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Titel: Nur nicht nach Norden!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 415–416
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Nur nicht nach Norden!

Sie haben Sich in Ihrem Blatte die Förderung des Wohles aller Volksschichten zur Aufgabe gestellt; nicht in letzte Linie stellen Sie die Interessen der arbeitenden Classe. So gestatten Sie mir, daß ich Sie auf einen Gegenstand hinweise, durch dessen Besprechung Sie sich zunächst den Dank dieser Classe, dann aber auch den Dank Anderer erwerben würden, die ein Herz für das Volk haben und denen, wenn es gilt, ihren armen Mitbrüdern zu rathen, daran liegt, zuvor selbst ein sicheres Urtheil zu gewinnen. Ich habe das vollkommen zeitgemäße Thema im Auge: Welches Loos hat der deutsche Arbeiter bei seiner Uebersiedelung nach Rußland (specieller nach dem südlichen Rußland) zu erwarten?

Ein zeitgemäßes Thema? Der nachstehende Bericht, der sicher kein vereinzelt stehendes Factum erzählt, wird dieses Attribut rechtfertigen.

Auf einer Reise durch Deutschland gelangte ich kürzlich in das Gebirgs- und Badedorf E., im Herzen des Königreichs Sachsen gelegen. Zu einem längeren Aufenthalt an diesem Orte genöthigt, erging ich mich an dem Nachmittag des ersten Sonntags in den reizenden Parkanlagen, als mich der hereinbrechende Regen veranlaßte, meine Schritte einem Pavillon zuzulenken. Unter dem schützenden Dache desselben fand ich eine große Gruppe von Landleuten, der ärmlichen Kleidung nach zu schließen, dem Arbeiterstande angehörig, um eine Dame geschaart, deren elegante Toilette und noble Tournüre auf einen höhern Rang schließen ließ. Die Gruppe erregte meine Neugierde. Ich trat näher und fragte einen etwas abgesondert stehenden Herrn nach dem Begehr der Leute. Als mich derselbe stumm anstarrte, belehrte mich die Dame mit größter Zuvorkommenheit, der Herr verstehe kein Deutsch; er komme, wie sie, aus Rußland. Sie habe die Absicht, für ihren ausgedehnten Grundbesitz im Süden Rußlands eine große Zahl von Arbeitern zu engagiren, und die Leute, die hiervon Kunde erhalten hätten, seien gekommen, die Bedingungen des Engagements kennen zu lernen. Da die Dame der deutschen Sprache nicht völlig mächtig war, deshalb im Gespräch mit mir gewöhnlich in ein geläufiges Französisch überging, schien es ihr sehr gelegen zu kommen, bei ihrer Unterredung mit den Leuten in mir einen Dolmetscher zu finden. Es bot sich mir somit eine willkommene Veranlassung, Zeuge und resp. Vermittler der Verhandlung zu sein, die ich im Nachfolgenden, wenn auch nicht sprachlich, so doch sachlich treu wiedergeben will.

Zunächst trat eine Frau vor, überreichte ein Zeugniß der Ortsobrigkeit über des Mannes und der Familie sittliches Verhalten und fragte, ob sie hoffen dürfe, mit ihren sieben Kindern angenommen zu werden. „Sieben Kinder?“ Die Dame zuckte die Achseln. „Wenn ich auch wohl manchmal, dem Zuge meines Herzens folgend, mein eigenes Interesse hintenansetze,“ bemerkte sie, „so muß mir doch dieses im Allgemeinen maßgebend sein. Zunächst muß ich also auf die Leistungsfähigkeit der Anzuwerbenden mein Augenmerk richten, deshalb arbeitsfähigen, namentlich ledigen Personen vor Wittwen oder Eltern, die viele Kinder mitbringen, den Vorzug geben. Doch kommt dabei das Alter der Kinder in Betracht, da auch diese vom 8. Jahre an zur Arbeit, namentlich zum Viehhüten, zu verwenden sind.“ Als die Frau bemerkte, daß nur zwei der Kinder dieses Alter noch nicht erreicht hätten, wurde ihr die Weisung, daß dann die Kinderzahl wohl kein Hinderniß sei, die Gutsherrin sich aber ihre Entschließung vorbehalte, bis Alle, die auf das Engagement einzugehen beabsichtigten, ihre Certificate vorgelegt hätten und sie die Wahl treffen könne. Erst dann werde sie zum endgültigen Abschluß des Contracts schreiten; früher werde sie sich zu ermüdenden Verhandlungen mit Einzelnen nicht verstehen. Nichtsdestoweniger ließ sie sich herbei, schon jetzt die Hauptstipulationen des Contracts anzudeuten, indem sie zu diesem Zweck ein Papier hervorzog und die auf demselben in gebrochenem Deutsch gemachten Notizen vorzulesen und zu erläutern begann.

„Neben der Arbeitsfähigkeit,“ lautete die Auseinandersetzung, „lege ich auf den Ruf der Ehrlichkeit und „Fleißigkeit“ das Hauptgewicht. In aller Form Rechtens werde ich dies contractlich stipuliren, aber auch gleichzeitig betonen, daß „Grobigkeit“ und Trunksucht vom Engagement ausschließen. Damit ist aber nicht gemeint, daß der mäßige Genuß geistiger Getränke verboten sei. Es giebt bei uns ein aus Obst gewonnenes Getränk, Quas genannt, und auch der Branntwein ist nicht theuer.

„Jeder Familie von vier Erwachsenen, d. h. Personen von über fünfzehn Jahren – zählt eine Familie diese Zahl nicht, so werden ledige Leute oder eine zweite Familie ihr zugetheilt – überweise ich ein Haus, einen halben russischen Morgen Ackerland, eine Kuh, zwei Schafe und zwei Schweine.“

„Als Eigenthum?“ war die Frage.

„Die Kuh veranschlage ich nur zu zwanzig Thaler, das gesammte Vieh zu 32 Thaler, welche Summe in vier Jahren abgetragen wird. Erhält eine Familie auch erst nach Ablauf dieser Frist das volle Eigenthumsrecht, so kann sie doch schon früher durch Zucht von Jungvieh eigenen Besitz erlangen.“

„Reicht aber die Oberfläche für einen größern Viehstand aus?“ fragte ich.

„Gewiß,“ antwortete sie; „die Fläche ist eine ansehnliche. Bedenken Sie, daß der russische Morgen viel größer ist, als der hiesige, 1600 Sarschinen(?) enthält. Und dazu die Fruchtbarkeit des Bodens! – Der Arbeitslohn beträgt für erwachsene männliche Arbeiter jährlich sechzehn Thaler.“

Als die Gutsherrin sah, daß ich über diese Summe stutzte, erläuterte sie: „Auch die Frauen und, wie oben bemerkt, selbst die Kinder verdienen ja ihren, freilich verhältnißmäßig geringern Lohn. Außerdem bleibt es ja den Leuten unbenommen, auch am Sonntage für die Gutsherrschaft zu arbeiten und sich dadurch eine Extra Vergütung von resp. zwei bis vier Silbergroschen zu verdienen. Dann aber kommen die vielen Naturallieferungen in Anschlag. Jeder Erwachsene erhält monatlich 80 Pfd. Mehl, jedes Kind die Hälfte. Gegen den Herbst werden den Familien gewisse Quantitäten Fleisch, Flachs, Fourage für das Vieh – so und so viel Pud – und Feuerungsmaterial verabreicht. Ich dächte, die gebotenen Vortheile sind nicht geringe!“

„Aber,“ bemerkte ich, „es kommen nun die Gegenleistungen der Arbeiter in Betracht.“

„Was diese betrifft,“ entgegnete sie, „so übernehmen die Leute zunächst die Verpflichtung, jeden Wochentag von 6 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends, im Winter bis 7 Uhr, also täglich, wenn ich für das Mittagsessen 11/2 Stunden in Abzug bringe, 121/2 oder 111/2Stunden auf meiner Besitzung zu arbeiten. Des Rechts, die Arbeit nach ihrem Belieben auf kürzere oder längere Zeit einzustellen oder bei andern Gutsherrschaften sich zu verdingen, haben sie sich zu begeben.“

„Welche Zeit.“ fielen Mehrere fragend ein, „verbleibt uns zur Bewirthschaftung des eigenen Ackers?“

„Dazu reichen die Morgen- und Abendstunden völlig aus. Ihr werdet doch im Sommer füglich um 4 Uhr an die Arbeit gehen und auch nach 8 Uhr Abends noch thätig sein können? Beachtet dabei wohl, daß bei der Güte des Bodens, der z. B. des Düngers gar nicht bedarf und ohne große Mühe reichen Ertrag liefert, die Bearbeitung desselben eine nicht doppelt, nein zehnfach so leichte ist, als hier. Ueberdies habt Ihr ja auch den Sonntag für Euch, falls Ihr nicht vorzieht, Euch einen Extra-Tagelohn zu verdienen oder einmal zur Stadt zu gehen. Nebenbei bemerkt, so bedürft Ihr im letztern Falle zu Eurer „Legitimation“ eines Scheines von mir, auf dem Ziel und Dauer der Reise bemerkt ist.“

„Wie steht es mit dem Rechtsschutze der Einwanderer?“ fragte ich.

„Es ist mir um Herstellung eines patriarchalischen Verhältnisses zu thun. Deshalb behalte ich mir vor, Streitigkeiten der Leute unter einander persönlich zu schlichten. Auch führe ich über ihr Verhalten genaue Controle. Zu diesem Zwecke überliefere ich jedem Arbeiter ein Buch, in das in gewissen Zeitabschnitten die Censur seiner Aufführung eingetragen wird. Fällt diese ein Dutzend Mal hintereinander belobend aus, so hat der Inhaber zu erwarten, daß sich mein Wohlwollen in Verabreichung eines kleinen Geschenkes erweise. Im andern Falle verhänge ich Strafen, die sich graduell steigern. Das Zeugniß der „Grobigkeit“ z. B. zieht bei der ersten Wiederholung eine Strafe von 15 Ngr., bei der zweiten von 1 Thaler nach sich. Die Strafgelder kommen aber nicht etwa mir, sondern einer besondern Casse der Wittwen und Kinder zu gute.“

Es lag mir hier nahe, auch über die rechtliche Stellung der Leute der Gutsherrschaft gegenüber in’s Klare zu kommen: doch brachte ich darüber die Ansicht der Dame nicht in Erfahrung. Auf meine Frage, ob dem Arbeiter die Rückkehr gestattet sei, wenn ihn die Ortsveränderung reue, erwiderte sie lächelnd: „Das hat nichts zu sagen; dazu ist ihre Lage dort zu befriedigend. Uebrigens sind sie auf wenigstens 12 Jahre contractlich an das eingegangene Dienstverhältniß gebunden.“

Die weitere Unterredung drehte sich um das Klima den südlichen Rußland, das die Gutsherrin im Vergleich zu dem hiesigen als viel milder schilderte, wobei sie auf den Schutz hinwies, den gute Wohnungen, warme Kleidung und geheizte Stuben gegen Winterkälte böten. „Wie ärmlich,“ rief sie, gegen mich gewendet aus, „sind hier die ländlichen Wohnungen, welche sie ringsherum liegen sehen! In Euern warmen Stuben,“ fuhr sie gegen die Arbeiter gewendet fort, „soll Euch die Kälte nichts anhaben. Und an Feuerung fehlt’s nicht. Giebt’s auch bei uns kein Holz, so ist doch Stroh und Dung, der zu „Steinen“ geformt wird, genug vorhanden. Während Ihr überdies hier oft nichts aus dein Leibe habt, besitzt dort schon jedes Kind seinen Schafpelz.“

Zu meinem Leidwesen hatten sich alle Fragen der Arbeiter ausschließlich um materielle Dinge gedreht. Ich konnte schließlich die Frage nach den kirchlichen Verhältnissen und dem Bestehen von Schulen nicht zurückhalten. Die Gutsherrin meinte in Beziehung hierauf, den Schulunterricht könnten füglich die Eltern den Kindern ertheilen, und was das religiöse Bedürfniß anlange, so sei dafür durch Prediger aller Confessionen gesorgt, welche von den Städten aus die umliegenden Gebiete in der Nähe und Ferne bereisten.

„Was fällt übrigens,“ rief sie aus, „dieser Punkt in's Gewicht! Was nützt den Leuten alles Andere, wenn sie Nichts zu leben haben! Das leibliche Wohl steht in erster Linie. Daß die Leute in ärmlichen Verhältnissen leben, beweist mir ja, daß sie sich in Schaaren herzudrängen! Warum gestattet man mir nicht, daß ich sie in eine bessere Lage versetze? Habe ich doch ihr Bestes im Auge! Macht man mir in Preußen den Vorwurf, ich verleite die Leute, und untersagt die Anwerbung! Von der hiesigen Regierung erwarte ich größere Willfährigkeit. Sonst gehe ich nach Kurhessen, wo ich sicher günstigen Boden für Erreichung meines Zweckes finde!“

Die größte Zahl der Landleute, unter denen sich auch einige Handwerker befanden, welchen ein größerer Lohn, z. B. einem Schmiede vierzig Thaler, verheißen wurde – namentlich Radmacher und Bauhandwerker wurden willkommen geheißen – schienen durch diese vorläufigen Erklärungen völlig befriedigt und gaben ihren Entschluß kund, bei den Ortsbehörden die geforderten Sittenzeugnisse einzuholen und dann nach festem Abschluß des Engagements den Consens zur Auswanderung nachzusuchen.

Auf dem Rückwege gesellten sich einige der Leute zu mir und knüpften über das Verhandelte eine Unterredung mit mir an. Es befremdete mich, aus ihren Bemerkungen zu vernehmen, daß sie über die theilweise augenscheinlich ungünstigen Bedingungen ganz hinwegsahen und nur für die gebotenen Vortheile, deren allzu grelle Beleuchtung sie bestochen haben mochte, Augen hatten. Uebrigens schien die Persönlichkeit der verhandelnden Dame hauptsächlich auf sie bestimmend eingewirkt zu haben. Einsender gesteht, daß der persönliche Eindruck, den die Dame durch ihr offenes, menschenfreundliches Wesen auf ihn machte, ein vortheilhafter war und ihm namentlich ihre Versicherung, daß es ihr um das leibliche Wohl der Leute zu thun sei, eine aufrichtig gemeinte zu sein schien. Nichtsdestoweniger [416] wird es sich Niemand verhehlen, daß in der Ehrenhaftigkeit des persönlichen Charakters keine Gewähr für die glückliche Zukunft der Armen liegt, die ihrem Vaterlande den Rücken kehren. Meine Begleiter, denen alle einschlägigen Verhältnisse völlig fremd waren, zu überzeugen, daß persönliches Vertrauen allein eine unzureichende Grundlage ihrer Wohlfahrt sei, konnte mir in der Kürze der Zeit freilich nicht gelingen. Doch erreichte ich wenigstens so viel, daß sie sich vornahmen, nicht ohne nochmalige reifliche Erwägung in der Sache vorzugehen. Nur ein in vorgerückten Jahren stehender Mann war durch den Hinweis auf die Rechtssicherheit, deren sie sich hier im Vaterlande erfreuten, völlig umgestimmt. „Kinder,“ rief er, „wir bleiben hier. Hier seind wer doch freia Leut!“

So viel wurde mir klar, daß es eine dankbare Pflicht jedes Menschenfreundes ist, in seinem Kreise, wo es Noth thut, für Aufklärung und Belehrung der armen Mitbrüder zu wirken, vor allem aber auch Pflicht der Organe der Presse, im Interesse unseres Volks diese Angelegenheit allseitig zu besprechen. Nochmals sei sie auch Ihnen, Herr Redacteur, auf’s Wärmste empfohlen, da Ihr Blatt in allen Theilen des Vaterlands, wo auch die Propaganda auftreten mag, seine Leser hat.