerzeige, um sich meiner vollends zu bemächtigen ...“

„Aber sie – Julia – sie schrieb doch auch?“ rief Hilda gespannt.

„Gewiß, sie schrieb auch – flüchtige Antworten, meist in wenigen Zeilen, dennoch wahre Kabinettstücke von Schlauheit und Koketterie, die nichts sagten und doch genug errathen ließen, um meine Neigung stets neu anzufachen und mich zu rückhaltslosem Aussprechen zu ermutigen.“

„Nun bin ich aber doch neugierig auf die dramatische Schürzung oder Lösung des Knotens!“ sagte Edwin. „Ihr habt Euch hoffentlich wiedergesehen?"

„Ja, nach qualvoll langer Zeit, nach einem Jahre haben wir uns wiedergesehen, in Venedig, und zufällig, wie ich glaube.

Mein Regiment verließ damals Italien mit der Bestimmung, nach einer deutschen Garnison überzusiedeln. Julia, noch immer ohne festes Engagement, schlug selbst vor, wir sollten uns während des Marsches irgendwo in Kärnten oder Steiermark begegnen. Freudig stimmte ich bei, ohne zunächst eine nähere Nachricht zu erhalten. Eines Tages schloß ich mich einigen Kameraden an, die, eine kurze Rast in Udine benutzend, nach der Lagunenstadt hinüberfuhren. Im dortigen Theater spielte eine gute Truppe; die Gefährten wollten die Aufführung besuchen, während ich es vorzog, den Mondschein zu genießen. Träge blieb ich in der Gondel liegen, die uns zur Piazetta gebracht hatte. Es war eine jener bezaubernden Nächte, wie man sie in Venedig erlebt – ringsum alles still, nur ab und zu der leise Ruderschlag eines vorbeigleitenden Schiffchens.

Plötzlich ward es laut oben auf der Piazetta; ich erkannte die Stimmen der Freunde – sie riefen meinen Namen, doch ich rührte mich nicht.

Da schlug ein Laut, ein leises Lachen an mein Ohr und rüttelte mich auf. Mit einem Satze stand ich an der Treppe, auf deren oberstem Absatz jetzt eine Frauengestalt sichtbar wurde. Julia war’s! Sie schwebte die Stufen herab, bis ihre Hand meine Schulter berührte. ‚Mein edler Ritter!‘ hauchte ihr Mund, und wieder wie damals neigte sie sich langsam vor, mir tief ins Auge sehend. Ich hatte ihre Hand erfaßt, und im Taumel des Augenblicks würde ich sie wohl mit beiden Armen umfangen haben, wären die anderen nicht hinzugetreten, Madame Helonin und die Freunde. Diese hatten die beiden Frauen in einer Loge des Theaters entdeckt, und nach lebhafter Erkennungsscene waren sie gemeinsam ausgezogen, mich zu suchen. Nun blieben wir in der herrlichen Mondnacht auf dem Markusplatz beisammen bis lange nach Mitternacht, aber zu einem ungestörten Gespräch mit Julia ergab sich keine Gelegenheit. Und schon am nächsten Morgen mußte geschieden sein! Doch es war ein fröhliches Scheiden, denn ich hatte berechtigte Hoffnung, daß wir uns in Bälde in Wien treffen würden. Julia hatte bereits ihren Vertrag mit einer Bühne dort unterzeichnet, und ich war dem Inhaber unseres Regiments als Adjutant vorgeschlagen, dem alten Fürsten J., der nur in der Residenz zu existieren vermochte.

Dieses unerwartete Wiedersehen in Venedig hinterließ bei mir sehr getheilte Empfindungen. Es hatte mir zum Bewußtsein gebracht, wie fremd wir einander doch innerlich waren, Julia und ich, wie auch der rege Briefwechsel die Kluft keineswegs überbrückt hatte. Das betrübte mich. Andererseits fühlte ich mit Befriedigung, daß wir in einer Beziehung die Rollen getauscht hatten: ich hatte an Sicherheit des Auftretens gewonnen – wie ich meinte, auch an Besonnenheit und Erfahrung – während sie jetzt befangen mir gegenüberstand, zaghaft und scheu, wie ich sie früher nie gesehen hatte.“

„Ein Zeichen von echter Neigung,“ bemerkte Edwin.

„So deutete auch ich es; allein dem Jubel, der mich darob erfüllte, gesellte sich eine unbestimmte Bangigkeit vor der Zukunft. Was sollte werden? Seit der erneuten Begegnung schien Julia mir erst recht unfaßbar – wie ein Phantom.

Ich holte ihre Briefe hervor, die ich all die Jahre gehütet hatte wie mein bestes Kleinod; indessen als ich nun ihr Herz daraus ergründen wollte, wurde ich mit peinlichem Erstaunen gewahr, daß sie fast nur abgebrauchte Redensarten enthielten. Da war von ‚Verwandtschaft der Seelen‘ die Rede, von einer ‚Fügung des Himmels‘, die unser Schicksal ‚für ewig zusammengekettet‘, und dergleichen mehr. Aber nichts, nicht ein Wort, das mich auf ihr Gemüthsleben, ihre Lebensanschauungen, auf ihr eigentlichstes Wesen hätte schließen lassen! Ach, erlaßt mir den Rest – es ist eine peinliche Erinnerung!“

Ein Murren ging durch die kleine Versammlung. „Wir haben zuviel gehört, um auf den Rest verzichten zu können,“ nahm Jette das Wort. „Wir wollen wissen, wie Du entkamst ...“

„Ich entkam eben nicht ...“

„Wie, Onkel Christian, Du entkamst nicht?“

„Eigentlich nein, Leonore! Die Schlinge zog sich unaufhaltsam zu – nur äußere Umstände halfen dann, sie zu lösen.“

„Wie kam das? O bitte, erzähle!“

„So hört denn! Nachdem ich glücklich als Adjutant in Wien eingetroffen war und so die Möglichkeit hatte, Julia häufig zu sehen, rechnete ich auf einen ehrlichen unbehinderten Gedankenaustausch; denn gotttob, die ‚Garde‘ war entlassen, und Madame nahm es mit der Pflicht des Hütens auch leichter als vor Jahren. Allein nun begann erst meine Qual.

Ich liebte Julia, glaubte auch an ihre Neigung, und doch mußte ich schmerzlich jedes Vertrauen ihrerseits vermissen, jedes aufrichtige verständige Eingehen auf meine Eigenart, was mir unumgänglich nöthig schien, um unsere Beziehungen wirklich innig zu gestalten.

Bald wußte ich, daß sie keineswegs dem Ideal entsprach, das ich von meiner Lebensgefährtin im Herzen trug. Ihre Unaufrichtigkeit verletzte mich aufs empfindlichste, auch andere Charakterzüge mißfielen mir und beunruhigten mich. Noch maß ich alle Schuld dem bösen Einfluß von Madame Helonin zu, deren gemeine Natur sich allmählich mit Behagen enthüllte. Sie ließ es Julia entgelten, daß deren Talent in Wien keine Anerkennung fand; ihre Verstimmung und Streitsucht schufen eine schwüle Luft in dem öden Heim der beiden Frauen. Zudem nahm Julias Reizbarkeit zu mit ihren Mißerfolgen. Trotzdem sah ich mit offenen Augen zu, wie die Maschen des Netzes der intriguanten Frau sich enger und enger um mein Haupt zusammenzogen. Es fehlte mir an Muth, an entschlossener Ueberzeugung, um der Gefahr rechtzeitig zu entfliehen. – Du zuckst verächtlich die Achsel, Edwin? Was willst Du Freund! Ich liebte und wähnte mich wieder geliebt!

Eines Tages kam ich unerwartet in die Wohnung Julias und wurde Zeuge eines widerlichen Streites zwischen den beiden Frauen. Bevor sie auf meinen Zuruf acht gaben, hatte ich Vorwürfe, Schmähungen und Ausdrücke vernommen, wie sie einer feinfühligen Natur völlig unwürdig waren. Madame Helonin tobte, und als sie mich erblickte, kehrte sich ihre Wuth alsbald gegen mich.

‚Sie sind schuld, Sie allein, an der Undankbarkeit dieser Kröte!‘ schrie sie. ‚Sie will jetzt ihre eigenen Wege gehen, sie wird schon sehen, wo das endet und wie ihr edler Ritter sie in der Patsche stecken läßt. Was wollen Sie eigentlich von ihr? Sie haben ihr Herz geraubt, ihr Talent ist gelähmt durch diese blöde Liebe – nun, und was soll’s?‘ Ich stand starr vor diesem wilden Ausbruch häßlicher Wuth, da warf sich Julia an meine Brust. ‚Retten Sie mich - errette mich von diesem Dämon!‘ flehte sie. Das entschied.

Noch am selben Abend reiste ich nach Prag, um die Einwilligung meiner Eltern zu erflehen.“

„Herrje! Soweit ist es gekommen?“

„Nein, gottlob – es kam doch nicht soweit; dieser Schlag sollte meinem armen Vater erspart bleiben, um einen schweren Preis allerdings – seine Erkrankung band mir die Zunge. Dennoch sage ich ‚gottlob!‘ Denn in jenen bangen Tagen, welche ich mit meiner Mutter in schwerem Kummer an seinem Krankenlager verbrachte, erfuhr ich erst recht, wie sehr das Herz des strengen Mannes an mir hing, welche Hoffnungen er in meine Zukunft setzte; und ich sah wohl ein, daß sein hochmüthiger starrer Sinn nie einwilligen würde, sich diese Tochter zuführen zu lassen. Und war denn Julia dessen auch würdig? Wieder und wieder trat diese Frage in der trostlosen Stille jener Tage vor mein inneres Auge, und ich wagte nicht, sie zu bejahen. Des Vaters Geist blieb umnachtet, selbst als endlich Besserung des körperlichen [319] Befindens eintrat; unverrichteter Sache kehrte ich nach Wien zurück und wurde von Julia nicht eben freundlich empfangen.

Mittlerweile hatte ich meine Volljährigkeit erreicht. Der erste Akt, durch welchen ich meine Selbständigkeit bethätigte, war – eine bedeutende Wechselschuld einzugehen. Ja, wundert Euch nur! Das sieht dem alten pedantischen Onkel nicht ähnlich, nicht wahr? Allein ich wollte um jeden Preis Julia eine unabhängige Stellung schaffen, damit sie sich von der Bühne und der Bevormundung von Madame Helonin losmachen könnte; ich hoffte alles, eine völlige Umgestaltung ihres Wesens von dieser doppelten Befreiung. Das arme gequälte Mädchen hatte mir eingestanden, daß die Erkenntniß ihrer Talentlosigkeit ebenso theil habe an ihrer Verstimmung wie Madame Helonins Tyrannei.

Meine Absicht ging dahin, Julia in eine jährliche Rente einzukaufen und ihr so für alle Fälle ein anständiges Einkommen zu sichern. Merkwürdigerweise stieß ich damit auf Hindernisse bei den Frauen – die nöthigen Schriftstücke waren nicht aufzutreiben. Da es sich zunächst um Julias Taufschein handelte, glaubte ich zuerst an ein Widerstreben ihrer weiblichen Eitelkeit; schließlich besann ich mich auf jene Gerüchte, die seinerzeit über Julias Herkunft umgegangen waren, und wandte mich an Madame Helonin. Die leeren Ausflüchte dieses Weibes und Julias Verwirrung bestärkten meine Ueberzeugung, daß sie mir etwas verheimlichten. Madame zeterte gegen die Leibrente, sie wollte das Kapital in ihre Gewalt bekommen; davon konnte selbstverständlich nicht die Rede sein.

Diese Augelegenheit und der Umstand, daß ich eine öffentliche Verlobung während meines Vaters Krankheit rundweg verweigerte, hatten eine böse Spannung in unsere Beziehungen gebracht. Julia grollte, und ich verhehlte ihr nicht, daß ich erwartet hätte, in meinen Bemühungen um ihre Zukunft besser von ihr unterstützt zu werden.

So stand es um uns, als der Tod meines armen Vaters mich wieder nach Prag berief – diesmal zu langem Aufenthalt. Als einzigem Sohne lag mir die Ordnung der geschäftlichen Angelegenheiten ob, wodurch ich in Prag und auf unserer Besitzung zurückgehalten wurde.

Es war im Frühjahr 1851, als ich nach Hartenberg ging, nun der ‚neue Herr‘. Die Beamten hatten mir einen feierlichen Empfang bereitet und erwarteten meine Ankunft an der Freitreppe im Schloßhof. Es waren meist alte treue Diener meines Vaters, die ich seit früher Jugend kannte; nur ein fremdes Gesicht fiel mir auf, das des neuen Oberförsters. Es fiel mir besonders auf – durch eine Aehnlichkeit mit Julia: helle Augen blickten von unten durch dunkle lange Wimpern. Ich frug nach seinem Namen – Theobald Fischer. Julias Familiennamen hatte allerdings einen polnischen Klang, doch nahm ich mir vor, gelegentlich nach etwaigen Angehörigen des Oberförsters zu forschen.

An einem der nächsten Tage wanderte ich nach dem Forsthaus; die Thür stand offen, ich trat ein, mußte aber bis zur Küche vordringen, um auf ein menschliches Wesen zu stoßen. Dort hantierte am Herdfeuer mit Pfanne und Kochlöffel ein ältliches hageres Frauenzimmer, in welchem ich sofort eine von Julias Anstandsdamen aus dem ‚Corps der Rache‘ erkannte. Sie hieß mich in die Stube treten, der Bruder müsse jeden Augenblick kommen. ‚Sie sind des Försters Schwester?‘ fragte ich. ‚Ich glaube, Sie vor Jahren in C. gesehen zu haben ...‘ ‚Also haben mich Euer Gnaden doch erkannt?‘ rief sie. ‚Ich hab’ mir’s gleich gedacht und hab’ zum Theobald gesagt: gieb acht! hab’ ich gesagt, der gnädige Herr wird kommen nach dem Julerl zu fragen. Ja, aber leider weiß ich nichts von ihr, seit wir in München auseinander gegangen sind. Ich denke, sie wird wohl den amerikanischen Zahnarzt geheirathet haben, mit dem sie damals halb und halb verlobt war ...‘

Mein lautes heiseres Lachen, über welches ich ebenso erschrak wie die weiland Anstandsdame, unterbrach den Redeschwall, doch nur für Sekunden.

‚Der Theobald ist nur mein Stiefbruder, denn ich und die Schwestern sind von der ersten Ehe des Vaters, nur der Theobald und das Julerl sind die Kinder von der Stiefmutter – Euer Gnaden wissen von der Madame Helonin, der zweiten Frau vom Vater ...‘

‚Wie, was?‘ schrie ich, durch diese Nachricht um alle Fassung gebracht. ‚Madame Helonin Iulias Mutter?‘

‚Ja freilich, sie ist die rechte Mutter des Julerl. Sie war Bonne bei der Herrschaft, wo mein Vater Portier war, und wie die Mutter – die erste Mutter – gestorben ist ...‘ so plapperte das Geschöpf noch endlos weiter, aber ich hörte nichts mehr. In meinen Ohren toste es, ich rang nach Athem. Julia die Tochter jenes Weibes! In welches Gewebe von Lügen war ich gerathen! Wie hatte sich mein geheimes Mißtrauen nur allzugut bewahrheitet!

‚Also Julia ist – Ihre Schwester? Und heißt?‘

‚Meine Stiefschwester, sozusagen,‘ erwiderte die Anstandsdame, ‚und heißt Fischer natürlich. Aber der Name war halt nicht schön genug fürs Julerl; es war überhaupt nie was schön genug für sie, und wir haben’s ihr auch vergönnt – die Bildung, die feinen Hände, den schönen Namen – alles! Sie war ja unser Augapfel von klein auf, gar so schön und fein! Aber wir haben gesagt, die Schwestern und ich, wenn wir schon unser Geld hergeben für die höhere theatralische Ausbildung des Julerl, wollen wir auch dabei sein, wenn sie ihr Glück macht; und mitgegangen sind wir auf die Kunstreisen, die Schwestern und ich! Das Glück hat sich aber nicht so leicht einfangen lassen, wie wir geglaubt haben; der ungarische Graf, dem wir nachgereist sind, ist uns ausgekommen und daß es bei Euer Gnaden bald verrauchen wird, bei dem Altersunterschied – das hab’ ich gleich gesagt, trotz der schönen Briefe ...‘

Mit einem gebieterischen ‚Genug!‘ hemmte ich das athemlose Geschwätz. ‚Sind Sie ganz sicher – können Sie beschwören, daß Helonin nicht der richtige Name jener Frau ist?‘

‚Aber gewiß, Euer Gnaden, wir haben ja doch die Unterschrift auf den Quittungen von der Stiefmutter: Adele Fischer, geborene Helonin. Der Theobald kann es Euer Gnaden zeigen. Und wenn Euer Gnaden vom Julerl noch etwas wissen wollen ...‘

Nein, ich wollte nichts mehr wissen, gar nichts!

In das tiefste Waldesdickicht trug ich meinen Schmerz, meinen Zorn über diese Erbärmlichkeit und das Gefühl meiner Erniedrigung. Die elende Komödiantin! Endlich beschloß ich, Julia in einem Briefe über das Lügengewebe, in das sie sich verstrickt hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Ihre Antwort war – die Rücksendung meiner Briefe und des Verlobungsringes. Ich athmete auf! Bald folgte eine unverschämte Epistel von Madame Helonin: ich müsse längst um das Allerweltsgeheimniß des veränderten Namens gewußt haben, es sei Heuchelei, wenn ich jetzt den Ueberraschten spiele, eine Finte, um mein Wort und mein Geldgeschenk zurückzuziehen; sie habe längst bemerkt, daß mich die Verlobung reue u. s. w. Die schlaue Frau erreichte mit dieser Anklage, was sie zunächst wünschte; noch am selben Tage erhielt mein Bankier die Weisung, die bei ihm hinterlegte Summe als Schenkung an Fräulein Julia Fischer zu übermitteln. Weder Name noch Alter ergaben diesmal Schwierigkeiten bei Erledigung der Formalitäten. Unter anderem erfuhr ich bei dieser Gelegenheit eine bezeichnende Thatsache. Veranlaßt durch irgend einen Formfehler beim Ausstellen des Wechsels, hatte mein Gläubiger die Schuld zur Kenntniß des Obersten gebracht; im Regiment verbreitete sich das Gerücht meines finanziellen Ruins. Einer meiner Freunde, der um meine Beziehungen zu Julia wußte, fand es angezeigt, dieser die schlimme Kunde mitzutheilen. In der ersten Bestürzung verriethen ihm die Frauen ihre Absicht, die Verlobung zu lösen.“

„Und Dich zu erlösen,“ rief Jette.

„Wahrhaft frei fühlte ich mich erst, als ich nach einigen Wochen eine Verlobungsanzeige von Julia erhielt – ein alter Hofrath war schließlich in dem Netze hängen geblieben.“

Onkel Christian schwieg erschöpft und lehnte sich in seinen Armstuhl zurück, ohne den erregten Reden der Brüder und Schwäger Gehör zu schenken. Unterdessen war es völlig finster geworden; ich erhob mich, um für Licht zu sorgen, und während man mit den Lampen ab und zu ging, löste sich die Gruppe, die sich um den Kamin geschart hatte; nur die Schwestern wollten nicht weichen.

„Hast Du damals schon den Dienst quittiert?“ fragte Jette, um den Onkel wieder ins alte Fahrwasser zu bringen.

„Nein,“ entgegnete er. „Damals ließ ich mich nach Böhmen versetzen, um in der Nähe meiner Mutter zu bleiben, deren Gesundheit angegriffen war.“

„Sie wohnte wohl in Hartenberg?“

„In den ersten Jahren nach meines Vaters Tod hielt Elisabeths Erziehung sie noch in Prag zurück, später bewohnte sie ihr Landhaus ...“

[320] „Ich weiß, Elsenheim, wo Papas Hochzeit in aller Stille gefeiert wurde. Nicht wahr, Onkel?“

„Richtig, Leonore! Du erinnerst Dich also noch? In Elsenheim hausten Mutter und Schwestern in großer Abgeschiedenheit; ich ermöglichte es, dort ein häufiger Gast zu sein. Es war ein gar trautes stilles Heim, sehr verschieden von dem großen geräuschvoll gastlichen Hause, das ich aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte.“

„Und dann? Was geschah dann?“ forschte Schwester Hilda.

„Es läßt sich nichts erzählen von den Jahren, die nun folgten, Hilda; ereignißlos löste eines das andere ab. Ich lebte ein stilles Leben. Mit dem Tode meines Vaters war mir ein reiches Maß von Pflichten und Sorgen geworden. Ich hatte abgeschlossen mit der Jugend und ihren Tollheiten und rang nach Klarheit, nach ruhiger Auffassung des Lebens, griff zu ernsten Büchern, versenkte mich namentlich in geschichtliche Studien, und lautlos glitten darüber die Jahre hin. Doch – was erzähle ich Euch da,“ unterbrach sich der Onkel plötzlich. „Verzeiht, ich bin weitschweifig geworden! Meine Entwicklungsgeschichte kann Euch nicht interessieren.“

„Doch, doch!“ rief Philipp, der hinzugetreten war. „Einleitung zu ‚Fall fünf‘!“

„‚Fall fünf‘!“ murmelte der Onkel. „Arme Maria Pia! Es ist Entweihung, die Erinnerung an Dich mit einer Nummer ins Gedächtniß zurückzurufen ...“

„Lauter, Onkel! Wir verstehen Dich nicht!“

„Jetzt ist’s genug, Kinder! Ich habe mich verleiten lassen, Euch einige Geschichten aus meiner Jugend zu erzählen, schon das war zu viel ...“

„Ach nein, nein – wir wollen mehr hören!“

„Es ist genug, und jetzt – basta! Jette braut mir wohl eine Tasse ihres köstlichen Thees – ich höre bedeutungsvolles Geklapper.“

Sie sahen, daß Onkel Christian entschlossen war, ihre Neugierde nicht weiter zu befriedigen; Jette eilte an den Theetisch, die anderen verloren sich allmählich; bald vernahm ich aus der Ferne das Rollen der Billardkugeln. Nur ich, ich saß wie festgebannt am Kamin und unwillkürlich folgte mein Auge den Blicken des Onkels, die wehmüthig ferne Bilder zu schauen schienen.

„Maria Pia!“ sprach ich vor mich hin, „wer war Maria Pia? Willst Du auch mir allein nicht weiter erzählen? Bist Du wirklich zu müde? Ach, bitte, lieber Onkel!“

Onkel Christian sah mich lange prüfend an. Und langsam, mit gedämpfter Stimme nahm er den Faden wieder auf.

„Maria Pia war eine Schulfreundin meiner Schwestern, die Tochter eines höheren Beamten, der sich aus der Welt, die seinem Verständniß entwachsen war, in die Tiroler Berge geflüchtet hatte – nach Meran, wo ich Vater und Tochter kennenlernte. Sie hieß Maria; doch in dem Kloster, in dem sie erzogen wurde und wo es der Marien viele gab, hatte man sie ‚Pia‘ zubenannt, ünd diese Bezeichnung, die so gut zu ihrem Wesen paßte, blieb ihr fürs Leben. Sie war ein blondes schlankes Geschöpf, mit feinen durchgeistigten Zügen. Und sie hatte Deine Augen, Lore, Deine freundlichen klugen veilchenblauen Augen.“

Er schwieg, indem er mich sinnend betrachtete, als wünsche er die Aehnlichkeit neuerdings festzustellen.

„Pia!“ sagte ich, „das heißt doch die ‚Fromme‘? War sie sehr fromm?“

„Ihr ganzes Sein war von ernster Gläubigkeit durchströmt, aber ihr Wesen war deshalb kein enges. Sie begeisterte sich für alles Schöne und zeigte in ihrer schlichten selbstlosen Art allen Menschen ein warmes liebendes Herz.

Daß wir uns gut wurden – ich weiß nicht, wie das kam! Aber es kam so selbstverständlich, als könne es eben nicht anders sein. In den ersten Tagen, als ich meiner Liebe gewiß wurde, wagte ich nicht, an die Möglichkeit von Pias Neigung zu glauben, ich fühlte einen Abgrund zwischen mir und diesem Engel. Sie selbst überbrückte ihn. ‚Da wir uns lieben‘ – sagte sie schlicht und ließ mir die Hand, die ich stammelnd und zögernd ergriffen hatte. Es war unter den großen Kastanien auf dem Wege nach Schönna – noch sehe ich das sonnige lachende Bild zu unseren Füßen. Pia und ich waren hinter den anderen zurückgeblieben –“

„Onkel,“ unterbrach ich ihn, „welche anderen? Und wie kam es, daß Du in Meran warst?“

„Wie zerstreut ich bin – damit hätte ich ja beginnen sollen! Die Aerzte hatten verordnet, daß meine Mutter den Winter in einem milden Klima zubringen solle, und gern willfahrte ich ihrem Wunsche, einen längeren Urlaub in ihrer Gesellschaft in dem gottbegnadeten Meran zu verbringen. Meine Schwestern wußten, daß sie ihre Freundin Pia dort finden würden. Mit Rücksicht darauf war die Wohnung gewählt – ihres Vaters Garten berührte den unseren.

Pia und ich verkehrten alsbald mit der größten Ungezwungenheit, was ihrem schlichten geraden Wesen in allen Fällen am besten entsprach. Sie plauderte gern und gut; doch nahm ein Gespräch mit ihr sofort eine ernstere Färbung an. Sie plauderte eben wie ein kluges Menschenkind, das selbst Antwort finden muß auf die Fragen und Zweifel, die sich ihm aufdrängen, und das froh die Gelegenheit ergreift, in dem Austausch mit Gleichgesinnten die Ansichten, die es in der Einsamkeit gewonnen hat, zu begründen und zu vertiefen. Wir waren nicht immer gleicher Meinung, Pia fand mein Urtheil mitunter zu schroff, zu hart. ‚Sie sehen eben mit dunklen Augen, ich mit blauen,‘ pflegte sie scherzend zu sagen, ‚im Grunde sehen wir doch beide dasselbe.‘

So, sorglos und frohen Muthes, durchwanderten wir Hand in Hand die herrliche Umgebung Merans. Und Pia, die kundige Führerin, verstand es, die Ruinen und Felsen beredt, Sage und Geschichte zur lebendigen Gegenwart zu machen! Ach – daß dieser sonnige Winter ein Ende nehmen mußte! Im Frühling sollte ich wieder zum Regiment. Vor meiner Abreise feierten wir die Verlobung. Die Unsrigen waren es zufrieden.

Da fiel der erste Tropfen Wermuth in den vollen Becher des Glückes. Der Arzt warnte Pias Vater; er glaubte, eine ernste Lungenkrankheit bei ihr entdeckt zu haben. So übertrieben mir auch seine Befürchtungen schienen, Pia und ich mußten uns den Wünschen des Vaters fügen und die Ausführung unserer Pläne auf Jahresfrist hinausschieben.“

„Aber der Arzt irrte?“

„Er irrte nicht! Wie ich später erfuhr, war Pias Mutter einer Lungenkrankheit erlegen. Der Blick des Arztes hatte nur zu richtig gesehen. Als ich im Herbste wiederkehrte, fand ich Pia so schwach, daß sie den Rollstuhl kaum mehr verlassen konnte. Das Uebel war entsetzlich rasch vorgeschritten. Doch, so hinfällig auch ihr Körper war, ihr Geist war reger denn je, ihre gleichmäßige liebenswürdige Heiterkeit unverändert. Nach wie vor liebte sie es, die Ereignisse des Tages, große wie kleine, zum Gegenstand der Erörterung zu machen, den Widerspruch förmlich herausfordernd, aber gar freundlich und anmuthig; sie führte die Waffen, um alle Welt für ihre Milde, ihr unerschöpfliches Wohlwollen zu gewinnen. So waren denn auch diese letzten Tage und Wochen, an welchen ich ihr Hinwelken von Stunde zu Stunde beobachten konnte, nicht ohne eigenthümliche Schönheit, schön trotz Bangigkeit und Trauer.

Der milde Winter erlaubte es, die Kranke beinahe täglich einige Stunden ins Freie zu bringen. Da saßen wir in dem sonnigen Gärtchen, oder ich rollte Pia in ihrem Krankenwagen an die Punkte in der Nähe, die sie liebte. Immer und immer wieder freute sie sich der schönen Bilder, der Sonne, der zauberischen Beleuchtung, und immer wieder strömte ihr Herz über von Dank für soviel Herrlichkeit, soviel Glück! Sie – so schön, so jung – und sterbend!“

„Sie ahnte wohl nicht …“

„So meinten wir auch. Doch ich glaube, sie war sich der Hoffnungslosigkeit ihres Zustandes längst bewußt. Eines Tages sprach sie es aus. Der Sohn des Gärtners, ein widerhaariger junger Bursche, sollte für irgend ein Vergehen hart bestraft werden – viel zu hart nach Pias Ansicht; mit Mühe gelang es mir, einen milderen Urtheilsspruch für den jungen Menschen zu erbetteln; und da Pia sich so lebhaft für die Sache interessierte, mag ich den Bericht über den Verlauf wohl etwas aufgebauscht haben. Leuchtenden Auges lauschte sie, und bevor ich es hindern konnte, hatte sie meine Hand, die in der ihren lag, an ihre Lippen gezogen. ‚O – Pia!‘ rief ich beschämt und gerührt, ‚ist es nicht Dein Einfluß, daß ich so gehandelt habe, daß ich milde und duldsam geworden bin!‘

‚Wenn es so ist, mein Freund, so laß diesen Einfluß mein Vermächtniß sein,‘ sprach sie leise und schloß die Augen. Doch unter der geschlossenen Wimper perlte eine Thräne hervor. Ich war tief bewegt und keines Wortes mächtig. Nach einer Pause fuhr sie fort: ‚Glaube, Freund, es ist besser so! Wolltest Du doch davon [321] überzeugt sein, mein Geliebter! Denn, siehst Du, eine kränkliche Frau hätte Deinen Lebensmuth gebrochen, und Du hast noch gar lange zu leben. Deshalb – nicht wahr, mein Freund, Du wirst Deine Trauer mäßigen, so lieb Du mich auch hast, und wirst Dich den Herrlichkeiten des Lebens nicht verschließen? Mein Bild und, so hoffe ich, mein Vermächtniß werden dennoch stets mit Dir gehen!‘

Und Pia hat sich mit den letzten Worten nicht getäuscht; die Selbstlosigkeit ihrer Liebe bis zum letzten Athemzug, der Adel ihrer Gesinnung – sie sind mir ein wirkliches Vermächtniß geworden, das mir mehr und mehr zu eigen wurde. Und so ist sie mein geblieben, die allzufrüh Heimgegangene!“

„Armer Onkel!“ rief ich, als ich der Rührung Herr geworden war, „welch’ unersetzlicher Verlust!“

[340] Wir schwiegen beide, erst nach einer geraumen Weile fuhr Onkel Christian in ruhigerem Tone fort:

„Die Sorge um Pias alten Vater, der sein Alles mit dieser Tochter zu Grabe trug, half mir über den ersten Jammer weg. Und dann verklärte mir die Erinnerung an sie meinen Schmerz. So treu lebte die Freundin in meinem Gedächtniß, daß sie mir nicht gestorben schien! Nun aber kam eine unbezwingliche Sehnsucht nach dem eigenen Herd über mich, nach dem Heim, wie ich es mit Pia in den ersten glücklichen Tagen unserer Liebe geplant hatte. Was ich noch vor kurzem für unmöglich gehalten hätte – das Soldatenhandwerk ward mir mit einem Male entsetzlich widerlich. Ich wollte nur meine Beförderung zum Major abwarten, um den Dienst zu verlassen und Landwirth zu werden. Meine Schwester Elisabeth, so hoffte ich, werde sich entschließen, bis auf weiteres als meine ‚Schloßfrau‘ zu walten.

Es sollte sich nicht erfüllen. Ehe die Beförderung kam, hatte Elisabeth Euren Vater geheirathet; meine arme Mutter starb. Als ich auf dem Gute die Einrichtung vollendet hatte, die ich für Pia begonnen, da stand ich ganz allein. Endlich, im Spätherbst 1865, kam die langersehnte Ernennung, und als ich nach Wien ging, mich zu bedanken, lernte ich Ella kennen.“

„Ella? Wer ist Ella?“

„‚Fall sechs‘, würde Philipp sagen.“

„Ach, lassen wir Philipp!“ rief ich. „Es ist zu ernst geworden für seine Scherze. Sage, Onkel, wie, wo lerntest Du Ella kennen?“

„Das Kennenlernen war spaßhaft genug. Du kennst Wien? Nun, eines Tages kam ich in voller Paradeuniform aus der Burg und schritt meinem Wagen zu, der auf dem Michaelerplatz wartete. Vor der Demelschen Konditorei hatte sich schreiend und gestikulierend ein Knäuel Menschen gesammelt, dem sich alsbald ein Schusterjunge echtesten Wiener Schlages entwand, um, verfolgt von einer Megäre, schleunigst in der Herrengasse zu verschwinden. In der Mitte der Gruppe aber stand ein junges Mädchen, weinend über die Trümmer eines Päckchens gebeugt, das übel mitgenommen auf den noch regenfeuchten Steinen lag. Die Leute lachten und witzelten in grausamer Mitleidlosigkeit. Aergerlich hieß ich sie ihrer Wege gehen und trat zu dem niedlichen jungen Ding, dem ich gern aus seinem Jammer geholfen hätte.

‚Ist der Schaden nicht gut zu machen?‘ fragte ich.

‚Ach Gott,‘ schluchzte die Kleine, ‚Mama wird so böse sein! Sehen Sie nur, mein neues Kleid! Ich kann gar nicht nach Hause gehen. Und die schöne Torte, eine Geburtstagstorte!‘

Ihre Thränen flossen unaufhaltsam. Das Kleid war allerdings übel zugerichtet, herabgerissen und arg beschmutzt. ‚Aber die Torte – bei Demel dürfte wohl eine zweite Geburtstagstorte zu finden sein,‘ meinte ich.

‚Das schon, allein ich habe kein Geld,‘ war die verzagte Antwort.

‚Nun, das könnte ich allenfalls vorstrecken, wenn Sie erlaubten.‘

Das hübsche Mädchen blickte dankbar auf. ‚Wie sollte ich Ihnen aber das Geld wieder zurückstellen? Ich kenne Sie ja nicht,‘ sagte sie zögernd.

‚Wie wär’s, wenn Sie mir die Adresse Ihrer Mama geben würden, damit ich mir’s holen kann? Oder, noch besser,‘ rief ich, da der Kutscher, der mich erblickt hatte, eben vorfuhr, ‚noch besser, ich führe Sie in meinem Wagen nach Hause, da Sie in dem zerrissenen Kleide nicht gut zu Fuß –‘

‚Und die Sali?‘ warf sie ein.

‚Die Sali? Wer ist die Sali?‘

[341] Inzwischen war die Megäre, die ich vorhin hinter dem Schusterbuben dreinlaufen gesehen hatte, an uns herangetreten und gab sich als Sali zu erkennen. Sie stimmte sofort meinem Antrag zu und hatte ihn auch so rasch ausgeführt, daß ich mit ihr, ihrem Einkaufkorb, dem jungen Mädchen und der neuen Torte der Alservorstadt zurollte, ehe ich mich hatte besinnen können.

Die Sali ließ nicht ab, zu jammern und das ‚Eltscherl‘ ob all der Unfälle zu beklagen.

‚Heißen Sie wirklich Eltscherl?‘ fragte ich die Kleine, worauf sie so hell und lustig lachte, daß ich unwillkürlich mitthun mußte.

‚Gabriele heiße ich, aber man nennt mich Ella,‘ belehrte sie mich mit wichtiger Miene.

Als ich mich ihrer Mutter vorstellte, machte ich die erfreuliche Entdeckung, daß wir sozusagen alte Bekannte waren – das heißt, der gute Stabsarzt, dessen Witwe sie war, hatte mich seinerzeit in Italien bei einem Fieberanfall behandelt. Diese flüchtige Beziehung schwoll mir unter den Händen zu fabelhafter Innigkeit an und war zu einem Kastor und Pollux-Verhältniß der rührendsten Art gediehen, als ich endlich Abschied nahm. Nichts natürlicher, als daß man einen so nahen Freund des Dahingeschiedenen dringend aufforderte, wiederzukommen, und daß dieser sich beeilte, der Aufforderung Folge zu leisten!

Ja, ich kam wieder, kam Tag für Tag, verschob meine Abreise, um wieder und wieder zu kommen. Ich hatte mich sterblich verliebt in das niedliche Püppchen mit den großen erstaunten Kinderaugen, mit den allerliebsten Grübchen in Kinn und Wangen und dem beständigen, frohen Lachen auf den Lippen. Ella war unwiderstehlich herzig in ihrer holden Kindlichkeit, in ihrer schalkhaften Munterkeit – und ich alter Narr, der ich war ...“

„Alt? Mit dreißig und etlichen Jahren? Fürwahr, Onkel ...“

„Alt gegenüber diesen siebzehn Jahren! Leonore, wahrlich ich schäme mich noch heute, nicht weil ich mich verliebte – die frische Schönheit Ellas hätte wohl auch einem Weiseren den Kopf verdreht – sondern weil ich mir einreden konnte, dies Kind sei die Gefährtin, die Pia für mich gewünscht hatte. Und vor allem, daß ich mir über die Neigung des Kindes Illusionen gemacht habe, siehst Du, das kann ich heute noch nicht verwinden, es war zu thöricht.“

„Du hast also um Ella geworben, Onkel? Und sie?“

„Und sie – sie war bezaubernd in der unbefangenen Lust und Kindlichkeit der ersten Tage und nachher in der scheuen Erwartung meiner Erklärung. Sobald Mama uns allein ließ – und wenn ich es recht bedenke, geschah dies des öfteren – da wurde Ella gluthroth und saß schweigend, mit gesenktem Köpfchen, mir gegenüber. Und ich – ich hielt diese Befangenheit für Neigung, besann mich nicht lang und warb um sie. Arme kleine kindische Braut! Als ich ihr den Verlobungsring an den Finger steckte, tanzte sie wie toll um den Tisch, umarmte mich, die Mutter, die Sali, schließlich Schränke und Stühle! Und das hielt ich für Liebe, Leonore!“

„Sie war noch jung und kindisch – es konnte doch wohl Liebe sein,“ meinte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Als wir uns verlobten, Ella und ich,“ so fuhr er fort, „sah es schon unheimlich düster aus am politischen Horizont, und das ließ für den Soldaten weder Abschied noch Heirath zu. Es blieb nichts übrig, als mich zu gedulden, mich von dem süßen Kinde zu trennen und mir während langer qualvoller Monate an ihren Briefen genügen zu lassen – den lieben schüchternen so schülerhaften Briefen!

Vor meiner Abreise hatten wir vereinbart, daß Ellas Bild für mich gemalt werden sollte. Ich selbst wählte den Maler, einen damals noch unbekannten, sehr begabten jungen Künstler, dessen Familie ich kannte und an dessen Arbeiten ich lebhaften Antheil nahm. Als ich den hageren ungelenken jungen Mann meiner Braut und der künftigen Schwiegermutter vorstellte, kam mir nur ein Bedenken – ob die beiden Frauen Brunos linkisches Wesen nicht mit Entsetzen aufnehmen würden. Ich großer Menschenkenner, ich! –

Endlich, im Herbste 1866, konnte ich nach Wien eilen. Es war früh am Morgen, als ich auf dem Südbahnhof eintraf, zu früh für einen Besuch, selbst bei der Verlobten. Um meine Ungeduld zu bemeistern und die Zeit zu verbringen, wanderte ich zu Fuß und mit Umwegen der Stadt zu. Ganz unerwartet stand ich mit einem Male an dem Hause, in dem Brunos Atelier sich befand. Die Fenster waren weit geöffnet, und ich eilte hinauf, um mich einstweilen an dem Anblick ihres Bildes zu erfreuen, bis ich das liebe Mädchen selbst sehen sollte. Man hieß mich eintreten, der Künstler sei schon an der Arbeit.

Mein erster Blick, als ich den Thürvorhang zurückschlug, traf das Bild, welches auf einer Staffelei am Fenster stand, unvollendet zwar in Kleinigkeiten, aber außerordentlich ähnlich. ‚Ella wie sie leibt und lebt,‘ murmelte ich. Näher tretend gewahrte ich auch Bruno, vor der Staffelei sitzend, den Kopf in die Hand gestützt. Er schien in tiefe Gedanken versunken, meine Schritte, allerdings durch einen Teppich gedämpft, störten ihn nicht auf. Mir war’s lieb so. Ich wollte den Anblick von Ellas Bild einige Minuten allein genießen. Es war Ella – und doch, es war nicht die Ella, die ich kannte. Die Züge waren dieselben, der Ausdruck verändert. Je länger ich sie betrachtete, desto fremder sahen mich diese großen dunklen Augen an, so sehnsüchtig und innig, wie sie nie auf mir geruht hatten. Und um den Mund, der nur gewohnt war, zu lächeln, um den rosigen Kindermund lag ein Zug von Wehmuth und Verzicht – was war das? Ich fuhr mit der Hand über die Augen, dann forschte ich von neuem in den geliebten Zügen. Eine unerklärliche Angst erfaßte mich. Meine Hand berührte Brunos Schulter, und als er sich umwandte, fiel [342] mir sein abgehärmtes Antlitz auf. Ich hatte nur wenige Worte mit ihm gewechselt und schon wußte ich alles. Liebe, tiefe glühende leidenschaftliche Liebe sprach aus jedem Worte, aus seinem ganzen Wesen!

Ich sank vernichtet in einen Stuhl und hielt die Hände vor die Augen. Bruno selbst war tief erschüttert. ‚Ich würde mein Leben hingeben, wenn ich Ihnen und ihr diesen Schmerz erspart hätte. Sie will mich ja nicht hören, will ihrem Worte nicht untreu werden. Sie ist Ihnen so gut ...‘

Mich trieb es fort – ins Freie.

Wie Du Dir denken kannst, Leonore – es fiel mir nicht ein, die jungen Leute zur Rechenschaft zu ziehen. Alles schien mir jetzt so selbstverständlich, unausbleiblich. Meine Wuth, meine Verzweiflung kehrte sich gegen mich selbst. Ich Thor, der ich glaubte, einem Kinde Liebe einzuflößen, der ich es an mich ketten wollte! Beschämung, Reue, das unerträgliche Gefühl, mich lächerlich gemacht zu haben, gesellten sich zu meinem Schmerze, zu dem tiefen Mitleid mit dem armen Mädchen, das durch meine Verblendung gelitten hatte.

Als ich ruhiger geworden, schrieb ich an Ella, an ihre Mutter, an Bruno. Die Mama war schwer zu versöhnen – arme Ella, sie mag unerquickliche Tage verlebt haben, bis Brunos Freunde es endlich erreichten, dem außerordentlich begabten jungen Künstler eine Stellung mit bestimmtem, wenn auch mäßigem Gehalte zu sichern. Erst nach Jahresfrist konnten die beiden ein Paar werden.“

„Hast Du Ella seither wiedergesehen?“

„Nein! Anfangs wünschte ich es nicht; später – später nahmen mich andere Dinge in Anspruch. Bald nachher starb auch Euer Vater. Die Entwirrung der etwas zerrütteten Verhältnisse auf dem Rüdenhof gab mir alle Hände voll zu thun, und seither, Du weißt es ja, Lore – seither bin ich bei Euch mehr zu Hause als in Hartenberg. Es bleibt mir weder Zeit noch Lust, mich nach alten Lieben umzusehen. Ihr seid jetzt meine Familie, meine Welt.“

„Und wir wissen Dir Dank dafür, Onkel Christian! Was wäre aus dem Rüdenhof, was aus uns geworden ohne Dich!“

Er wehrte meinen Erguß ab und seufzte tief. Die Erinnerung hatte ihn trübe gestimmt. Doch – ich wollte gar so gerne noch mehr hören.

„Onkel,“ begann ich zögernd, „ich habe erst sechs Lieben gezählt; die siebente steht noch aus.“

„Du bist unersättlich, Leonore,“ lachte er, „ich alter Mann ...“

„Weißt Du auch, Onkel,“ fiel ich ihm ins Wort, „es ist eine Koketterie, stets sein Alter im Munde zu führen, wenn man so aussieht wie Du – rüstig, stramm, kein graues Haar! Wir haben es neulich besprochen. Es fängt an, komisch zu sein, wenn wir Alten Dich ‚Onkel‘ nennen. August und Philipp haben Dich im Aussehen nahezu eingeholt ...“

Wieder klang sein Lachen eigenthümlich gezwungen, als er sagte. „Also nach Deiner Ansicht, Leonore, ist die siebente Liebe weder unmöglich, noch lächerlich?“

„Ganz natürlich ist sie nach meiner Ansicht, und ich bin erschrecklich neugierig, zu wissen, wer der Gegenstand ist. Wenn meine Rechnung stimmt, fällt dieser ‚Fall‘, um mit Philipp zu sprechen, in die Zeit Deines Aufenthaltes in Hartenberg und auf dem Rüdenhof; da sollte ich sie doch kennen, meine ich.“

„Vielleicht,“ entgegnete er lächelnd, und sein Blick ruhte wie fragend, schier verwundert auf mir. Ich besann mich, den Kopf in die Hand gestützt.

„Wohl erinnere ich mich einer Zeit,“ unterbrach ich nach einer Weile das Schweigen, „es mag ein paar Jahre nach Mamas Tod gewesen sein, zur Zeit, da Edwin einrücken mußte – da fiel uns Dein zerstreutes Wesen auf, wenn Du von Hartenberg zu uns herüber kamst. Sogar Miß Wood hatte es bemerkt. ‚Der Arme, er ist so einsam,‘ seufzte sie. ‚Paßt auf, er geht auf Freiersfüßen,‘ sagte Jette, die damals ein schrecklicher Naseweis war und nichts als Romane im Kopfe hatte. War es so, Onkel?“

„Miß Wood hatte recht; ich war einsam und litt darunter. In Hartenberg mehr denn anderswo, weil ich dort in allem und jedem auf die Gefährtin, die ich heimzuführen gehofft, Bedacht genommen hatte und die Erinnerungen mich nun wie bleiche Gespenster überall verfolgten. Doch Eure Angelegenheiten, die Sorgen auf dem Rüdenhof, die mich so häufig von meinem Gute fernhielten, wurden mir damals zum Segen. Es ergab sich eine Fülle von Beschäftigung und Anregung, auch manche Genugtuung, wenn ich den Samen aufgehen sah, den ich gestreut hatte. Allein die Einsamkeit in Hartenberg wurde mir dadurch auf die Dauer dennoch nicht erträglicher, im Gegentheil! Allmählich hatte sich den Geistern der Vergangenheit noch ein anderes Gefolge zugesellt – Kobolde, die aus jeder Ecke hervorhuschten, mich umgaukelnd, von Wünschen und Hoffnungen raunend ...“

„Also doch – doch auf Freiersfüßen!“

Er schüttelte verneinend das Haupt. „Ich fand den Muth nicht zum Werben und Freien, und mehr und mehr überzeuge ich mich – meine Feigheit war berechtigt. Was ich aber dabei eingesetzt habe an Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, das kann ich Dir nicht sagen, Leonore, und Du würdest es auch nicht verstehen. Unter meinen Augen, an meiner Seite sah ich sie erblühen, heranreifen, sich zur edelsten Weiblichkeit entfalten – und sie glich Maria Pia, wodurch sie mir noch lieber, nach begehrenswerther erschien. Nicht nur Aehnlichkeiten der äußeren Erscheinung, auch innere Züge gemahnten mich an die Verstorbene: die Selbstlosigkeit, die Klugheit, der scharf ausgeprägte Sinn für Gerechtigkeit, und – was der Kranken gefehlt hatte – diese Eigenschaften waren gepaart mit rühriger Thatkraft, mit frischem lebensvollen Jugendmuth! So sah ich sie schalten und walten als guten Geist ihres Hauses, ihrer Anmuth und Schönheit ebensowenig sich bewußt wie der Pflichttreue, der rührenden Hingebung, mit welcher sie eine Riesenaufgabe bewältigte. Mein Gott, ist es da nicht selbstverständlich, daß ich sie lieben mußte, daß der Augenblick kam, wo der glühende Wunsch mich beseelte, diese herrliche Blume für mich zu pflücken, den guten Geist an mein Herz, mein Haus zu fesseln!“

„Und weshalb ...“ begann ich; doch wie er mir jetzt langsam das Gesicht zukehrte, stockte ich über dem merkwürdigen Ausdruck in seinen Zügen, über dem Leuchten in seinem Auge, und wie dieser leuchtende Blick dem meinen begegnete, sich darein versenkte, da durchzuckte es mich mit jähem Schrecke und jauchzender Freude. War es möglich – ich selbst! Dieser Mann, den ich höher stellte als alle, alle Menschen dieser Erde – er liebte mich! Wie geblendet mußte ich die Augen schließen, während er leise fortfuhr:

„Weshalb ich nicht um sie warb, meinst Du, Leonore? Weil mich nichts berechtigte, Erwiderung meiner Liebe zu hoffen. Die gleichmäßige Herzlichkeit in ihrem Verkehr mit mir ließ eben nur auf gute Freundschaft schließen. Diese aber war mir werth, war auch zu kostbar für unsere gemeinsame Arbeit, ich durfte sie nicht gefährden durch ein unbedachtes Wort. Ueberdies – ich sah sie erfüllt von einer schönen Aufgabe, fröhlichen Muthes und mit heiterer Sicherheit ihrem Ziele zustreben; wäre es nicht unrecht, ja frevelhaft gewesen, die Ruhe ihres Gemüthes durch meine eigennützigen Wünsche zu trüben?

So drängte ich es denn gewaltsam zurück – das Wort, das wiederholt auf meinen Lippen schwebte. Die Erinnerung an Ella half mir dabei. Wie hätte ich auch mit dieser Erfahrung, mit diesem Stachel im Herzen ein zweites Mal um ein viel jüngeres Mädchen freien mögen!“

„Onkel!“ stammelte ich, „sie war kein Kind, keine Ella – wenn sie hätte ahnen können ...“

„Sie hätte es ahnen können, Leonore – oft, oft, wenn ich starker Mann furchtsam und scheu an ihrer Seite stand; sie hätte es ahnen müssen – damals, als wir einer gemeinsamen Gefahr entgingen. Sie führte die Zügel des Wagens, über einem Schusse im nahen Walde scheuten die Pferde, in rasendem Laufe flogen sie feldeinwärts! Indem ich in die Zügel fiel, umfing ich sie mit den Armen, damit sie nicht hinausgeschleudert werde bei dem tollen Tanze über die Schollen ... Endlich gelang es, die Pferde zum Stehen zu bringen ..."

„Am Flusse,“ hauchte ich.

„Weißt Du es noch, Leonore? Und damals hast Du nicht geahnt, nicht gefühlt, daß es eines fast übermenschlichen Entschlusses bedurfte, meine Arme von der bebenden Gestalt zu lösen? Leonore – Du hast den Kampf nicht gesehen, als ich Deine Hand freigab in jener Mondnacht am Weiher?“

„Nach Hildas Verlobung ...“

„ ... als einer aus dem Quartett, das Lothar aus der Stadt mitgebracht hatte, jenes herrliche Lied von Schumann sang?“

„‚Ich sende einen Gruß ...‘“

„O, Du weißt es noch, Leonore?“

Wohl wußte ich es – und gern hätte ich sagen mögen, daß [343] es mir damals weh gethan habe, als er meine Hand so plötzlich fahren ließ; doch in meinem Innern wogte und jubelte es, mein Herz pochte zum Zerspringen – und stumm saß ich an seiner Seite.

„Leonore!“ sprach er feierlich, meine beiden Hände ergreifend, „meine Liebe zu Dir hat eine längere und härtere Probe bestanden als die des biblischen Jakob – willst Du sie, willst Du Dich selbst prüfen? Wenn Du sie Deiner würdig hieltest, Dich entschließen könntest – jetzt, wo Deine Aufgabe erfüllt ist den Geschwistern gegenüber – Deine Jugend und Schönheit einem alten Manne zu opfern, seinen Lebensabend zu erhellen –“

„Sprich nicht so zu mir, Onkel Christian,“ rief ich erregt, „ich kann es nicht hören. Siehst Du denn nicht? Daß ich früher Deine Neigung nicht ahnte, nicht erkannte – mein Gott, ich habe ja nie an so großes Glück glauben können!“

„Leonore! – weißt Du auch, was Du sagst?“

„Daß ich glücklich bin und stolz! Ja, stolz, Onkel Christian! Deine Liebe ist das größte Glück, das mir werden konnte. Was gilt mir Schönheit und Jugend gegen Deine Liebe! Wenn ich noch einen Rest von jenen besitze, mir ist er nur werth, wenn er Dich erfreut! Du nanntest mich vorhin selbstlos – wahrlich, heute bin ich es nicht, wenn ich die Hand ergreife, die Du mir bietest!“

„So willst Du mein sein, Lore, mein geliebtes Weib? – All ihr guten Geister, die wir beschworen – und ihr bösen auch – seht euer Werk! Ihr habt mir dies warme, lebensvolle Herz erst zu eigen gegeben – habt Dank, ihr alten Lieben! Und Du, Leonore, wie will ich es Dir danken ...“

*      *      *

So ist es gekommen, daß ich Onkel Christians Frau geworden bin, seine siebente und letzte Liebe.