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Titel: Nach dem Mont Saint Michel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 687
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[673]

Mont Saint Michel.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[687] Nach dem Mont Saint Michel. (Mit Illustration S. 673.) Eines jener Länder, um welches Geschichte und Poesie die Aureole des Interesses und der Schönheit gesponnen, ist die Normandie. Im Allgemeinen darf man wohl sagen: jeder Theil derselben ist des Besuches werth, bietet ein besonderes Interesse: sowohl die historisch berühmten Städte mit ihren Kirchen, Kathedralen und alten Bauwerken, wie die schön bewaldeten Thäler und schlössergekrönten Hügel mit den silbernen Wasserfädcn und Bändern, die sich die Abhänge bald nackter Kalkfelsen, bald anmuthiger, von Buchen und Birken begrünter Berge hinabwinden oder in geraderem Laufe durch die smaragdgrünen Wiesen und üppigen Obstgärten ziehen, und die reizenden Dörfer, in denen das Weinlaub sich reich um die Fenster schlingt und selbst bis zu den mannigfarbigen Dächern emporklimmt.

Das im Ganzen sehr fruchtbare, reich angebaute Land gleicht in vielen Gegenden vollständig einem Garten. Alles ist voll Leben und athmet Fülle; es giebt wenig Länder, die diesem vergleichbar sind. Brennt einmal die Sonne so recht auf den Asphalt der Pariser Boulevards nieder, daß sie die ganze Bevölkerung auf die Schattenseite der breiten Straße schüttet, wie eine Sanduhr, die man umdreht; kommt die Jahreszeit, in der auch die Nächte keine Kühle bringen, da treibt es uns aus der Weltstadt fort, da wenden wir uns mit Vorliebe nach der Normandie, an deren Küsten wir die ersehnte Kühle finden, und zwar suchen wir zunächst den äußersten Westen der Provinz auf. Es ist dies das Departement La Manche, die westliche Halbinsel, Cotentin genannt, eine küstenreiche Landschaft, fruchtbar, besonders an Getreide, mit wenig Wäldern, aber weiten Wiesen, welche Pferde und Kühe nähren. Mit einem Theile der beiden östlich angrenzenden Departements des Calvados und der Orne bildet es die sogenannte Basse Normandie (Unternormandie), die wieder in viele einzelne Landschaften zerfällt.

Zwei Hauptschienenwege führen von Paris aus dahin, ein nördlicher nach Cherbourg, ein südlicher nach Granville, einem Städtchen, das sich immer mehr zum vielbesuchten Seebade gestaltet. Folgt man der am Meer entlang laufenden Straße nach Süden, so gelangt man auf einer dreistündigen Fahrt mit der Diligence nach dem reizenden Städtchen Avranches, mitten in der Biegung des rechten Winkels gelegen, welchen die Küsten der Normandie und der Bretagne hier bilden.

Aus dem Innern des Landes kommen von Osten nach Westen zwei Flüßchen herunter, die Sée und die Célune. Zwischen beiden ragt ein ziemlich steiles Vorgebirge mit Avranches auf dem nach dem Meere hingekehrten Rande. Vor dessen Fuß vereinigen sich die Flüßchen, um ein breites und flaches Thalland zu bilden, welches während der Fluth ganz vom Meere bedeckt ist. Mitten in dieser bald festen, bald flüssigen Ebene erhebt sich, wie hingezaubert, ein steiler Felsenkegel, der bis zu seiner Spitze mit Bauwerken bedeckt ist. Das ist der Mont Saint Michel, seit dem frühesten Mittelalter halb Kloster, halb Festung. Wir theilen eine gelungene Abbildung desselben mit. Um zu dieser Feste zu gelangen, muß man von Avranches zu einer Stunde abfahren, wann die Ebbe eintritt. Ueber breite, sandige Niederungen, welche mitunter von starken Sturmfluthen überspült werden, gelangt man nach ein- bis zweistündiger Fahrt auf den schlechtesten Wegen der Welt an die gewöhnliche Fluthgrenze.

Hier glaubt man das Ziel fast erreicht zu haben; aber man täuscht sich und hat noch eine gute Viertelstunde in gerader Linie über den spiegelglatten Sand in scharfem Trabe zu fahren, ehe man anlangt. Aus der Entfernung macht der Mont Saint Michel den Eindruck des Anmuthigen und Wunderbaren zugleich – in der Nähe ist er von überwältigender Großartigkeit. Als Basis seiner Pyramide, welche man in einer guten Viertelstunde umschreiten mag, erscheinen hier unersteigliche Granitwände, dort cyklopische Mauern mit Zinnen und Thürmen; darüber hinauf die Häuser des Dörfchens, dann wieder Felsen, dazwischen hohe Mauern mit ragenden Widerlagen; endlich bildet sich die Spitze in einer großen, über Alles emporblickenden Kirche, einem gewaltigen, schmucklosen Granitwerke, halb romanischen, halb gothischen Stiles, von dessen Mittelthurm man, zwischen Himmel und Felsen schwebend, eine herrliche Aussicht auf die Küsten der Normandie und Bretagne genießt – wahrlich ein erhabenes Schauspiel, das seines Gleichen sucht.