Textdaten
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Autor: Eugen Friese
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Titel: Norwegische Jagdskizze
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 656–659
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[656]
Norwegische Jagdskizze.
Von Eugen Friese. Mit Abbildungen von Gustav Wendling.


Der Renthierjäger Bjarne.

Ich besaß einen lieben Freund, einen ausgezeichneten Jäger, der mir oft von einer Jagd auf Renthiere sprach, die er dereinst auf einer Reise in Norwegen mitgemacht habe.

Von den Todten soll man nur Gutes reden! Aber – der Himmel verzeihe mir die Sünde! – der gute Alte hat mich furchtbar belogen. Er erzählte, wie er im Boote mit den norwegischen Jägern über den Fjord gefahren, wie sie am andern Ufer von den Genossen erwartet und mit fröhlichem Jagdrufe empfangen worden seien. Dann sei man nach kräftigem Imbiß und Trunk hinausgezogen zum fröhlichen Jagen, ganz wie bei uns. Nach kurzer Wanderung habe man das Jagdgebiet erreicht gehabt, die Schützen seien angestellt worden, und „das Treiben auf Renthiere“ habe begonnen. Wie das Auge des alten Freundes in jugendlichem Feuer leuchtete, – wie er die beiden Hände vor Eifer emporstreckte, so lang die Arme reichten, um sie, zu Fäusten geballt, donnernd auf die Tischplatte fallen zu lassen, die sich unter der Wucht derselben (oder unter der Wucht der Lüge?) zu biegen schien. Der Leser erlaube mir, ihn selbst sprechen zu lassen:

„Da stand ich nun in einer Einöde, gegen die unsere Tucheler Heide ein Wiener Café genannt werden kann. Kahle Granitwände rechts und links, und ich mitten drinnen wie in einer Schüssel, die nach den anderen Seiten, nach vor- und nach rückwärts, sanft ausläuft. Es war ein Engpaß, in den sie mich postirt hatten, ein gezwungener Wechsel von dem Hochfjeld nach den niedriger gelegenen Trakten; – durch diese hohle Gasse mußten sie kommen! Und sie kamen! – prasselnd, donnernd, ein Wald von unförmlichen Schaufelgeweihen. Der Granit schien unter ihren Hufen zu wanken, polternd stürzte Steingeröll von der Höhe mir entgegen, und dahinter gleich einer Eskadron, die zum Angriff vorgeht, die zottigen Hälse der Renthierheerde.

Ich hatte nur Zeit, mich an die Granitwand des Engpasses zu drücken, dann waren sie heran, nein, vorüber! – und ich hatte gefeuert – zweimal gefeuert, und zwar auf den stärksten Bock, den ich mir unter allen ausgewählt hatte. Vor Scham hätte ich in die Erde sinken mögen, er stürzte nicht unter dem Feuer. Was würden die Norweger zu dem ‚Tysker‘ sagen, der in seiner Heimath ein berühmter Jäger sein sollte?

Aber hier lagen Schnitthaare, dort Schweiß zu beiden Seiten der Flucht, und dann – Hauptmann, ich vergesse es im Leben nicht! – war der Bock keine fünfzig Schritte vom Anschuß zusammengebrochen!“ –

Das war der Augenblick, wo die wuchtigen Fäuste des alten Freundes zur Tischplatte niedersanken und ich in meinem Innern einen Schwur that, dereinst wie er einen Renthierbock zu strecken. Dann wurde zum Schluß als Bekräftigung des Ganzen, gewissermaßen als Beweismittel für die Wahrheit der Jagdgeschichte, das mächtige, noch nicht abgefegte Geweih gezeigt, und die verehrte Gattin meines Freundes knüpfte daran an, welche entsetzliche Mühe es gekostet habe, dasselbe unversehrt in die Heimath zu befördern. Da man es nämlich noch weich mitgenommen habe, so sei es für sämmtliche Mitreisende eine Qual gewesen, in seiner Nähe zu weilen, – es habe gar abscheulich gerochen. – –

Nun war ich selbst auf einer Reise in Norwegen, und ich konnte mich nicht mehr enthalten, meinem werthen Gastfreunde B., der mich so liebenswürdig aufgenommen hatte, die Geschichte des landsmännischen Nimrods zu erzählen. Freund B. lächelte etwas spöttisch, was sonst nicht seine Art war, sagte aber nichts, sondern meinte nur, ich würde das Vergnügen ja vielleicht noch aus eigener Anschauung kennenlernen.

Und so kam es auch. Eines Tages klopften wir an die Thüre der Behausung eines Renthierjägers, der uns als guter Führer auf einer Hochfjeldspürsche empfohlen war. Die Hütte lag in einer zerklüfteten Gebirgsschlucht, durch die der Gletscherbach tosend seine Wasser zu Thal schickte, in trauriger, vegetationsloser Umgebung – aus roh über einander geschichteten Baumstämmen gezimmert. An langen Bindfäden, die an den in die Holzwände getriebenen Pflöcken befestigt waren, hingen farblose, dünne Streifen Renthierfleisch und Fische, der Wintervorrat des Jägers, der ihm von der Sonne und der Luft gedörrt wurde. Ich dachte mit Genugtuung an unsere mitgenommenen Vorräthe, die uns instand setzten, diese schrecklichen, nordischen Genüsse entbehren zu können.

Längere Zeit schon hatten wir unsere Anwesenheit in oben erwähnter Weise kundgetan. ohne damit irgend ein Lebenszeichen im Hause wachzurufen, bis uns endlich ein schlürfender Schritt von dem windschiefen Stallgebäude her zum Umsehen veranlaßte. Es war eine überaus traurige Figur, die sich uns nahte: die eine [657] Schulter tiefer als die andere, der Oberkörper vornüber gebeugt; dazu hinkte die Gestalt, indem sie den einen Fuß wie erlahmt nachschleppte; das war unser neuer Wirth, der berühmte Renthierjäger. Das einzige. was mir an dem verkrüppelten Menschen Interesse einflößte, war das stahlhelle Auge in dem runzligen, abschreckenden Gesicht; in ihm bekundete sich Energie und Spannkraft in merkwürdigem Gegensatz zu der verwitterten äußeren Hülle.

Nachdem uns Bjarne – so hieß der Mann – seinen Willkomm geboten hatte, folgten wir ihm in das räucherige, sonst aber reinliche Innere der Hütte. Während wir dem Führer unser Gepäck abnahmen und aus demselben die zu unserer Verpflegung nöthigen Lebensmittel herauskramten, konnte ich nicht umhin, meine Bedenken hinsichtlich der Leistungsfähigkeit unseres Wirths auf der Jagd auszusprechen; ich war der Ansicht, der Mann sei doch zu allem, nur nicht zum Ertragen von Jagdstrapazen geschaffen.

Die Hütte Bjarnes.

Bald wurde mir die erste Belehrung über Renthierjagd und Renthierjäger zu Theil. Ich erfuhr, daß gedachter Sport zum Anstrengendsten und Aufreibendsten auf diesem Gebiete gehöre. Beweis dafür sei unser Wirth selbst. Das Nächtigen unter freiem Himmel, im besten Falle in den einsamen Steinhütten auf dem Hochfjeld, dann die Jagd selbst, das lange Kriechen über Schneefelder und Hochmoore, um an das scheue Wild heranzukommen, das alles seien Dinge, die man ungestraft selbst dem festesten Körper nicht zumuthen dürfe.

Und unser Wirth gab uns danach, als wir bei einem Glase Toddy, einer Art Grog aus Branntwein, Wasser und Zucker, saßen, die Bestätigung der Worte meines Freundes. Er erzählte, wie er früher ein gerader, straffer Bursch gewesen sei, stark wie ein Bär und ausdauernd wie kein anderer weit und breit. Erst habe er die Jagd zum Vergnügen betrieben; dann aber sei sie sein Gewerbe geworden, und damit hätte ihn der Rheumatismus überfallen und den einst so geraden Körper krummgezogen wie eine Latsche auf dem Hochgebirge. Wenn er nun auch oftmals keine Lust mehr verspüre zur Jagd, er müsse hinaus trotz seines Reißens, um nicht zu verhungern.

Meine ideale Anschauung von der Renthierjagd, genährt durch die Erzählung des verstorbenen Freundes, schrumpfte mehr und mehr zusammen. Das traurige Aeußere unseres Wirths war nur zu sehr geeignet, meine Jagdleidenschaft zu dämpfen. Erst als er von seinen überraschenden Erfolgen erzählte, erwachte dieselbe wieder von neuem; er hoffe, noch in diesem Jahre das neunte Hundert Renthiere voll zu machen. Ich stellte danach eine nach dem Eingangs Erzählten wohl begreifliche Frage, wieviel der Thiere er wohl auf Treibjagden geschossen habe.

Freund B. lachte laut heraus. Er verdolmetschte Bjarne meine Worte, und nun nahm auch dieser an der Heiterkeit theil.

„Renthiere treiben?“ sagte er. Ebenso gut kannst Du auch Adler treiben. Das Hochfjeld, auf dem das Renthier seinen Stand hält, gleicht der unendlichen Luft. Da ist’s nicht möglich, es einzukreisen, man müßte denn Hunderttausende von Treibern und Schützen aufbieten. Und selbst dann würde es nicht gehen, weil das Renthier, wie die Gemse, noch sicher über Schneehalden und Hochmoore wandert, wo kein Mensch mehr fußen kann; die Pürsche, das Anschleichen ist die einzig mögliche Jagdart.“

Jetzt wurde es mir klar: an den seligen Freund war der Versucher in Gestalt seines unvergleichlichen Erzählertalents herangetreten. Ich legte den Genuß, den er mir mit seiner Renthierjagdbeschreibung bereitet hatte, gegen meinen Zorn über die Täuschung in die Wage und verzieh ihm aufrichtig.

Nachdem ich so meine gänzliche Unbekanntschaft mit den Lebensgewohnheiten und der Jagdart des Renthieres eingesehen hatte, ließ ich mich gern von meinen Gefährten über die einschlägigen Dinge belehren.

Die Jagd auf Renthiere ist wohl, was Anstrengung und Entbehrungen betrifft, weit über die Gemsjagd zu stellen. Wenn auch das Steigen in den Alpen und der hohen Tatra ermüdend genug ist, so findet man zur Nachtzeit meistens ein Unterkommen in einer Sennhütte; jene Gebirge sind eben bereits kultivierter. Auf den skandinavischen Hochfjelds heißt es, die Nahrung mit [658] sich tragen und die Nächte an der Grenze der Schneeregion unter freiem Himmel und bestenfalls in einer jener Steinhütten verbringen, die vom skandinavischen Alpenklub in anerkennenswerther Weise vereinzelt hergerichtet worden sind, deren Baumaterial roh aufeinander geschichtete Granitblöcke bilden, und durch deren handbreite Fugen der Wind wie aus einem Blasbalge bläst. –

Am Nachmittage des Tages unserer Ankunft bei Bjarne waren wir durch die enge Felsschlucht und endlich auf Ziegenpfaden nach dem Fjeld aufgestiegen. Gegen Abend, als über den Thälern bereits dunkle Schatten lagen, erreichten wir den Kamm der Hochebene, die noch vom Licht der niedergehenden Sonne beschienen wurde. Ein Alpenglühen habe ich in den skandinavischen Alpen nie beobachten können, dafür bin ich oft entzückt gewesen über die wunderbare Pracht der Farben, welche über den Fjord- und Gebirgslandschaften liegen. Sind sie doch zu Zeiten satter, wechselvoller, als der Süden sie uns zeigt. Es wirkt hier auf Schritt und Tritt der Gegensatz von Fels und Meer, zwischen der üppigen Vegetation der Fjords und den darüber liegenden ungeheuren Gletscherfeldern.

Vor dem Schuß.

Als wir die einsame Steinhütte an dem Rande des unübersehbaren Hochmoors erreicht hatten, blieb ich noch lange draußen stehen und gab mich ganz dem Zauber des eigenartigen Landschaftsbildes hin: eine einzige, von braunem Heidekraut übersponnene Fläche, aus der kahle Felsblöcke hervorragten, dazwischen aber grüne, saftige Flecken von einer Lebhaftigkeit der Farbe, wie wir sie an der Patina auf kupfernen Bedachungen bewundern; endlich im Hintergrunde weiße Streifen in den Rinnen einer allmählich ansteigenden Felsmauer, deren Kamm ein einziges, großes Schneefeld bildet, darüber das rosige Licht des niedergehenden Tagesgestirns und eine Ruhe, eine heilige Stille, wie sie vielleicht nur noch die Wüste kennt.

B. rief mich herein.

Bjarne hatte in einer Ecke der Hütte ein Feuer aus Reisig angezündet und bereitete in einem kleinen Blechkessel heißes Wasser, um den unvermeidlichen Toddy herzustellen. Ich sah mich nach unserem Nachtlager um. Unweit der Thür lag ein Haufen halbvermoderten Strohs, das war alles; von irgend einem Stück Möbel keine Spur! Der innere Raum der Hütte war ein Ganzes. Die rohen Steinwände, deren Fugen mit Moos verstopft waren, zeigten kein Fenster, das Licht fiel durch die Thür herein. Kein Herd, kein Rauchfang! Der ätzende Dampf des feuchten Reisigs belästigte Augen und Lungen, sodaß wir herzlich froh waren, als Bjarne endlich den Kessel abhob und Torferde über die glimmenden Scheite warf, um die Gluth zu ersticken.

Unser Abendbrot bestand aus Toddy, steinhartem Roggenzwieback und einem Stück Wurst. Wir mußten sparsam mit unseren Vorräthen umgehen, weil wir nicht wußten, wie lange unsers Bleibens auf dem Hochfjeld sein würde. Frühzeitig streckten wir die müden Glieder auf dem Stroh aus, bedeckten uns mit unseren Mänteln und schliefen bald ein; das heißt, wenn man einem Zustand den Namen „Schlaf“ beilegen darf, in welchem man so ziemlich alles sieht und hört, was um einen her vorgeht. Mir entging kein Schnarchlaut des Alten, keiner der unterdrückten Flüche meines Gefährten, die der unliebsamen Schar von Blutsaugern galten, welche in dem Stroh lange genug gehungert haben mochten und jetzt über uns herfielen, als wollten sie sich auf vierzehn Tage sättigen.

Ich stand endlich leise auf und ging hinaus, wo ich mich neben [659] der Thür auf einen Stein setzte und in die Nacht lauschte. Wohl eine Stunde mochte ich so zugebracht haben, ein leises Frösteln zog durch meinen Körner, als ich plötzlich einen langen, klagenden Pfiff hoch über mir vernahm. Der Laut wiederholte sich; ich errieth den Urheber, es war ein Regenpfeifer, der seine luftige Morgenpromenade machte. Gleichzeitig fühlte ich meine Schulter berührt. Bjarne stand neben mir und hielt mir einen Becher Toddy entgegen. Wieder der unvermeidliche Toddy! – aber ich nahm und trank ihn; denn es war ja das einzige Warme, was ich heute zu erwarten hatte.

Eine halbe Stunde darauf befanden wir uns auf der Wanderung über das Hochfjeld, ohne Weg und Steg in der Richtung, wo ich bei Tage die schneegekrönten Bergriesen gesehen hatte. Ueber Steingeröll, durch Moräste, Sümpfe und hohes, verfilztes Heidekraut führte uns Bjarne. Es war zum Erstaunen, wie der lahme, schier verkrüppelte Mensch noch ausschreiten konnte, sodaß wir Mühe hatten, ihm auf dem überaus mühseligen Marsch zu folgen. Endlich, – im Osten hellte sich’s bereits mehr und mehr auf – machten wir in einer Bodenvertiefung Rast. Zuerst wurde der phosphoresrirende Schein der Gletscherfelder deutlicher sichtbar, dann traten die Bergkuppen erkennbar hervor, und endlich floß eilt bleifarbenes Licht über die Landschaft, die sich in ihrer schaurigen Oede in unabsehbare Fernen hinstreckte.

Bjarne wandte sich an meinen Gefährten.

„Schlecht Wetter giebt’s!“ sagte er, „Regen oder Schnee, je nachdem der Wind sich dreht. Kommt das erste, dann ist’s mit unserer Jagd am Ende!“ – Damit stand er auf und winke uns, ihm zu folgen.

Vorsichtig, in halbgebückter Haltung ging es weiter. Wir ließen jetzt die Schneefelder links und wandten uns etwa parallel mit denselben nach einem großen Bruch, dessen grüne Farbe bereits deutlich gegen das braune Heidekraut abstach. Wir mochten uns demselben bis auf etwa zweitausend Schritte genähert haben, als Bjarne plötzlich stehen blieb und die Rechte uns Halt gebietend zurückstreckte. Dabei wurde seine Gestalt zusehends kleiner, er sank allmählich in sich zusammen, was wir richtig dahin deuteten, er sehe Wild vor sich; – wie er, so thaten auch wir.

Endlich lagen wir alle drei lang am Boden.

„Renthiere vor uns! – sechs an der Zahl,“ flüsterte der Normann. „Im Moor lagern sie, das Leitthier steht oben am Rande.“

Ich fragte B., was Bjarne gesagt habe. Er übersetzte mir die Worte, wurde aber sofort von jenem unterbrochen.

„Pst! – sprecht nicht, sondern folgt mir jetzt!“

Unser Führer wollte fort, aber mein Reisegefährte bedeutete ihn, noch einen Augenblick zu verweilen. Er holte seinen vortrefflichen Feldstecher aus dem Etui, hob sich auf den Knieen und blickte durch das Glas, woraus er es kopfnickend mir gab. Ich folgte seinem Beispiel und konnte gleich danach einen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken, der dem scharten Auge des Norwegers galt. Ich hatte mir daheim auf die Schärfe des meinen etwas eingebildet, hier hatte mich dasselbe jedoch gänzlich im Stiche gelassen.

Das Renthier ändert die Farbe der Decke nach der Jahreszeit. Während dieselbe zur Frühlingszeit fahlgrau erscheint und von dem schmutzigen, schmelzenden Schnee kaum unterschieden werden kann, wachsen im Winter viele weiße Haare dazwischen. Jene fahle, graue, ins Bräunliche gehende Färbung macht es dem Thiere leicht, sich in dem braunen Heidekraut, in den Morästen und auf dem dunklen Gestein zu verbergen. Anfänglich sah ich selbst durch das Glas nur das Leittier mit seinem mächtigen zackigen Geweih. Dasselbe stand gleich einem einsamen Posten auf einem weit überragenden Punkt unbeweglich da. Erst nach längerem Suchen gelang es mir, das Rudel zu finden, welches, aus fünf Stücken bestehend, mitten im Moor ruhte und sich jedenfalls der angenehmen Beschäftigung des Wiederkäuens hingab.

Bjarne hatte mit einem Blick die Sachlage erkannt und danach seinen Plan eingerichtet. Auf allen Vieren, die Büchsen vorsichtig neben uns herschiebend, wandten wir uns nach rechts. Mehrere hundert Schritt mochten wir so vorwärts gekommen sein, als der Normann geradeswegs auf das Wild zubog; wir folgten seinem Beispiel. Indem ich ein wenig meinen Kopf hob, sah ich in gerader Richtung vor uns mehrere große Felsblöcke über dem Heidekraut. Gelang es uns, diese, unbemerkt von dem Leittier, zu erreichen, so waren wir in guter Büchsenschußweite von dem ganzen Rudel.

An den Boden gepreßt gleich dem Indianer, der den Feind in der Prairie beschleicht, krochen wir weiter, jetzt einer hinter dem andern in einer Linie – Bjarne voran. So gelangten wir glücklich hinter jene Deckungsmittel und machten nun auf einen Wink unseres Führers die Büchsen schußfertig. Letzterer zog mich nach rechts, während er B., von dem er wußte, daß er bereits wiederholt Renthierjagden mitgemacht hatte, bedeutete, um die linke Ecke der Felsen seinen Schuß abzugeben.

Es war verabredet, daß ich zuerst feuern sollte, und zwar auf das Leitthier. In der Gewohnheit der Rentiere liegt es, nach dem ersten Schuß, ehe sie sich der Gefahr ganz klar werden und fliehen, erschreckt auf derselben Stelle, auf der sie gelegen haben, aufzuspringen und stehen zu bleiben, sodaß die andern Jäger gut Zeit haben, ihrerseits eine Kugel anzubringen, was bei dem lagernden Wild infolge der gleichmäßigen Farbe ihrer Decke und der Umgebung äußerst schwierig ist. Um ganz sicher zu gehen, hielt Bjarne mich anfänglich zurück, damit er zuvor selbst noch Auslug halte. Zoll um Zoll schob er sein verwettertes Gesicht hinter dem Stein vor, plötzlich aber schnellte er wie eine Feder empor, riß die Büchse an die Backe, und im nächsten Augenblick knallte sein Schuß über die einsame Heide.

„Jerf!“ Das war das einzige Wort, womit Bjarne uns sein Thun erklären wollte; dann rannte er spornstreichs nach dem Moor hinunter, sodaß wir Mühe hatten, ihm zu folgen.

Die Renthiere waren verschwunden wie von der Erde verschlungen. Während wir uns an sie heranpürschten, waren sie, unbemerkt von uns, flüchtig geworden, und die Ursache, die unsere Jagd mißglücken gemacht hatte, hob eben der Normann in Gestalt eines schwarzen Thieres aus einem Gewirr von kaum fußhohen Zwergbirken empor. Es war ein Vielfraß, den seine Kugel niedergestreckt hatte, ein stattlicher Bursche von wohl drei Fuß Länge – das von den norwegischen Jägern bestgehaßte Raubtier. Vor ihm hatten die Rentiere die Flucht ergriffen.

Der Vergnügteste von uns war Bjarne; bekam er doch neben dem Preis für das schöne Pelzwerk noch die Staatsprämie, die auf den Kopf des Jerfs gesetzt ist. Als ich das verhältnißmäßig keine Thier betrachtete, wollte es mir nicht recht in den Sinn, daß dasselbe imstande sein sollte, ein Renthier zu schlagen; allein ich wurde von meinen Gefährten eines andern belehrt.

Neben kleinerem Wild, als Schneehühnern und Alpenhasen, fällt der Vielfraß selbst Elenthiere und auf den Säters weidendes Vieh an, indem er seinen Opfern an den Hals springt und ihnen die Gurgel zerreißt. Bei der Unwirthlichkeit der Gegenden, in denen er sich aufhält, bei seinen scharfen Sinnen ist es selbst den geübtesten Jägern sehr schwer, seiner habhaft zu werden. Man fängt ihn in starken Drahtschlingen oder in verschiedenen Arten von Holzfallen, in die man ein Aas als Köder legt. Bjarne zeigte uns später in seiner Behausung mehrere solcher Fallen, die zum Theil Aehnlichkeit mit unsern Klappfallen zum Marderfang hatten, nur daß sie, der Körpergröße des zu fangenden Thieres entsprechend, auch größer waren.

Ich sollte keine Renthiere mehr zu Gesicht bekommen! Für heute hatte die Jagd selbstredend ein Ende, weil keine Aussicht vorhanden war, das einmal flüchtig gewordene Rudel von neuem anzupürschen. Außerdem bestätigte sich Bjarnes Ansicht über das Wetter. Dichte Nebelmassen thürmten sich über dem Hochfjeld, sie verwandelten sich in Regen, und wir mußten froh sein, nach einer überaus beschwerlichen Wanderung über das schlüpfrige Gestein, bis auf die Haut durchnäßt, die Hütte unseres Führers noch vor Abend zu erreichen.

Da das schlechte Wetter anhielt, stiegen wir zum Fjord hinab und dampften schon am nächsten Tage weiter. Wir hofften, später von Christiania aus Gelegenheit zur Renthierjagd zu haben, es wurde uns dieselbe auch von seiten der liebenswürdigen Bekannten meines Freundes B. geboten, allein wieder machte uns der Regen einen Strich durch die Rechnung. Es war mir nicht beschieden, ein stolzes Schaufelgeweih als Jagdbeute mit in die Heimath zu bringen, Nun, dafür hatte ich doch die Genugtuung, daß über mein Reisegepäck kein Mitreisender die Nase rümpfte!