Ob. östliche Presse Ob-Ost
von Fritz Hartmann
Das Gottesländchen
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IX. Allerleirauh
Hannover, den 26. November.

Anbei ein Kopekenstück, kein russisches, wie Dir sein Eisernes Kreuz verrät; freilich auch kein deutsches, denn die Prägung zeigt kyrillische Lettern. Vielmehr ein Ob. östliches, mit dem die Münzsammler gut tun werden, sich rechtzeitig einzudecken.

Ich lege auch ein Fünfzigkopekenpapierchen hinzu. Es fällt auf durch die Fülle seiner Inschriften in deutscher, polnischer, litauischer und lettischer Sprache. Ein Darlehenskassenschein, herausgegeben von der Posen-Königsberger Ostbank für Handel und Gewerbe. Der Oberbefehlshaber hat mit ihr ein Abkommen getroffen. Überall sind seitdem im eroberten Gebiete Zweigstellen aufgetan. Es wurden bereits gegen 20 Millionen Rubel Obostgeld ausgegeben.

Ihm liegt ob, das deutsche zu entlasten. Die russische Münze war bei der Einnahme fast spurlos verschwunden. Mit fortgenommen, vergraben, im Bettstroh oder Strumpf verborgen, [71] soweit die Einwohner über ein Bett oder eine Fußbekleidung verfügen. Durch unser Heer strömte hinwieder die deutsche Mark mit ihren Groschen zu vielen Millionen ein. Dadurch wurde aber die Heimat entblößt. Unser eisernes Kleingeld und unsere Markscheine waren das erste Gegenmittel; die neue Obostmünze ist ein zweites.

Nenne es nicht michelhafte Schwäche, daß dies Zahlungsmittel überhaupt noch auf die russische und nicht auf unsere Währung gestimmt ist. Ich habe mit den Vätern des Gedankens gesprochen. Der Wunsch lag ihnen ebenso nahe wie Dir und mir. Er war der erstgeborene. Allein alle Verkehrserfordernisse sprachen noch dawider.

So ist ein finanztechnischer Mischling entstanden; sinnbildlich für die Lage des Augenblicks. Deutsches Hoheitsrecht wird geübt, aber es paßt sich weitherzig dem örtlichen Bedarf so weit an, als unser Interesse es zuläßt.

Und weiter ist sinnbildlich die Vielsprachigkeit der Scheine. Das Land wird ja von keinem Volke, sondern von sieben unterschiedlichen Volksstämmen bewohnt. Entsinnst Du Dich aus [72] dämmernder Kindheit des großmütterlichen Märchens vom Allerleirauh? „Es war einmal ein kleines Mägdelein, das hatte einen Mantel, der war aus mannigfaltigen Pelzflicken kunterbunt zusammengenäht.“ Ich glaube, damit ist Litauen gemeint.

Wir Deutschen dünken uns gute Länderkenner zu sein. Im allgemeinen sind wir es keineswegs. In unseren erdkundlichen Durchschnittsbegriffen stecken zahlreiche Irrtümer. Uns ist z. B. früher alles, was östlich von uns wohnt, bis dahin, wo das eigentliche Rußland anfängt, durchweg Pole gewesen. Falsch! Damit waren die Litauer zu ihrem großen Schmerze in den verkehrten Topf geworfen. Sie haben eigenes Volkstum, eigene Sprache und zum Teil eigene Geschichte, worauf sie stolz sind. Als im Jahre 1386 ihr Land durch Heirat mit Polen vereinigt wurde, da geriet, richtig verstanden, nicht Litauen unter polnisches, vielmehr Polen unter litauisches Szepter. Denn Jagello war Litauer. Freilich haben seine Nachkommen dies rasch vergessen. Sie ließen zu, daß bei dieser Länderehe allmählich Polen der nehmende, Litauen der gebende Teil wurde. Aber dies [73] blieb unvergessen. Selbst das gemeinsame harte Geschick unter der russischen Knute hat die kühle Zugeknöpftheit der Litauer gegen den Bruderstamm nicht mehr zu beirren vermocht. Die reinliche Scheidung von Kongreßpolen durch die Warschauer Verkündigung hat ihnen durchaus wohlgetan. Nichts konnte sie mehr erfreuen, als daß auf dem Ob. östlichen Papiergeld auch die litauische Sprache ihr Sonderrecht gefunden. Darum lieben sie uns zwar noch nicht, würden jedoch die deutsche Herrschaft vor der bisherigen als das kleinere Äbel empfinden.

So wenig wie sie mit den Polen, dürfen die Weißrussen mit den Großrussen zusammengebracht werden, was freilich von diesen zweckbewußt geschah. Es sind Nordukrainer, die man nach ihrer hellfarbigen Bauerntracht genannt hat. Ein unglückliches Volk, an dem wir viel gut machen müssen, was andere gesündigt. Zwischen Polen und Moskowiter eingekeilt, von beiden umschichtig vergewaltigt, haben sie es nie zu etwas bringen können. Weder zu einem selbständigen Staat, noch zu einem eigenen Kultur- und Wirtschaftsleben. Ihr ganzes Schrifttum besteht aus einigen Sammlungen ihrer [74] schwermütigen Volkslieder. Man kann die schmalen Bändchen in der Brusttasche forttragen. Ihre Sprache weicht von der russischen ab und ist mit finnischen Lehnworten aufgefüllt. Sie wird mit lateinischen Buchstaben geschrieben.

Auch im Bekenntnis prägt sich das verhängnisvolle Doppelhinken der Weißrussen aus. Sie gehörten zu dem Teil der griechischen Kirche, der gegen Ende des Mittelalters den päpstlichen Primat wieder anerkannte. Aber erst, nachdem gewisse Zugeständnisse verbrieft waren. Der gewohnte orientalische Ritus, die Muttersprache im Gottesdienst, der Laienkelch und die Priesterehe. Damit saßen sie jedoch erst recht zwischen zwei Stühlen. Zu polnischer Zeit galten sie nicht als römisch; noch weniger jedoch zu russischer als orthodox. Unter Katharina begannen die Zwangsbekehrungen; Nikolaus I. führte sie so gewalttätig durch, daß heute im besetzten Gebiete keine uniatische Geistlichkeit mehr zu finden ist.

In solch martervoller Gedrücktheit hat politisches Denken und Fühlen nicht erwachen können. Man nimmt den neuen Herrn an, wie man sich mit dem alten abfand. Schwierigkeiten werden uns die Weißrussen nicht machen. [75] Sie fühlen auch, wie es besser wird, aber sie trauen der Dauer noch nicht. In ihrer Sprache denken sie, was Lätitia Bonaparte bei jeder Glücksbotschaft ihres Sohnes auf korsisch-französisch zu sagen pflegte: „Pourvu que ça dure“.

Endlich die Juden. Sie treten ja hier nicht nur als Glaubensgemeinschaft, sondern – wie nirgend sonst auf der Erde – als Volksstamm auf. Allerdings keineswegs mehr reinrassig, sondern durch trübe Schicksale in mannigfaltigster Blutmischung. In ihrer Hauptmasse jedoch sind sie Nachkommen jener Reichskammerknechte vom Rhein und Main, unter denen im Mittelalter die Geißelfahrer mit Mord und Brand grausig wüteten. Verarmt und verschüchtert entflohen sie nach Polen, dessen König Kasimir ihnen aus Liebe zur schönen Esther seine Städte öffnete. Starke Familienfruchtbarkeit hat sie im Werden eines halben Jahrtausends zu einem Hauptbestandteil auch der litauischen Landesbewohnerschaft gemacht. Noch immer jedoch reden sie das Mittelhochdeutsch ihrer Väter. Verloddert freilich; mit hebräischen und slawischen Behelfen durchwachsen, gleichwohl noch zu verstehen, wie Dir die Probe von neulich dargetan haben wird. [76] So sind uns die Juden die geborenen Dolmetsche geworden. In Wilna und Kowno stellen sie fast die Hälfte der Einheimischen; in Bialystok sogar beinahe drei Viertel. Wir waren gerade während des Laubhüttenfestes dort. Alle Läden waren bis zum Abend geschlossen; manche von uns konnten sich nicht rasieren lassen. Wir alle mußten die Dunkelheit erwarten, um unsere kleinen, aber unumgänglichen Einkäufe an Ansichtskarten zu besorgen. Dafür drängten sich auf den Straßensteigen die schwarzen Heersäulen der Spaziergänger, und vor den Synagogen hing es wie die Bienentrauben zur Zeit der Lindenblüte an den Fluglöchern der Stöcke.

Um ihrer Sprache willen sind die Juden von den Russen deutscher Gesinnung, ja deutscher Späherei bezichtigt worden. Vorwand mehr, sie scheußlich zu behandeln. In Wahrheit ist der dortige Jude ein zu nüchterner Rechenmensch, um nicht früher und heute rein nach dem Handelsgewinne abzuschätzen. Ich frug einen Schmeie Tinkeles im glänzenden Lastingrock und hohen Stiefeln, der mir ein Wolfsfell käuflich anbot, ob ihm die deutsche Herrschaft lieber sei als die russische. Er zögerte etwas, schob sein [77] Käppchen zurück und blinzelte prüferisch mit kleinen Augen zwischen geröteten Lidern und schweren Tränensäcken: „Wie haißt“, sagte er mehrmals unsicher, „wie haißt?“ Endlich flüsternd, als ob mir ein Geheimnis offenbar werden sollte: „Wenn baim Ruß ich wollt erraichen viel, hob ich geben ä hundert Rubelchen. Will ich erraichen alles, nu, da gebb ich zwaihundert. Aber hait?“ – es kamen richtige Kummerfalten ins durchfurchte Gesicht – „gebe Se nem daitschen Beamten nor e poor Scheinchen, nor e poor bloß, gleich sperrt er Se ein. Un der Rewuch? – Nix! Net so viel!“ Er schnippte mit dem Finger. Das Wolfsfell ist er nicht losgeworden. Es waren Motten drin.