Oberammergau in der Schweiz

Textdaten
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Autor: J. G. Oswald
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Titel: Oberammergau in der Schweiz
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 771
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[771] Oberammergau in der Schweiz. Am Fuße jener weit ausblickenden Höhe des Juragebirges, des Weißenstein, nahe bei der alten Stadt Solothurn, liegt inmitten grüner, obstreicher Matten Selzach, ein Dörfchen so still und friedlich wie nur eins. Hier wurde in diesem Sommer zum erstenmal in größerem Maßstabe ein Passionsspiel aufgeführt, das denen von Oberammergau und Höritz nacheiferte. Eine Nachahmung also? – Ja und nein. Jedenfalls ist das Unternehmen – seine Art und Entwicklung – nicht uninteressant, wie es denn auch die wachsende Aufmerksamkeit der Reisenden erregt hat.

Vor fünf Jahren zogen einige Selzacher unter Führung eines dortigen Uhrenfabrikanten – die Selzacher sind nur zur Hälfte Bauern, die andere Hälfte besteht aus Uhrenarbeitern – nach Oberammergau zum Besuche des Passionsspieles. Sie kehrten mit dem Entschlusse heim, ein gleiches oder ähnliches ins Leben zu rufen. Kühn, nicht wahr? – Und doch nicht so ganz. Denn man darf nicht vergessen, daß dem Schweizer die Liebhaberei, Theater zu spielen, in einem Grade eigen ist, der notwendig ein gewisses Talent dazu voraussetzt. Praktisch und nüchtern, wie man ihn nennt, traut mancher ihm das nicht zu. Allein so wenig die berufsmäßige Schauspielkunst seine Schwärmerei ist, wo es Scenen der vaterländischen Geschichte und Sage zur patriotischen Erbauung darzustellen gilt, sind alle mit Eifer dabei, Männlein wie Weiblein. Selbst der trockene Geschäftsmann tritt begeistert in den Dienst des schönen Scheins, mag er sich auch im übrigen für ganz andere „Scheine“ – schön oder nicht – begeistern. Die Tellaufführung, die Gottfried Keller im „Grünen Heinrich“ geschildert hat, ist keineswegs eine leere Erfindung. Auch heute will der Schweizer den „Tell“ nicht nur lesen, er will ihn auch spielen. Und nicht bloß den „Tell“. Es giebt Festspielschreiber genug, die für Abwechslung sorgen und denen es wenigstens nicht an patriotischem Feuer fehlt. Ja, ganz kleine Ortschaften wie Buochs am Vierwaldstättersee haben der Muse der dramatischen Liebhaberkunst ein eigenes, wenn auch bescheidenes Haus gebaut. Wo sich aber, wie es in Bern und Basel und auch anderwärts der Fall war, eine in jeder Art größere Leistungsfähigkeit findet, gestalten sich solche Schau- und Festspiele zu farbenprächtigen Bildern von hoher malerischer Wirkung, die damit verbundene musikalische nicht zu vergessen.

Nun, aus dieser nationalen Liebhaberei erklärt sich schon der kühne Entschluß der Selzacher. Daß sie aber, abweichend von der Regel, ein geistliches Schauspiel – ein Mysterium – zu spielen unternahmen, ist wohl auf ihre Konfession, auf den frommen Sinn ihrer Gemeinde zurückzuführen. Vom Entschluß bis zur That war freilich noch ein langer Weg. Aber Begeisterung hat dem schlichten Völkchen über Mühe und Schwierigkeiten hinweggeholfen, freudig widmete es seine freie Zeit dem Studium und der Probe. In der Person des schon erwähnten Fabrikanten fand sich ein geschickter Leiter, während ein Lehrer aus dem Ort – Herr Gottlieb vVögeli-Rünlist – den Text besorgte und die Einstudierung der Passionsmusik von H. F. Müller in Fulda, die dem neuen Spiele zu Grunde gelegt wurde, mit Verständnis betrieb. Vor zwei Jahren machte man den ersten Versuch vor der Oeffentlichkeit. Der Erfolg ermunterte, den Plan zu erweitern, dem Passionsspiel ein Vorspiel zu geben, das bis zu den Anfängen der biblischen Geschichte zurückreichte. Natürlich mußte für eine geräumige und technisch wohl ausgerüstete Bühne gesorgt werden. So baute man ein schlichtes, hölzernes Spielhaus mit elektrischer Beleuchtungsvorrichtung, vertieftem Orchester und einem Zuschauerraum für 1200 Personen.

Wie gestaltete sich nun die Aufführung? – Nachdem, wie in Bayreuth, ein Fanfarensignal draußen im Dorf, dann drinnen im Saal den Beginn angekündigt hatte, zog vor den Blicken der Besucher eine Reihe lebender Bilder vorüber, begleitet von Musik und Gesang, unterbrochen von dem erklärenden Vortrag eines Deklamators. Die Bilder, die die Hauptmomente des Alten und Neuen Testamentes bis zum Einzuge Christi in Jerusalem veranschaulichten, bekundeten eine Phantasie, die ihren kindlich naiven Eingebungen treuherzig folgt, unbekümmert um das, was inzwischen in Bezug auf Kostüm und Landschaft seitens der Gelehrten ausgeklügelt worden ist. Man mochte sich der Illusion hingeben, in einer großen, altertümlichen Bibel voll charakteristischer und lebhaft kolorierter Zeichnungen zu blättern, wobei sich wohl allerhand Kritisches in uns regt, die Bewunderung des Schlicht-Naiven aber schließlich die Oberhand gewinnt. Der zweite Teil, das eigentliche Passionsspiel, war eine ungleich höhere Kunstleistnng, gehoben schon durch die Vorbilder aus dem Bereiche der Malerei, die man mehr oder weniger treu nachahmte, z. B. das Abendmahl von Leonardo da Vinci. Denn auch in dieser Abteilung herrschten die lebenden Bilder vor, sie umrankten und beschlossen die wenigen dramatischen Scenen, die von den Ränken des hohen Rates bis zur Verurteilung des Heilandes handelten. Da es nicht an geeigneten Gestalten, zumal nicht an einer edlen Christusfigur fehlte, wirkten die ergreifenden Bilder unverkümmert. Man kann den Selzachern Glück zu diesem Erfolge wünschen; sie sind denn auch durch einen immer zahlreicher gewordenen Besuch ihrer Aufführungen belohnt worden. J. G. Oswald.