New Yorker Musik (1)
Das wichtigste äussere Ereignis der letzten Wochen ist die Neuordnung der Metropolitan-Leitung. Sie soll nun drei Köpfe haben: Herbert Whiterspoon, einen frühern Sänger, für die (ein Vierteljahr umfassende) Winterspielzeit, Edward Johnson, gegenwärtig noch als lyrischer Tenor tätig, für die anschliessende, volkstümlich gedachte Frühjahrssaison, Edward Ziegler, der bereits seit Jahren der Direktion angehört, als gewissermassen geschäftsführenden Direktor. Dem Aussenstehenden mag diese Regelung befremdlich vorkommen, angesichts der gegenwärtigen Lage der Metropolitan-Oper bedeutet sie eine Ueberleitung. Sämtliche Direktoren sind Amerikaner – das ist der eine Hauptpunkt. Whiterspoon – der andere Hauptpunkt – ist Vertrauensmann der Juilliard School, der New-Yorker Hochschule für Musik. Unter Leitung von Erskin und Hutchson verfolgt sie seit Jahren einen betont amerikanisierenden Kurs. Sie verfügt zudem über grosse Stiftungsmittel und übernimmt jetzt unter gewissen Kautelen einen beträchtlichen Teil der Opern-Subvention. Sie gliedert sich also gleichsam das Opern-Institut an, wofür die jetzige Lösung die Vorbereitung ist. Die Personen sind dabei weniger wichtig als der kunstpolitische Gedanke. Augenscheinlich zögert man aber noch ein wenig, ihn klar herauszustellen und will erst das Ergebnis des jetzigen Drei-Männer-Experimentes abwarten.
Der Sinn dieser Bestrebungen ist zu verstehen. In der Metropolitan-Oper wurden bisher alle Opern in der Ursprache aufgeführt. Welche Grosstadtbühne der Welt aber kann es sich heute noch leisten, ihrem Publikum Werke in drei landfremden Sprachen – deutsch, italienisch, französisch – vorzuführen? Freilich – der Wechsel zur englischen Sprache bedingt eigentlich, dass ein Stamm heimischer Werke vorhanden ist. Da liegt das Problem. Gathi-Casazza, der bisherige Leiter, hat sich eifrig bemüht, die amerikanische Oper zu pflegen – aber es war wenig da, was er pflegen konnte. Die Amerikaner möchten gern Opern komponieren, wie sie überhaupt gern alles selber machen möchten. Begreiflich und keineswegs zu tadeln – nur mit dem Gelingen geht es trotz liebevollster Förderung von allen Seiten langsam voran, und gerade mit der Oper will es noch gar nicht glücken. Louis Grünbergs „Emperor Jones“, ganz auf eruptiv deklamatorischen Stil gestellt, ist ein Werk von Charakter und betont zeitgemässer Haltung, den Amerikanern aber „zu modern“. Die sonstige amerikanische Opernmusik bewegt sich im verwässerten Puccini- oder Massenet-Stil, sie hat noch keine landeigene Physiognomie gefunden.
Es fehlt also zunächst noch die Produktion, die gefördert werden soll. Dagegen ist die Leistungsfähigkeit auf anderen Gebieten hervorzuheben. Es gibt namentlich sehr schöne Stimmen und auch hervorragend gute Sänger mit Darstellungsgabe, so dass die ausübenden Kräfte für eine amerikanische Oper zweifellos vorhanden sind und schnell nachwachsen werden. Anderseits befindet sich die Metropolitan-Oper in jeder Beziehung in solcher Verelendung, dass es nicht erst der heute durch die ganze Welt gehenden nationalistischen Welle bedürfte, um hier eine Aenderung zu erzwingen. Neues wird fast gar nicht herausgebracht. Ein belangloser amerikanischer Einakter „In des Paschas Garten“, eine Neu-Inszenierung von „Serva Padrona“ und „Don Pasquale“ war alles. Der Stand des Repertoires ist kaum mittelmässig. Verhältnismässig gut repräsentiert sich noch die italienische und französische Oper, hier kann man gelegentlich Aufführungen sehen, die über dem Durchschnitt stehen. Dagegen ist die deutsche Oper zum grössten Teil verwildert. Es gibt Striche in den Werken, die man nicht glaubt, wenn man sie nicht hört. Die Ansprache des König Heinrich im „Lohengrin“ etwa fällt in der Hauptsache fort, es bleiben nur die Anfangs- und die Schlussworte. So geht es durch das ganze Werk. Die Dekorationen stammen aus Olims Zeiten, die Pariser Opéra wirkt dagegen als radikal fortschrittliches Institut. Was Regie und szenisches Zusammenspiel ist, ahnt man augenscheinlich überhaupt nicht. Die musikalischen und gesanglichen Leistungen sind äusserst ungleichmässig und ohne jene Disziplin, die auch bei mittleren Kräften eine saubere Gesamtleistung ermöglicht. Wenn also die neue Leitung Kraft und Initiative erweist, hierin eine Aenderung zu bewirken, sei es auch mit dem Ziel der Amerikanisierung, besteht kein Grund, dem jetzigen Zustand eine Träne nachzuweinen. Er ist künstlerisch höchst unerfreulich, eigentlich indiskutabel.
Merkwürdig ist auch das Fehlen grosser Chöre im Konzertbetrieb. Es gibt zwar ein paar, aber sie machen sich kaum bemerkbar. Das Oratorium, die Passion, die Kantate finden nur unzureichende Pflege und kommen der amerikanischen Oeffentlichkeit kaum zum Bewusstsein. Dagegen stehen die Orchesterkonzerte auf überragender Höhe. Man hört in New York das Bostoner Orchester unter dem sehr feinen Musiker Kussewitzky, das Philadelphia-Orchester unter Stokowski, der allerdings mehr Schaudirigent ist und gern, mit oder ohne Anlass, von sich reden macht. Die New Yorker Philharmonie selbst wird jetzt, nach Gastzyklen von Klemperer, Walter und dem begabten Amerikaner Werner Janssen von ihrem Hauptdirigenten Toscanini geleitet. Er bietet als wichtigste Gabe dieses Musikwinters einen Brahmszyklus. Hier hat man Gelegenheit, Brahms zum erstenmal zu hören, auch wenn man ihn gut zu kennen glaubt und schon oft gehört hat. Diese Toscaninikonzerte sind und bleiben etwas Einziges, nur ein schönes Zeichen dafür, dass wirklich grosse Kunst, Kunst um ihrer selbst willen, auch in unserer Zeit über alle Unzulänglichkeiten hinaus sich behauptet und triumphiert.