Nihilismus und russische Dichtung (4. Iwan Turgenjew)

Textdaten
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Autor: Wilhelm Goldbaum
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Titel: Nihilismus und russische Dichtung, 4. Iwan Turgenjew
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 578–582
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Nihilismus und russische Dichtung.
Studien von Wilhelm Goldbaum.
4. Iwan Turgenjew.

Wie Raketen im Kriege die feindliche Stellung anzeigen, so hatten die Dichtungen Nicolaus Gogol’s den Punkt offenbart, auf den das Mißvergnügen, das in den einsichtigen Volksschichten angehäuft lag, sich entladen sollte. Der Leibeigene, die „todte Seele“, mußte zu menschlichem Dasein emporgehoben, der Beamte, dieser Vampyr, ausgerottet werden. Aber damit war noch nicht viel gethan. Zu einem Angriffe gehört ein Plan, eine Aufstellung, eine Recognoscirung; es ist nicht genug, daß man den Feind kenne; man muß auch wissen, wie ihm beizukommen ist. Das aber liegt außerhalb der Grenzen, welche der Dichtung gesetzt sind. Hier muß der Agitator, der Publicist an’s Werk gehen. Und zwei Männer, Alexander Herzen und Michael Bakunin, traten auf den Schauplatz, um das Mißvergnügen aus der literarischen Sphäre hinüberzutragen auf den Boden des wirklichen Lebens. Herzen war ein großer Publicist und nur in sehr beschränktem Sinne auch ein Dichter. Er hatte an sich selbst erfahren, was der russische Despotismus und die russische Mißwirthschaft bedeuteten; denn man hatte ihn umhergehetzt von einem Ende des Reiches zum andern, ihn in Nischnei-Nowgorod internirt, wo er, im Range eines Hofrathes stehend, die wegen mißliebiger politischer Gesinnungen der polizeilichen Aufsicht verfallenen Leute, also auch sich selbst, zu überwachen hatte und in jedem Wochenrapport neben seinem eigenen Namen die Worte „gut aufgeführt“ schrieb. Dem Exil war er auf die Dauer doch nicht entgangen, und von London aus schleuderte er mit jedem neuen Hefte des von ihm gegründeten Blattes „Die Glocke“ einen neuen Funken unter das russische Volk. Er war es, der zuerst den Ruf nach Reformen erhob. Gleichzeitig wühlte Bakunin, ein kraftvoller, aber roher Agitator, aus dem Mißvergnügen die socialistischen Elemente heraus.

Verlangte Herzen nur Reformen, so predigte und betrieb Bakunin schlechtweg die Revolution, die Anarchie. Waren bis dahin das Unbehagen, die Unzufriedenheit, die Auflehnung nur in der Dichtung zum Ausdrucke gelangt, so wurden sie durch Herzen zu politischen, durch Bakunin zu socialistischen Factoren. Und damit war die strategische Aufstellung gegenüber dem Feinde vollendet. Nicht die Urheber des Nihilismus, wie man wohl gemeint hat, sind Herzen und Bakunin gewesen, sondern sie haben ihn kampffähig gemacht.

Wenn man verstehen will, wie merkwürdig zwischen Dichtung und Leben die Fäden hin- und herüberlaufen, so muß man das Bekenntniß Iwan Turgenjew’s lesen, das er noch lange vor dem Ausbruche des Kampfes in dem „Tagebuch eines Jägers“ abgelegt hat. Da dreht sich – es ist im Todesjahre Gogol’s – Alles noch um die Leibeigenschaft.

„Ich konnte,“ sagt er, „nicht mehr die gleiche Luft athmen, noch in einer Atmosphäre leben, die ich verabscheute. Ich mußte mich von meinem Feinde entfernen, um mit mehr Gewalt über ihn herzufallen. Dieser Feind hatte eine genau bestimmte Form und trug einen bekannten Namen: es war die Leibeigenschaft. Ich beschloß, bis zu meinem Ende gegen ihn anzukämpfen, und schwor, mich nie mit ihm auszusöhnen. Das war für mich der Schwur des Hannibal.“

In dem „Tagebuch“, dieser originellsten aller novellistischen Skizzensammlungen, steht Turgenjew noch unmittelbar unter dem Einflusse Gogol’s; sein volles und eigenes Besitzthum ist nur eine durch Wehmuth gedämpfte pessimistische Weltanschauung. Die „todte Seele“ wandelt ihm gespensterhaft nach auf Schritt und Tritt. Sie heißt bald so und bald anders, aber es ist immer herzerschütternd, sie zu sehen. „Dieser Mensch,“ lautet es von dem Leibeigenen Stiopuscha, „hatte nicht einmal eine Vergangenheit; man sprach gar nicht von ihm; bei der Seelenrevision war er sicherlich niemals gerechnet worden.“ Auch früher schon, vor dem „Tagebuch“, in den beiden Erzählungen „Mumu“ und „Das Wirthshaus an der Landstraße“, macht Turgenjew den Leibeigenen zum Mittelpunkt der Erzählung. Der arme taubstumme „Mumu“ kommt um seine Geliebte, eine Magd, ohne daß er sich beklagen darf, und da er sein trauriges Herz an ein Hündchen gehängt hat, befiehlt ihm die Herrin, daß er dieses mit eigener Hand ertränke. Aber wenn der Leibeigene das gepeinigte Opfer des Edelmanns ist, so stellt dieser hinwiederum doch auch nur einen Leibeigenen des Staates vor. Und das ist die fürchterliche Kette von Ursache und Wirkung: Wer Andere knechtet, ist zumeist selbst ein Knecht.

Dieser kleine russische Edelmann thut nichts, kann und weiß nichts, erstrebt nichts, kurzum, es ist ein Geheimniß, wozu und wofür er lebt, und wenn er just in seinen Knabenjahren denken gelernt hat, so fühlt er selbst, daß er eine zweck- und sinnlose Existenz führt. Ein solcher kleiner Tyrann, der bereits in Paris und Berlin gewesen, sagt:

„Sie halten mich für einen Steppenbewohner, für einen rohen Menschen, aber ich bin durchaus nicht, was Sie denken. Erlauben Sie! Erstens spreche ich Französisch nicht schlechter wie Sie und das Deutsche sogar besser. Zweitens habe ich drei Jahre im Auslande zugebracht; in Berlin war ich acht Monate. Ich habe den Hegel studirt, mein Herr, und kann Goethe auswendig; überdies bin ich lange in die Tochter eines deutschen Professors verliebt gewesen und heirathete hier in der Heimath ein schwindsüchtiges Fräulein, eine kahlköpfige, aber sehr bemerkenswerthe Persönlichkeit. Ich bin also eines Geistes mit Ihnen; ich bin kein Steppensohn. Auch ich bin reflexions-wurmstichig, und es ist nichts Unmittelbares an mir.“

Auch Nicolaus Gogol hat zeigen wollen, daß in Rußland nichts vorhanden sei, was nicht in Sclaverei verschmachte, daß der Leibeigene der Sclave des Edelmannes, der Edelmann der Sclave des Beamten, der Beamte der Sclave der Despotie sei, und insofern stellt Turgenjew bis zum Jahre 1852 – dem dreiunddreißigsten seines Lebens – keinen Fortschritt der Entwicklung dar. Er ist auch darin durchaus der Schüler Gogol’s, daß er nicht über die nationale Beschränkung hinauskommt, sondern innerhalb des engen Kreises specifisch russischer Anschauung festgebannt bleibt. Was er von sich aus hinzubringt, ist die tiefere Bildung und das feinere Naturgefühl. Als der Sohn eines Gutsbesitzers, hat er der Landschaft ihre intimsten Reize abgelauscht, als Student in Berlin sich ernstliche Kenntnisse angeeignet. Aber vorerst arbeitet das Kunstbewußtsein in ihm noch sozusagen unausgesprochen; es ist nur Instinct. Der Zweck bleibt die Hauptsache; er besteht in dem Kampfe gegen das Institut der Leibeigenschaft.

Turgenjew wird von dem Einflusse Gogol’s durch einen Zwischenfall losgelöst, welcher auch wieder auf Gogol zurückführt. Er hat dem verstorbenen Meister einen Nachruf gewidmet und ihn darin einen „großen Mann“ geheißen. Dafür soll er auf Befehl des Czaren für vier Wochen in Arrest gesteckt, dann für zwei Jahre in’s Innere Rußlands verbannt werden, und nur vermöge einflußreicher Fürsprache wird die Strafe in Verbannung nach dem Auslande verwandelt. Da geht er nach Baden-Baden, sinnend und [579] beobachtend, an unverfänglichen Stoffen sein Kunstgefühl und seine Schaffenskraft übend, aus der Ferne mit gesteigerter historischer Einsicht die Entwickelung des Vaterlandes verfolgend, diese Entwickelung, die keine war, bis Puschkin laut an der Oedigkeit dieses Staats- und Volkslebens verzweifelte, Nicolaus Gogol sie mit grellen Farben malte, bis es über das im Starrkrampf liegende Volk wie schauernde Ahnung besserer Schicksalsfügung kam und hier, da, dort der revolutionäre Funke aufsprang, welcher die künftige verheerende Feuersbrunst voraus verkündete.

In dieser Zwischenzeit, während welcher Herzen und Bakunin fast dämonisch an der Unterwühlung des russischen Selbstherrscherthums arbeiten, ist Iwan Turgenjew nicht mehr der Tendenzpoet; er hat, wie er selbst sagt, in Deutschland eine „zweite Heimath“ gefunden, und bei Allem, was er da drunten in dem wundersamen Oosthale schafft, hat man das Gefühl, als sei es die pure blinkende Schönheit, welche über seine Seele herrschst als kümmere er sich nicht um das, was drüben im Vaterlande vorgeht. Und doch bleibt er bis in die letzten Fasern seines Seins der Russe von ehedem, aber der Russe, dem nur wie ganz von fern, wie verhallendes Echo, die Stimmen von der mütterlichen Erde das Herz zu bewegen scheinen. Der unheimlich eindringende Blick, vor dem sich Menschengeschicke wie Visionen enthüllen, der wehmüthig in bezaubernden Naturlauten verklingende Weltschmerz, die fast barbarisch ungezügelte Sinnlichkeit sind nach wie vor in ihm vorhanden, aber es ist Alles neutralen Stoffen zugewendet, welche der Künstler meistert, ohne den tief verwundeten Patrioten zu verrathen. Seine Gestalten sind oft von großer Eigenart: Diese herbe Märtyrerin der Liebe, Helene, dieser Dämon sinnberückender Herrschsucht, Auguste Polosow, sind Weiber, die nur slavischer Boden zu erzeugen, nur eine slavische Künstlerhand zu gestalten vermag. Aber ob bewußt oder kraft der Intuition des Genies, das ist die Frage. Oder vielmehr, es ist eine recht alberne Frage, die gleichwohl aufgeworfen wurde; denn wer Iwan Turgenjew’s dichterische Größe nur nach dem Maße des beabsichtigten Könnens, der kalten Vorbedachtsamkeit beurtheilt, der hat für sein Wesen überhaupt kein Verständniß. Er ist weder Realist noch Idealist, weder „Romantiker des Realismus“, noch sonst das schattenhafte Gespenst irgend einer ästhetischen Kategorie; er ist der Sohn der Steppe, dem zu dem seltsam tiefen Natursinn der Heimath sich die Weisheit des Westens aufgethan.

Ein historischer Zug beherrscht seine schriftstellerische Physiognomie, deren Anblick daran erinnert, daß er an der Scheide zweier Welten geboren ward, der europäischen und der asiatischen, welche fremd, unvermittelt einander gegenüberstehen und doch noch in einander werden aufgehen müssen, nicht vielleicht unter den Schrecken des Krieges, wie einst die asiatische sich auf die europäische stürzte, sondern unter den Zeichen der Cultur und Civilisation, deren Mittelpunkt und Träger die europäische Welt ist. Der Mensch, dem auf solcher Scholle die Wiege stand, hat schärfere Sinne; er sieht mit den Augen des Luchses und hört mit den Ohren des Wildes. Und wenn er gesättigt an dem Besten, was unser Wissen und Forschen zu bieten hat, zur künstlerischen Production schreitet, wenn er Gestalten formt und Schicksale nachschafft, so vereinigt sich dabei der Naturalismus mit der ergründenden Kraft; er braucht nur zu sagen, was er geschaut, nur zu erzählen, wie er es geschaut, und der Zauber ist von selbst da, der von einer bewältigenden, eigenartigen Individualität allezeit ausgeht.

Von diesem Iwan Turgenjew bleibt nur hübsch fort mit euren Kategorien, euren Reflexionen, euren Vergleichungen! Er ist, was er ist, und das Höchste, was der Dichter, der Künstler, was der gottbegnadete Mensch von sich sagen kann, ist dieses stolze: „Ich bin Ich.“ Turgenjew selbst äußert sich in einem mir freundlichst zur Verfügung gestellten Briefe über diese Unmittelbarkeit seines Schaffens wie folgt:

„Sie selbst wissen besser, als ich es sagen kann, daß der Schriftsteller keine vorgefaßten Ideen in Bilder kleidet. Das Alles wächst aus ihm heraus, halb bewußtlos. Sollte ich den wahren Grund meiner Thätigkeit angeben, so würde ich möglicher Weise sagen, ich habe es geschrieben, weil es mich selbst ergötzt hat. Das eigene Volk, das menschliche Leben, die menschliche Physiognomie – das ist das Bestimmende. Der Schriftsteller macht daraus, was er kann und was er nicht anders kann. Das ist eine sehr vage Theorie; für mich ist es die einzige …“

Und er schreibt das „Ich“ in seinen Briefen durchgehends mit großem Anfangsbuchstaben.

Jedoch nicht um die allgemeine kritische Würdigung Iwan Turgenjew’s, sondern nur um die Darlegung seines Verhältnisses zum Nihilismus kann es sich in dieser Betrachtung handeln, und wenn man den Punkt, auf welchen es dabei ankommt, mit einiger Sicherheit treffen will, so thut man wohl am besten, zu sagen, daß ihm zuerst der Nihilismus zum Kunstobject geworden.

Während Herzen und Bakunin von außen her das Mißvergnügen des russischen Volkes organisirten und nach der revolutionären Richtung lenkten, saß Turgenjew abseits in Baden-Baden. Sein Vergnügen war die Musikübung in der Nachbarvilla der befreundeten Familie Viardot, seine Kurzweil die Jagd. Wenn er, die Büchse auf der Schulter, durch den Wald schweifte, drängten sich Erinnerungen aus der Heimath an ihn heran, Gestalten, die von ihm reproducirt zu werden begehrten, wie sehr er sich auch sträubte. So ward der künstlerische Schaffenstrieb in ihm zum Herrn über die Tendenz von ehedem.

Dann stürzte Rußland, der Koloß mit den thönernen Füßen, krachend zusammen und begrub den Czar Nicolaus unter seinen Trümmern; Alexander, eine weichere Herrschernatur, bestieg den Thron der Romanows. Herzen und Bakunin wendeten sich direct an ihn, jener in einem offenen Briefe, welcher ihm die Verwandlung in einen constitutionellen Monarchen zumuthete, dieser, indem er ihn aufforderte, ein „Bauernczar“ zu werden. Die Antwort war jenes epochemachende Decret, das die Leibeigenen freigab.

Aber ach! an der halben Arbeit haftet immer ein Fluch. Die Befreiung der Leibeigenen war nichts, wenn der Beamtenstand nach wie vor in seiner Corruption verharren durfte. Die Freiheit ist eine Illusion, wo nicht das Recht an ihrer Seite wandelt. Einen Augenblick stutzten Herzen und Bakunin; sie schwankten, was angesichts des Emancipationsdecretes zu thun sei. Aber bald trieb der revolutionäre Geist sie vorwärts; schroffer, dreister als bisher ward der Unwille, den die halbe Erfüllung erweckte, und der Nihilismus trat im Sinne des offenen Widerstandes, wenn auch noch nicht mit seinem Namen, zu Tage; bald auch schrieb ihm einer der Seinen, Tschernyschewsky, eine Art Katechismus in der Form des Romans „Was sollen wir thun?“

Iwan Turgenjew beschied sich mehr als zehn Jahre mit tendenzlosem künstlerischem Schaffen; er bevölkerte deutsches Land, den Rheingau, den Schwarzwald, mit den Gestalten seiner Phantasie – oder vielmehr nicht seiner Phantasie; denn als unter Alexander’s Regiment die Auslandsreisen den Russen erleichtert wurden, zogen sie ihm nach und machten Baden-Baden zu ihrem Hauptquartier. Und dort konnte er ihnen, wie sehr er es auch wollte, nicht immer aus dem Wege gehen. Er hat sie dafür – und insbesondere ihre Frauen – mit seinem Roman „Rauch“ unbarmherzig gestraft. Jene Stelle von den drei Fürstinnen ist eine classische Satire; diese drei Fürstinnen sind: „Fürstin Babette, dieselbe, in deren Armen Chopin seinen Geist aufgab; dann Fürstin Annette, die ganz gewiß Effect machen würde, wenn nicht, wie Ambra- und Sauerkohlgeruch, bei ihr zuweilen das liebe Bauerndorf zum Vorschein käme; endlich Fürstin Pachette, deren Mann das Unglück hatte, in seiner hohen Stellung einen Kaufmann durchzuprügeln und 20,000 Rubel Regierungsgelder zu stehlen.“

Man darf aber daraus nicht etwa schließen, daß Turgenjew im Auslande der nationale Sinn abhanden gekommen wäre; im Gegentheil, seine Liebe zur Heimath und zu dem russischen Volke hatte sich vertieft; nur jenen hohlen Abenteurern und Abenteurerinnen, welche in der Fremde nutz- und ziellos, unter unerhörter Verschwendung umherflatterten, hatte er kein anderes Interesse zuzuwenden als das des Satirikers.

Zu kämpfen in jener Weise, wie er es im „Tagebuch eines Jägers“ gethan, hatte er kaum noch ein Recht. Die Leibeigenen waren ja frei, wie er es gefordert, und die Gesellschaft hätte sich selbst corrigiren müssen, um eines freien Lebens im Staate werth zu sein. Diese nichtsnutzigen Laffen und Koketten, welche die Spielsäle von Baden-Baden und Homburg bevölkerten – nach einer von diesen russischen Spielerinnen hat das dankbare Homburg eine Straße benannt – besaßen keinen Anspruch auf ein menschenwürdigeres Dasein, als es ihnen die russischen Verhältnisse gestatteten. Aber war das „Rußland auf Reisen“ denn das russische Volk? O nein, diejenigen, welche daheim mit Puschkin resignirt über ihr Schicksal geseufzt, mit Gogol schneidend über dasselbe gelacht hatten, [580] waren die russische Nation, und unter der Führung Herzen’s und Bakunin’s, deren Commando sie auf hunderte von Meilen vernahmen, hatten sie sich inzwischen zu einer furchtbaren Armee gesammelt, welche, unfaßbar, insgeheim dem Staate den Krieg machte, die Gesellschaft mit revolutionären Elementen durchsetzte, die Jugend unwiderstehlich an sich zog. Das neue Rußland stand kampfbereit dem alten gegenüber – „das achtzehnte Jahrhundert,“ schrieb der Dichter Bestuschew, „zieht uns an den Knieen zur Erde, das neunzehnte an den Ohren in die Höh’.“

Den Augen des Poeten enthüllte sich dieses Schauspiel des Kampfes zwischen „Vätern und Söhnen“ in seiner ganzen schauerlichen Größe; die künstlerische Hand, des Gestaltens froh, griff unwillkürlich nach diesem Stoffe, und der Roman „Väter und Söhne“ war nicht blos ein Ergebniß der Beobachtung, sondern die erste plastische Verlebendigung des revolutionären Geistes, der Rußland aufwühlt. In diesem Roman ist der Nihilismus zum ersten Male beim Namen genannt und nach seinem innersten Wesen erklärt worden.

Unter den feingezeichneten dichterischen Gestalten Turgenjew’s hat in „Väter und Söhne“ als Vertreter des alten Rußland Paul Kirsanow, der Edelmann, als derjenige des jungen Rußland aber Bazarow, der Student der Medicin, eine Rolle zuertheilt erhalten. Auf dem Gute, auf welchem Paul bei seinem Bruder lebt, gerathen sie zusammen, da Bazarow als Freund des jungen Arkad Kirsanow seine Ferien auf diesem Gute verbringt.

Und zwischen ihnen werden die berühmten Dialoge geführt, durch welche Europa zuerst von dem Nihilismus genauere Kunde erhielt. So zwischen Paul und Arkad.

Paul: „Was ist denn eigentlich Herr Bazarow, Sohn?“

Arkad: „Was er ist? Soll ich Ihnen, lieber Onkel, sagen, was er eigentlich ist?“

Paul: „Thu’ mir diesen Gefallen, mein theurer Neffe.“

Arkad: „Er ist ein Nihilist.“

Paul: „Ein Nihilist? Das Wort muß von dem lateinischen nihil = nichts abstammen, so weit ich es beurtheilen kann, und bedeutet mithin einen Menschen, der – nichts anerkennen will.“

Arkad: „Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, der ohne vorherige Prüfung kein Princip annimmt, und wenn es auch noch so sehr im Ansehen steht.“

Dann ein Dialog zwischen Paul und Bazarow:

Paul: „Die Deutschen sind nicht mein Geschmack. Vormals waren sie noch erträglich; sie hatten bekannte Namen, einen Schiller und Goethe zum Beispiel. Jetzt aber gewahre ich unter ihnen nur Chemiker und Materialisten.“

Bazarow: „Ein guter Chemiker ist zwanzigmal nützlicher, als der beste Poet.“

Paul: „Wirklich? Die Kunst scheint also für Sie eine gänzlich werthlose Sache?“

Bazarow: „Die Kunst Geld zu gewinnen und die Hühneraugen gründlich zu vertreiben – –“

Paul: „Vortrefflich! Wie Sie zu scherzen belieben! Das kommt auf eine verständige Negation hinaus. Sie glauben also nicht an die Wissenschaft?“

Bazarow: „Ich habe schon die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich an gar nichts glaube. Was verstehen Sie unter dem Worte Wissenschaft im generellen Sinne? Es giebt Wissenschaften, wie es Handwerke, wie es Professionen giebt. Eine Wissenschaft in dem Sinne, den Sie ihr beilegen, giebt es nicht.“

Ein anderes Mal:

Paul: „Ich begreife nicht, wie es möglich ist, keine Principien, keine Regeln anzuerkennen. Wodurch lassen denn Sie sich im Leben leiten?“

Bazarow: „Unser Handeln bestimmt nur die Rücksicht auf das Nützliche. Heutzutage scheint es uns nützlich, zu verneinen – und wir verneinen.“

Paul: „Alles?“

Bazarow: „Durchaus Alles!“

Paul: „Wie? Nicht nur die Kunst, die Poesie, sondern …“

Bazarow: „Sondern Alles.“

Paul: „Erlaubt, Ihr verneint Alles, oder um mich genauer auszudrücken, Ihr reißt Alles ein, aber man muß auch wieder aufbauen.“

Bazarow: „Das geht uns nichts an; vor allen Dingen muß der Platz abgeräumt werden.“

Hier ist das Wesen des Nihilismus unbarmherzig aufgedeckt in seiner ganzen jammervollen Unfruchtbarkeit, aber der Poet, der sein Vaterland liebt, weint über diese Verirrung der russischen Jugend. Noch kann er nicht glauben, daß es mehr als Worte sind; denn dieser Bazarow ist ja sonst ein sympathischer Mensch. Oder wäre es nicht eine Blasphemie, wenn er ausruft: „Ich meinestheils gebe nicht einen Groschen für Rafael!“ – Wäre es Ahnung einer entsetzlichen Zukunft, wenn der Dichter seinem Helden das Wort in den Mund legt: „Ein Kreuzerlicht genügte, um die ganze Stadt Moskau in Brand zu stecken“?

Turgenjew hat es mit diesem Romane Niemandem recht gemacht; denn die Gegner des Nihilismus verargten es ihm, daß er für Bazarow Partei nahm, die Nihilisten, daß er ihre Nichtigkeit so rücksichtslos preisgegeben. Und doch hat er gezeigt, wie scharf sein Blick nicht blos die Gegenwart durchdrang, nein, wie prophetisch er auch die Zukunft vorwegnahm. In dem Romane „Väter und Söhne“ führt uns Turgenjew auch zu einer Nihilistin, Eudoxia Nikitischna Kukschin, welche Champagner trinkt, Cigaretten raucht, George Sand für eine „abgethane Sache“ hält, Liebig zu consultiren und nach Heidelberg zu gehen gedenkt, weil daselbst Bunsen docirt. Doch Bazarow erkennt sie nicht an; er will überhaupt von der Mitwirkung der Frauen an der Arbeit der Nihilisten nichts wissen.

Das ist vorerst noch der theoretische Nihilismus vom Jahre 1861. Worte sind’s, mit welchen gekämpft wird. Und Bazarow endet nicht aus Verzweiflung an Rußland, nicht am Galgen, sondern an einer Blutvergiftung. Damals hätte der Abgrund noch geschlossen werden können. Turgenjew zeigte ihn, damit man sich mühe, dem nahenden Verderben rechtzeitig zu wehren. Er fragte nicht nach Gunst oder Ungunst; er konnte nur hinuntergreifen auf den Grund der Erscheinungen und darthun, daß, so lange ein Bazarow mit der Section von Fröschen sich begnüge, dem Nihilismus durch Zugeständnisse noch beizukommen sei.

Aber man hörte den Dichter nicht, sondern ließ das Uebel ungehindert weitergreifen. Und bald wurde jene Eudoxia zu einer Maschurina, jener Bazarow zu einem Neschdanow. Das Messer, das Frösche secirt hatte, wurde gegen Menschen gezückt; das Weib, welches von Bunsen und Liebig gefaselt, wurde politische Complotirerin, Agentin und Zuhälterin ihrer nihilistischen Cumpane.

Das ist die „neue Generation“.

Es knallen die Revolver; es explodiren die Dynamitbomben; es ist eine regelrechte Verschwörung über ganz Rußland verbreitet, und zahllose Opfer fordert dieselbe von Staat und Volk.

Der Dichter ist ein Idealist; er wähnt noch immer, daß edlere Triebe in den Nihilisten stecken, welche nur leider nicht emporkeimen durften; es ist bezeichnend, daß Neschdanow, der Held des letzten Romans, in dem Briefe, den er vor seinem Tode schreibt, auf Puschkin zurückkommt und auf den poetischen Lensky in dessen „Eugen Onägin“. O hätten doch diese Jünglinge nicht das Ideal der Freiheit befleckt durch den Mord!

Aber der Unmuth ist in die Seele Turgenjew’s eingezogen, und er nennt das russische Volk das „verlogenste der Erde“.

Hat er Recht? Durch ihn lernte Europa das russische Volk kennen; er ist ein Weiser und zugleich der Bote, welcher den Einen von den Anderen Kunde bringt. Ein solcher Bote war auch Goethe. Wenn Turgenjew’s Zorn berechtigt wäre, so hätte Rußland nichts verdient als den Nihilismus, das russische Volk nichts, als auch vom Nihilismus vergiftet zu werden. Aber Völker werden nicht leicht vergiftet, selbst nicht durch eine Regierung, welche den Nihilismus aus der Tiefe emportrieb.

Bazarow, Neschdanow – sie fallen unter den Tisch, das russische Volk bleibt. Wenn Knaben gegen den Despotismus streiten, so behält die schlechte Sache immer den Sieg. Aber es kommt ein Tag, da das Volk selbst sich zum Kampfe rüstet, und dann ist ihm der Triumph gewiß. Dann aber giebt es keinen Nihilismus mehr; dann wird nicht blos eingerissen, sondern auch aufgebaut. Dann aber lebt vielleicht auch Iwan Turgenjew nicht mehr, um die dritte Revolution in Rußland zu schildern. Die erste hat er in dem Roman „Väter und Söhne“, die zweite in dem Roman „Neuland“ dargestellt, jene künstlerisch, objectiv, weil er noch mit ihr sympathisiren durfte, die andere chronistisch, ohne Gleichmaß, weil er sie verabscheuen mußte.

Wenn der Roman, ohne es zu wollen, zur Weltgeschichte wird, so hat er das Beste erlangt, was er als poetisches Kunstwerk an Ruhm und Bewunderung nur immer erstreben mag. Die beiden Nihilistenromane Turgenjew’s sind aber Weltgeschichte [582] geworden. Ihr Verfasser hat sich auf einen Punkt der Betrachtung zu schwingen vermocht, welcher oberhalb aller nationalen Beschränktheit liegt.

Es giebt auf der Erde Stellen, wo die Gebiete großer Ströme knapp an einander stoßen. Dort wehen die Winde heftiger, entsprießen die Pflanzen üppiger dem Boden. Auf einer solchen Stelle muß man sich Iwan Turgenjew denken. In ihm vereinigen sich französisches Formgefühl, deutscher Tiefsinn und russische Unmittelbarkeit. Die russische Volksseele hat Niemand so gründlich erkannt wie er; sie seufzte hülflos in Puschkin’s Dichtungen; sie verspottete sich selbst in den Schöpfungen Gogol’s, aber in den Romanen und Novellen Turgenjew’s enthüllte sie, was sie als guten und schlechten Inhalt birgt. Ihr schlechter Inhalt ist die Corruption, welche im Staate den heutigen russischen Beamten, in der Gesellschaft den Nihilisten erzeugt hat. Der Despotismus mit seinen niederträchtigen Werkzeugen hat diesen schlechten Inhalt gehegt und gepflegt, und er ist es, den Turgenjew brandmarkte, indem er die Geschichte des Nihilismus mit der Tiefe eines Dichters und der Erkenntniß eines Weisen schrieb. Wann hätte ein Czar sich einer gleichen That zu rühmen gehabt?

Hiermit mögen die Betrachtungen über „Nihilismus und russische Dichtung“ ihren Abschluß finden.