Nansens und Andrées Nordpolunternehmen
Nansens und Andrées Nordpolunternehmen.
Mit tausend Schrecken hat die Natur die Pole der Erde umringt. Frost und Hunger, Eisberge und heulende Schneestürme, eine monatelange Nacht bilden um die rätselhaften Gebiete einen Bannkreis, wie er in Märchendichtungen grausiger und unüberwindlicher kaum dargestellt werden könnte. Und doch ziehen seit Jahrhunderten Ritter des Geistes in dieses verzauberte Eisland, suchen den Bannkreis zu durchbrechen und schlagen ihr Leben in die Schanze, um die Wissenschaft mit neuen Entdeckungen zu bereichern. Wie groß ist nicht die Reihe der mutigen Polarfahrer, wie viele von ihnen haben nicht in den fernen Eiswüsten den Heldentod für die Wissenschaft gefunden! Wie oft haben sich Stimmen erhoben, man solle doch ablassen von dem fruchtlosen Beginnen, die Fahne des Sieges auf den Polen aufzupflanzen! Und doch erhebt sich stets von neuem der trotzige verwegene Mut, der die Menschen alle Gefahren gering achten läßt und sie zu Beherrschern der Länder und Meere gemacht hat. Jahraus, jahrein rüstet man neue Expeditionen nach den Eisgefilden in Nord und Süd und nicht eher wird das kühne Menschengeschlecht ruhen, als bis es siegreich seinen Fuß auf die geheimnisvollen Pole gesetzt hat. Ja, zum Teil scheint schon dieses Ziel erreicht zu sein. Aus dem fernen Sibirien drang vor wenigen Wochen die Kunde durch alle civilisierten Länder, dem kühnen Polarforscher Fridthjof Nansen sei es gelungen, den Nordpol zu entdecken, und er sei auf der Heimfahrt begriffen! Man darf in die Wahrheit dieser Nachricht sehr berechtigte Zweifel setzen, und doch erregt sie das allgemeinste Interesse; ruft sie uns doch in Erinnerung zurück, daß vor Jahr und Tag eine Schar kühner Männer im Dienste der Wissenschaft in das rauhe Eismeer hinausgesegelt und hinter dessen düstern Nebeln verschwunden war. Mit Glück- und Segenswünschen begleitete man damals die polwärts ziehenden Seefahrer, denn ihr Unternehmen war einzig in seiner Art. Ihr Führer, Fridthjof Nansen, beseelt von dem Wagemut der alten Wikinger, hatte dem Eismeer das Geheimnis seiner Strömungen abgelauscht und darauf einen Plan gegründet, den Nordpol zu erreichen. An die Ostküste Grönlands spült das Eismeer allerlei Gegenstände. Darunter hatte man Dinge gefunden,
[216] die von den Ländern um die Beringstraße und von den neusibirischen Inseln stammen mußten. An die Ostküste Grönlands wurden Trümmer des im Jahre 1881 in neusibirischem Eise zu Grunde gegangenen Expeditionsschiffes „Jeanette“, Wurfhölzer der Eingeborenen von Alaska, Auswürflinge nordamerikanischer Vulkane herangeschwemmt – aus diesen und anderen Beobachtungen schloß Nansen, daß es eine Meeresströmung geben müsse, die von der Beringstraße nach den neusibirischen Inseln und von da quer über den Nordpol zu Grönlands Gestaden führt. Dieser Strömung wollte er nun sein Schiff anvertrauen, sich von ihr von Neusibirien treiben lassen und hoffte, daß er mit ihr den Nordpol erreichen und dann an die Ostküste Grönlands gelangen würde. Er war darauf gefaßt, daß sein Schiff im Winter festfrieren würde, aber das beunruhigte ihn nicht; als Passagier der Eisscholle wollte er ja gerade das so viel umworbene Ziel erreichen.
Nansen hatte sich bereits, bevor er mit diesem Plane hervortrat, einen hohen Ruf als Polarforscher erworben. Geboren am 10. Oktober 1861 in der Nähe von Christiania, studierte er in den Jahren 1880 und 1881, wobei er sich eifrig allerlei Leibesübungen, namentlich dem Schneeschuhlaufen, widmete. Im Sommer 1882 machte er seine erste Reise ins Eismeer mit dem Seehundsfänger „Wiking“. Eine Zeit lang war er darauf Konservator am Zoologischen Museum in Bergen und vollbrachte im Jahre 1888 eine Großthat als Polarforscher: in Begleitung von nur fünf Mann durchquerte er auf Schneeschuhen Grönland. In etwa einem Monat legte er über die öden Flächen des vereisten Kontinents gegen 500 km zurück, ertrug dabei Fröste von –50° C und erreichte Höhen von 3000 m über dem Meeresspiegel!
Kein Wunder, daß einem so entschlossenen und bewährten Manne Mittel zu einer Nordpolfahrt bereitwilligst zur Verfügung gestellt wurden! Nansen war bald in der Lage, ein vorzügliches Expeditionsschiff zu bauen, das er „Fram“, d. h, „Vorwärts“, taufte. Dieses Polarschiff ist nicht groß, denn bei 40 m Länge hat es 11 m Breite, und seine Besatzung besteht nur aus 12 Mann. Es ist ein dreimastiger Schooner mit einer Maschine von 160 Pferdekräften; es sollte aber nur 2 Monate nach der letzten Kohleneinnahme unter Dampf sein und sonst die Segel benutzen. Höchst eigenartig ist die Konstruktion des „Fram“. Um den gewaltigen Eispressungen des Polarmeeres stand zu halten, ist er möglichst stark und aus den besten Hölzern gebaut. Allein die 12 Zoll dicke „Eishaut“ kostete gegen 22000 Mark. Dabei hat das Schiff möglichst wenig vorspringende Ecken und Kanten. Glatt wie ein Aal soll es zwischen den Eisschollen hindurchschlüpfen. Wenn sich aber dennoch die Eismassen um das Schiff lagern und es in seinen Umarmungen festhalten würden, soll es dem mächtigen Drucke nach oben entweichen können. Seine Seiten sind nämlich nach unten zu abgeschrägt, so daß es von den zusammendrängendem Eismassen gehoben wird, und seine Unterseite ist so flach, daß es, auf eine Scholle gedrängt, nicht kentert.
Auch sonst ist die Ausrüstuug mustergültig. Die Außenseiten der Mannschaftskojen, des Schiffsaals und der Kajüte sind mit verschiedenen Lagen von Filz, Kork, Tannenbrettern, Linoleum, Rentierhaardecken etc. verwahrt. Zur Erwärmung und zum Kochen wurden außer Kohlen Spiritus und Petroleum mitgenommen. Ja selbst elektrische Lampen wurden in das Polarmeer geschafft. Eine Windmühle, die auf dem Schiffe aufgestellt werden kann, liefert die Kraft zur Bewegung einer Dynamomaschine!
Doch was sind Pläne, was sind Entwürfe! Expeditionen verlaufen fast niemals programmmäßig, am allerwenigsten Nordpolexpeditionen. Fast scheint es, daß auch Nansen diese Kreuzung seiner Pläne erleben mußte. Am 20. August 1893 wurde der „Fram“ zuletzt im Karischen Meer gesehen. Er war mit Proviant auf fünf bis sechs Jahre versehen und sollte nach Jahr und Tag an der Ostküste Grönlands wieder auftauchen. Nun verbreitet, wie schon erwähnt, der sibirische Kaufmann Kuchnarow die Nachricht, daß Nansen Land am Nordpol entdeckt habe und zurückkehre. Bestätigt sich die Nachricht, dann haben Unglücksfälle oder unüberwindliche Schwierigkeiten die Polarfahrer genötigt, ihren Plan zu ändern und über Sibirien zurückzureisen. –
Gleichviel aber, ob es Nansen gelungen ist, seinen Fuß auf den Nordpol zu setzen, oder ob er, ohne den eisigen Bannkreis durchbrochen zu haben, heimkehrt, es rüsten sich andere, auf einem ganz neuen und ungewöhnlichen Wege nach dem Nordpol zu ziehen. Nicht auf Schiff und Schlitten setzen sie ihre Hoffnungen; im Luftballon durch die Lüfte wollen sie nach dem geheimnisvollen unerforschten Punkt der Erde fliegen! Der Gedanke, den Nordpol mit Hilfe des Luftballons zu erreichen, ist nicht neu. Schon vor Jahren (vgl. Jahrg. 1883, S. 346) hat die „Gartenlaube“ über solche Pläne ihren Lesern berichtet. Nunmehr soll aber der abenteuerliche Entschluß, als „Passagiere des Windes“ über den Nordpol hinwegzufliegen, von drei kühnen Schweden in die That umgesetzt werden. Der schwedische Ingenieur Andrée ist der Leiter dieses verwegenen Unternehmens und ihm wollen sich als Gefährten der Meteorologe Nils Ekholm und ein dritter noch ungenannter Mann anschließen. Andrée läßt, gestützt auf die neuesten Errungenschaften der Ballontechnik, einen Ballon aus möglichst undurchlässigem Stoff bauen, der bei 20,5 m Durchmesser etwa 4500 cbm Gas fassen soll. Um gegen Feuchtigkeit und vor Gasverlust geschützt zu werden, ist der Ballon oben mit einer Kappe von ölgetränktem Zeug und in seinem unteren Teile mit einem Gürtel versehen, wie dies auf unserer Abbildung angedeutet ist. Unter der Gondel befindet sich die Vorratskammer der Expedttion, und eine Strickleiter führt zu dem automatischen Ventil. Der Ballon wird 2100 kg Ballast mitführen, der hauptsächlich aus Nahrungsmitteln besteht. Der Proviant soll für 4½ Monate reichen. Auch Segel werden an dem Ballon angebracht, um eventuell eine Ablenkung des Kurses von der Windrichtung zu ermöglichen.
Das Luftschiff soll auf Spitzbergen gefüllt werden und dann gegen den Nordpol aufsteigen. Andrée will sich möglichst in einer Höhe von 200 bis 300 m über dem Meere halten und die Fahrgeschwindigkeit durch ausgeworfene Schlepptaue mäßigen. Jedes dieser Taue erhält am unteren Ende schwächere Stellen, damit, falls der Ballon bei schneller Bewegung [218] irgendwo hängen bleibt, die Taue an diesen Stellen und nicht oben am Tragringe reißen.
Ob nun eine Ballonfahrt nach dem Nordpol Aussicht auf Erfolg überhaupt haben kann, darüber sind die Meinungen der Fachleute geteilt. Ist es wirklich möglich, einen Ballon mit so geringen Gasverlusten zu bauen, daß er eine Fahrt von 30 Tagen aushalten würde, was Andrée erstrebt, dann würde er wohl die in Frage kommenden Strecken zurücklegen können. Man nimmt an, daß er am Schlepptau mit einer Geschwindigkeit von 13,68 km in der Stunde fortfliegen würde. In 30 Tagen könnte er also 9849,6 km zurücklegen. Andrée meint aber, daß er nur 3700 km zu fliegen brauchte, um, nachdem er den Nordpol passiert, wieder bewohnte Länder zu erreichen. Selbstverständlich sind das nur bloße Annahmen, da wir über die Windverhältnisse am Nordpol nicht unterrichtet sind. Es ist auch fraglich, ob die Luftschiffer immer in der geplanten Höhe von 200 bis 300 m werden bleiben können; sie können ja auf Landmassen stoßen, die sich 1000 m und mehr über den Meeresspiegel erheben, dann wird ihr Ballon entsprechend steigen müssen, was das Opfern des Ballastes und Gasverluste zur Folge haben wird. Dadurch würde aber die Tauglichkeit des Ballons zur längeren Fahrt wesentlich beeinträchtigt werden.
Schließlich muß noch die Landung in Betracht gezogen werden. Sie ist das schwierigste Stück jeder Ballonfahrt. Andrée will Schlitten und Boot mitführen, um, falls er zur Landung vorzeitig gezwungen würde, auf diesen in bewohnte Stätten wandern zu können. Wird es ihm nun bei den schwierigen Terrainverhältnissen des zerklüfteten Polareises möglich sein, den Schlitten oder über offenem Meerwasser gar das Boot klar zu machen? Man kann mit vollem Rechte daran zweifeln.
Die Luftfahrt über den Nordpol hinweg bleibt darum auf alle Fälle ein Wagstück im vollsten Sinne des Wortes. Es giebt Fachleute, die das Beginnen einfach als einen Selbstmord bezeichnen und von ihm abraten, da das Ergebnis einer solchen Fahrt kein besonders großes sein kann. Die Nebel der Polargegend werden zumeist den Luftfahrern den Ausblick verhüllen und bei der Schnelligkeit der Fortbewegung werden auch genauere Beobachtungen nicht gut möglich sein. Anderseits wird aber betont, daß schon ein solcher Rekognoscierungsflug die wertvollsten Aufschlüsse über Verteilung von Land und Wasser am Nordpol geben könnte.
Im Grunde genommen setzt jeder, der eine Erforschungsreise in die Polarmeere antritt, sein Leben aufs Spiel. Schiffer wie Schlittenfahrer sind ebenso auf das Glück angewiesen wie der Luftschiffer. Der Passagier des Windes umgeht aber viele Gefahren, die den an der Erde und am Eise klebenden Polarfahrern drohen. Er braucht auch nicht so lange zu ringen wie diese. Dauerten die Entscheidungen über das Schicksal der bisherigen Polarexpeditionen lange, langsam dahinschleichende Jahre, so wird über das Schicksal der Passagiere des Windes in wenigen Wochen, wenn nicht Tagen von den Mächten der Eiswelt entschieden werden.
Ein Wagnis ist dieser kühne Flug nach dem Nordpol – aber doch ein Wagnis im Dienst der Wissenschaft! Es steht jedem frei, für diese hohen Ziele sein Leben in die Schanze zu schlagen, und wenn der Polarballon wirklich von Spitzbergens Boden sich über die Einöden des Eismeeres erheben sollte, dann mögen die Passagiere des Windes sicher sein, daß alle Herzen ihnen den günstigsten Wind und glückliche Heimkehr wünschen. C. Falkenhorst.