Nach Jahren
Mit Zeichnungen von W. Claudius.
„Herr Rechtsanwalt Stetten ist im Salon?“
Die Frage war an das durch und durch verblüffte Dienstmädchen gerichtet. Es hatte eben den Bescheid gegeben, daß der Herr Rechtsanwalt am Heiligen Abend nicht zu sprechen sei, und sah nun staunend mit den runden Augen auf den Fremden, der, statt sich mit landesüblicher Höflichkeit wieder zu empfehlen, zwei, drei Schritte – und was für Schritte! – längs des frischgescheuerten, nach gehackten Tannenreisern duftenden Flurs vorwärts that. Er mußte, zurückblickend, seine Frage wiederholen, ehe ein langgedehntes „Ja“ als Antwort kam, dem jedoch sehr rasch ein „Aber“ folgte.
„Ja … aber niemand darf hinein?“ vollendete er lachend, und das schüchterne Landkind athmete wie erleichtert auf; das Lachen rückte ihr den seltsamen Besucher menschlich näher.
„Die Herrschaft ist nämlich gerade beim Aufbauen der Bescherung.“
Er nickte stumm.
Familienabend also – lästig! Doch Gott mochte wissen, wann er wieder durch das Städtchen kam, und der Franz, der unzertrennliche Kamerad von früher – er war ein so guter Kerl! Warum nicht seine Frau und Kinder und die ganze Familienherrlichkeit in Kauf nehmen!
„Wohl, ich warte,“ sagte er entschlossen. „Stören Sie den Herrn nicht! Wenn er herauskommt, geben Sie ihm hier die Karte!“
Mit diesen Worten wandte er sich nach der Thür, die in das Arbeits- und Empfangszimmer des Hausherrn führte, öffnete sie und trat hinein mit einer Sicherheit, als ob er täglich und stündlich hier verkehre. Das Mädchen sah noch, wie er ungeniert Pelz und Reisemütze ablegte und sich in den alten mächtigen Großvaterstuhl am Fenster warf, dann schloß sie kopfschüttelnd die Thür hinter ihm und begab sich in ihr eigenes Reich, die Küche. –
Etwas Kurzgefaßtes, Strammes und doch wieder lässig Vornehmes lag in der Art, wie der Fremde, jetzt halb im Sessel aufgerichtet, den Kopf zurückwarf und den Blick erst längs der Bücherwände, dann durch das Fenster ins Freie gleiten ließ. Aehnliche Gegensätze, zu einer trotzdem einheitlichen Eigenart vereinigt, zeigte das Gesicht, dem man es ansah, daß sich seine Linien erst unter manchem Sturme gefestigt hatten. Auch die Augen hatten es offenbar erst lernen müssen, scharf und konzentriert zu blicken – aber sie hatten es gelernt. Nur manchmal brach ein Schimmer wie aus einer halbvergessenen Traumwelt unter den Lidern vor und verwandelte den ganzen Mann. Freilich kaum auf flüchtige Minuten. Ein leichter Strich der sehnigen gebräunten Hände durch das kurzgeschnittene Blondhaar, ein spöttisches Aufzucken um die Lippen, und die „sentimentale Anwandlung“ war verscheucht – bis ein unbeaufsichtigter Gedankengang sie wieder neu hervorrief.
Draußen fiel der Schnee in weichen Flocken. „Deutsche Weihnacht!“ murmelte er, und wieder wollte sich das böse Lächeln zeigen, aber es erstarb auf halbem Wege. Der Tanz der kleinen, weißen Sterne vor dem Fenster, ihr feierlich lautloses Durcheinanderschweben, die milde Wärme des Zimmers in Verbindung mit der geordneten anheimelnden Umgebung – das alles wirkte seltsam willenlähmend auf die reisemüden Sinne. Die Füße streckten sich, der Kopf sank in die aufgestützte Hand und die Phantasie wob ungehindert ihre bunten Bilder auf dem weißen Grunde einer deutschen Weihnacht.
Ja, er hatte manchmal schon das Fest begangen seit der Zeit, da ihm der letzte thüringer Christbaum mit seinen rothen Aepfeln und goldenen Nüssen, mit den langen Ketten funkelnder Glaskugeln und den schimmernden Lichtchen in das heiße Abschiedsweh hineingeleuchtet hatte! Das neue Jahr sah ihn im Sturm auf hoher See; die Lichter hatten sich in zahllose durcheinanderzuckende Blitze verwandelt, der Donner brüllte und die Flüche der schwer arbeitenden Matrosen hallten statt des frommen Weihnachtsliedes, das ihn damals – aus geliebtem Mund – so tief erschüttert hatte.
„Stille Nacht, heilige Nacht!“ – er hat die Weise lange nicht vergessen. Auf dem Marsche, unter den Gluthen der afrikanischen Sonne, von den vergifteten Pfeilen der Eingeborenen umschwirrt, hat sein verwirrtes Hirn sie festgehalten, haben die ausgetrockneten Lippen sie gesummt, unablässig, bis ein Geräusch wie das Brausen eines nahen Kataraktes sie in sich hineinschlang und schwarze Finsterniß den Geist umfing. Wäre er doch in jener Weihnachtsnacht gestorben, als er den tropisch blitzenden Sternenhimmel im Fieberwahn für jenen letzten heimathlichen Christbaum ansah! Das Kreuz des Südens hätte über seinem einsamen Grab geleuchtet, und die Kunde seines Todes – „ein neues Opfer deutscher Pflichttreue im Dunklen Erdtheil“ würde es geheißen haben – hätte vielleicht im fernen Vaterland – ein deutsches Mädchenherz –
Ah bah! Das lohnte sich, darum zu sterben! Süß ist das Leben … Eine andere Weihnacht unter Palmen! Die Luft ist voll von Duft, von Sang und Klang. Gluthäugige schmiegsame Gestalten schweben vor ihm dahin, leuchtenden Blumenschmuck um Haupt und Brust, ein Diadem von funkelnden Leuchtkäfern in den schwarzen Haaren. Das lacht und winkt, neigt und wendet sich – anmuthig, lockend schlingen sie den Reigen. Alles ist Lust, ist Süßigkeit, Feuer – sinnverwirrend, und –
„Langweilig! Unerträglich – dieses Warten!“ rief der junge Mann, indem er in die Höhe sprang, sich dehnend und streckend. Hatte er geschlafen? Da saß er hier, verträumt, vergessen. Warum nur? Um den bedächtigen Freund – ja wohl, er hatte früh schon Anlage zum Philister, dieser gute Franz – in seinen kindisch-wichtigen Geschäften nicht zu stören? Lächerlich! Er zog die Uhr, verglich sie mit der Wanduhr. Wenn er heute noch weiter wollte –
Ah! da kam man – „Franz!“
Vorspringend, mit der Rechten schon am Thürschloß, rief er es, trat dann aber unwillkürlich wieder einen Schritt zurück. Er fühlte, wie ihm plötzlich alles Blut zum Herzen drang. Seltsam! War er denn wirklich noch einer solchen Erregung fähig beim Wiedersehen eines alten Freundes?
Aber – das waren ja gar keine Mannestritte, das war das hastige ungleichartige Getrippel jugendlicher Füßchen, das sich draußen auf dem Vorplatz hörbar machte. Man klopfte Schnee ab, Schlittschuhe klirrten, Stimmen und Stimmchen sprachen durcheinander. Es mußten die Kinder sein, die nach Hause kamen; deshalb also war es bis jetzt bei „Rechtsanwalts“ so still gewesen!
Unmuthig warf er sich von neuem in den Sessel. Er hatte keine Lust, den Kindern zuerst zu begegnen. Was ließ sich mit solch unfertigen Geschöpfchen, solch kleinen anspruchsvollen Zukunftsmenschen reden? Hoffentlich [807] respektierten sie ihrerseits des Vaters Arbeitsstube und kamen nicht hierher!
Nein, sie kamen nicht, aber dicht nebenan ward eine Thüre geöffnet, und, dank der dünnen Wand – es war offenbar nur eine eingezogene Tapetenwand – vernahm er deutlich, wie die Gesellschaft sich drüben niederließ.
Nun, das mochte hübsch werden, wenn man ihn entdeckte. Dann zeigte man ihn natürlich mit Hallo als fremdes Wunderthier dem ganzen Hause vor – ihn, der dem Freunde nur einmal wieder in die alten guten Augen hätte sehen und am liebsten mit einem kurzen stummen Händedruck wieder hätte gehen mögen!
Aber wie? War nicht eben dieses Verlangen auch ein Stückchen deutscher Sentimentalität? Gewiß! Und die Strafe folgte auf dem Fuße. Nur daß sie nicht so hart war, wie er gefürchtet. Diese Kinderstimmen – durchaus nicht unharmonisch! dachte er. Just so, wie wenn zwei feine Glöckchen ineinanderspielen, während ein drittes tieferes den Grundton angiebt. Bruder und Schwestern also!
Uebrigens – die Kinder waren nicht allein! Er rückte unwillkürlich mit dem Stuhle von der Wand ab, so nah und unvermittelt schlug plötzlich eine weiche Frauenstimme an sein Ohr. Dabei war etwas in dem Klänge, dem Tonfall, das ihn wie elektrisiert aufhorchen ließ – doch im nächsten Augenblick verspottete er sich selbst. Er hatte eben lange weder deutsche Kinder, noch deutsche junge Damen reden hören, und die letzteren mochten sich hier zu Lande wohl sämmtlich in der Stimme ähneln, schon der Mundart wegen, die auch von den Gebildeten gesprochen wurde.
Freilich, in dieser fast unmerklichcn Weise, wie der Dialekt hier herausklang, hatte er es – damals – nur von Einer gehört. Tempi passati! Eine Handbewegung, wie wenn man ein ungeschicktes Wort von der Tafel fortstreicht, sollte wohl die lästige Erinnerung verscheuchen, die Erinnerung an Eine, die – nun die natürlich heute im eigenen Hause ihren eigenen Sprößlingen bescherte!
„Disttindchen düben bei Mama?“ erklang eben das dünnste Glöckchen, worauf das zweite etwas kräftiger einfiel: „Gistgindchen?“ das dritte aber ließ sich vorwurfsvoll vernehmen: „Chr–istk–ind müßt Ihr sagen. – Tante, ist das Christkind wirklich drüben?“ Es war offenbar der Knabe, der jetzt fragte, und: „Ja! Doch wenn Ihr hier so laut seid, fliegt es weiter,“ antwortete die „Tante“, deren Platz dem des Hörers ängstlich nahe sein mußte.
„Was macht es denn da drüben, Tante? – Tante!“ Diese mochte dem kleinen Fragesteller nicht recht bei der Sache scheinen.
„Was? Nun Ihr wißt doch, daß es all die hübschen Sachen bringt, die Ihr hernach bekommt. Es muß sich nur erst mit Papa und Mama bereden.“
„Worüber?“
„Vermuthlich, wer von Euch das Artigste gewesen ist.“
„Sooo – Wie lang’ das wohl dauert?“
„Weiß ich’s? Was lange währt, wird gut,“ scherzte die Frauenstimme, die merkwürdig weich klang.
„Das halte ich nicht aus,“ versicherte der kleine Mann, halb weinerlich, halb trotzig.
„Wirst’s schon aushalten, wenn ich etwas erzähle. Kleiner Hans, komm’ her!“
„Nein, wenn Du ‚kleiner‘ sagst – –“
Hier mußte der Zuhörer wider Willen lächeln. Der selbstbewußte Namensvetter – wohl sein Pathenkind – fing an, ihn lebhafter zu interessieren. Auch ertappte er sich auf einer Art von Neugier, zu erfahren, welche der beiden Schwestern der Frau Rechtsanwalt – „damals“ waren diese selbst noch Kinder – die „Tante“ nebenan war, Elli oder Nelli. – –
„Also – großer Hans, komm’ her, ich werde Euch erzählen.“
„Aber nicht vom Christkind – erzähl’ ’mal von dem Ritter, weißt Du, der alle seine Feinde totschlug, bis auf den einen, der hernach sein bester Freund wurde – – bitte, Tante, liebes Tantchen!“
„Laß mich, Du Wilder! Du erstickst mich ja mit Deinen Küssen!“
„Du sollst auch ersticken, wenn Du nicht von dem Ritter erzählst.“
„Heut’ ist Weihnachtsabend, da spricht man nicht von Mord und Totschlag.“
„Nun, dann erzähl’ vom – vom Onkel Hans, weißt Du, von dem, der zu den Schwarzen ging, weil – weil –“
„Weil ihm die weißen Leute hier nicht mehr gefielen,“ half die Tante nach.
Der Fremde horchte unwillkürlich höher auf.
„Und kommt er niemals wieder, Tante?“
„Nein, dem gefällt es dort zu gut. Du weißt doch, was Papa uns einmal aus der Zeitung vorgelesen hat, wie gut ihm alles ausgeht, was er unternimmt! Der wird ein mächtiger berühmter Mann und –“
„Heijathet die Pinzessin und wird Tönig,“ verkündete die jüngste Schwester triumphierend.
„K–önig!“ rief Hans. „Wirst Du’s denn niemals merken, wie man die Worte ausspricht? – König – von – von …“ wiederholte er halb fragend.
„Afrika,“ fiel die ältere der Schwestern ein. – –
Einen Augenblick lang blieb drüben alles still. Ob die Tante wohl lächelte, spöttisch natürlich, fragte sich der Fremde, der aus einem unfreiwilligen Zuhörer nun doch ein freiwilliger geworden war.
„Du, zu dem geh’ ich, wenn ich einmal groß bin – ganz groß,“ verbesserte sich der Sprecher sehr rasch.
„Ja, geh’ nur! Jetzt aber laß die Schwestern auch ’mal an das Fenster! Seht Ihr das kleine goldene Wölkchen dort am Himmel? Dorthin ist das Christkind eben geflogen. Warum habt Ihr nicht besser aufgepaßt!“
„Ah!“
Man hörte, wie die kleine Schar sich zusammendrängte, und auch der junge Mann wandte mit einer langsamen, träumerischen Bewegung Kopf und Auge dem Fenster zu. Das Schneien hatte aufgehört. Der Himmel hatte sich gelichtet, aber die kurze Wintersonne war verschwunden, ohne daß er ihren Untergang beachtet hatte. War es das kindliche Geschwätz gewesen, das ihn der Außenwelt entrückt hatte, oder war es nur die weiche Frauenstimme?
Ja, diese Aehnlichkeit der Stimme! – Wie deutlich sie ihm jene einzige Gestalt, jenes liebliche durchgeistigte Gesicht wieder vor die Seele gezaubert hatte! Die seelenvollen dunklen Augen, die so viel versprochen und nichts – gehalten; der Mund, die zartgeformten Mädchenlippen, die alle Seligkeit und Süßigkeit der Liebe ihm verheißen und dann, als es die Entscheidung galt, doch nur kühle förmliche Worte für ihn gefunden hatten, Worte, die sein ganzes Hoffen vernichteten –
Doch nein, sie hatten nichts vernichtet, sie hatten ihn zu dem gemacht, was er seitdem geworden war: zum Manne. [810] Ein heißes Erröthen ging über sein Gesicht, als er des jungen, romantisch angehauchten Lieutenants gedachte, der vor Jahren seinen letzten Weihnachtsurlaub in diesem Hause verlebte, in das ihn nun gerade heute der Zufall –
Der Zufall? Hans, großer Hans, hast du da draußen auch gelernt, zu lügen?
Wer hatte ihm den Reiseweg vorgezeichnet, der ihn gerade heute durch dieses Städtchen führte? Wer und wo erwartete man ihn so dringend? Auf seinem Gute mit dem einsamen Herrenhaus? Er hatte seine Ankunft nicht gemeldet, und, schwerlich würden sich selbst in diesem Falle der mürrische Inspektor und die bequeme „Gutsmamsell“ zu irgend welchen Empfangsfeierlichkeiten verstanden haben. Hatte sich doch auch ihr wunderlicher alter Herr, so lange er lebte, nie um den armen jungen Mann gekümmert, trotzdem er sein einziger Verwandter war! Daß Hans nach seinem Tod sein Erbe wurde, war keinem überraschender gekommen als diesem selbst. Keinem aber auch gelegener – hatte er nun doch einen Grund gehabt, in die alte Heimath zurückzukehren.
Heimath!
Alle Glocken seiner Jugend hatten in dem einen Wort zusammengeklungen. Und daß er sie nun wiedersah im Winterschmuck, im weißen Feierkleid der Weihnachtszeit! „O Weihnacht! Deutsche Weihnacht!“
Hans schüttelte den Kopf und blickte hinaus. Die von Millionen Kinderherzen herbeigesehnte Dämmerung war da, nur noch im Westen schimmerte ein leiser Strahl des geschiedenen Tages. Ihm dünkte, daß es seine Kindheit wäre, seine Jugend, das Glück, das ihm einmal gewinkt und das er nicht errungen hatte.
In diesem Augenblick endete die kurze Stille, die im Nebenzimmer eingetreten und nur gelegentlich durch ein entzücktes leises „Ah!“ oder ein: „Duck ’mal!“ unterbrochen worden war. Drüben wurde lebhaft eine Thür aufgerissen und eine helle Frauenstimme rief in das Zimmer:
„Hier find’ ich Euch? Seid wohl schon längst wieder da und habt inzwischen die Tante wieder recht gequält?“
„Mama! Mama! Ist’s fertig? Dürfen wir jetzt kommen?“
„Bewahre, Kinder! Aber werft mich nur nicht um! Erst wollen wir zusammen Kaffee trinken. Inzwischen wird es richtig Nacht, und dann – –“
„Hurra, erst Kaffee trinken – dann kann’s losgehn!“
„Ja! Aber nun geschwind ins Wohnzimmer! Papa sitzt schon am Tisch, der schenkt Euch ein.“
Im Handumdrehen war die kleine Schar davongestoben, und Hans hörte, wie „Mama“ zu „Tante“ trat.
„Kann man Dich endlich allein haben, ohne diese Kletten?“ rief sie mit einem Seufzer komischer Erleichterung, um dann ernster fortzufahren: „Den ganzen Tag geh’ ich um Dich herum – ich wollte Dich fragen, ob Du es erlaubst, daß wir den Doktor – er wäre so glücklich, wenn –“
„Ihr habt ihn eingeladen?“
„Nicht doch, und wenn Du es nicht willst, geschieht’s auch nicht. Obschon er einen dauert – so allein am Weihnachtsabend. Und Du, ein Mädchen, so geschaffen, einen Mann glücklich zu machen –“
„Als ob wir nur dazu da wären!“
„Nein, das sind wir nicht – aber sieh, der Doktor –“
„Lucie!“
Es war etwas schmerzlich Vorwurfsvolles in dem Ausruf, das den Hörer wunderlich bewegte; die Sprecherin jedoch fuhr munter fort:
„Nun ja, ich bin schon still, still wie ein Fisch. Obgleich ich Dich nicht begreife. Sag’ mir nur, auf wen Du wartest. Sitzest Du nicht hier wie weiland Frau Penelope inmitten ihrer Freier? Was gilt’s, Du hast auch einen Schwur gethan wie jene vielgerühmte Mustergattin des durchaus nicht immer musterhaften Herumstreichers! Wie Du roth wirst! Hab’ ich’s errathen? Und da ist ja auch die ewige grüne Börse, die nie fertig wird, so oft Du auch vor Weihnachten daran häkelst oder so thust, als ob Du daran häkeltest – – was hat’s denn für eine Bewandtniß mit dem Ungethüm?“
„Lucie!“
„Wie, Thränen? Nicht dran rühren? Das wird ernsthaft! So steckt hier wirklich etwas dahinter? Etwas, was Dich unglücklich macht? Denn Du magst sagen, was Du willst – glücklich bist Du nicht. Oder hältst Du mich für so – so oberflächlich, daß ich das nicht merken sollte? Und hast Du denn gar kein Vertrauen zu mir? Bin ich nicht Deine treueste und beste Freundin?“
„Die einzige! Ach, wenn ich Euch nicht hätte, Dich und die Kinder –“.
„Hab’ nur ’mal eigene! Aber sprich, was ist’s eigentlich mit dieser Häkelei?“
„Lach’ mich nicht aus … vor Weihnachten such’ ich mir jedesmal die Arbeit, will sie fertig machen, an irgend wen verschenken, und – kann es nicht, weil sie – nein, nicht sowohl die Arbeit als der kleine Seidenrest auf dem Karton – er ist – so eine Art von Andenken an – doch horch! Dein Mann ist drüben in der Stube!“
„Mein Mann in seiner Stube? Heut’ am Weihnachtsabend? Denkt nicht dran, den lassen schon die Kinder nicht los! So, so – ein Andenken? An wen denn, Serena?“
Hans, der schon seit mehreren Minuten, die Hände krampfhaft um die Armlehnen geklammert, in fieberhafter Erregung dagesessen hatte, sprang bei der Nennung dieses Namens mit einem halb erstickten Ausruf in die Höhe. Schon bei Erwähnung der grünen Börse hatte es in seinen dunklen Zügen gezuckt, jetzt stand er und starrte wie ein Trunkener auf die Tapete, hinter der die beiden Stimmen weiter sprachen.
Im nächsten Augenblick besann er sich, daß er schon längst seinen Lauscherposten hätte verlassen müssen, daß er nicht länger zaudern dürfe, wollte er nicht alles Zartgefühl verleugnen. Und hoch aufathmend eilte er aus dem Zimmer. Er wußte, wo der Freund zu finden war, nun mußte er eine Unterredung mit ihm haben – einerlei, ob auch seine ganze Weihnachtsordnung darüber umgeworfen wurde.
Es war ein schmales einfenstriges Kabinett, zu Wartezwecken für bevorzugte Klienten von dem größeren Empfangsraum abgetheilt, in dem die beiden Freundinnen jetzt unwillkürlich leiser miteinander sprachen.
„Aber allen Ernstes, Lucie, das waren Männerschritte.“
„Ach was, das war die Christel, die nach mir gesucht haben wird. Lassen wir sie suchen! Du sinnst auf Ausflüchte, um meinen Fragen auszuweichen, aber diesmal gelingt Dir’s nicht. Also heraus damit – wem gilt dieses Andenken?“
„Einem, der nicht mehr an mich denkt, wenn er es überhaupt je gethan hat. Er – – nun kurz: es war einen Tag vor Weihnachten. Die Börse sollte zu dem Fest noch fertig werden. Da kam er, saß mir gegenüber – lange, lange. Ich holte mir das letzte Strähnchen Seide und hielt es, während er den Faden aufwand. Und dabei – ach Lucie, dabei hab’ ich meinen Traum von Glück geträumt, der – ein Traum geblieben ist.“
„Saht ihr Euch wieder?“
„Einmal.“
„Wann und wo?“
„Hier war’s, bei – Euch. Am Weihnachtsabend vor fünf Jahren.“
„Ah – also doch!“ Frau Lucie trat unwillkürlich einen [811] Schritt zurück. „Wir hatten Euer Einverständniß angenommen und uns gefreut – wie sehr! Aber als Ihr Euch dann unter unserem Christbaum gegenüberstandet, so fremd und kalt, da habt Ihr’s verstanden, Euere wärmsten Helfer zu ernüchtern. Und nun ist’s doch gewesen, wie wir dachten – doch!“ Sie klopfte mit den Spitzen ihrer Füße heftig auf den Boden.
Zwei schlanke Mädchenhände streckten sich wie beschwörend gegen die erregte Hausfrau. „Lucie! Wenn er nichts sagte, konnte ich es dann?“
„Nein – aber Du konntest Deine Gefühle soweit zeigen, daß ein feines Empfinden – und das hatte er – die Wahrheit errathen hätte. O, die Geschichte ist zu toll! Da ist ein junges Mädchen, unabhängig, schön, reich, liebend und geliebt … und läßt aus falscher Zurückhaltung den Geliebten übers Weltmeer ziehen, wo die Gefahr ihn tausendfach umlauert, ja wo schon das Klima – – Aber was kommt Ihr denn schon wieder, Kinder?“ rief Frau Lucie, deren schmerzliche Empörung beim Anblick der kleinen Störenfriede in einen gesunden Aerger überging.
„Tante! Mama! Der Papa hat Besuch!“
„Den Weihnachtsmann!“ versicherten die Mädchen.
Die Mutter schüttelte unwillig den Kopf. „Der Doktor? Sollte er ohne Einladung gekommen sein?“
„Nein, nicht der Onkel Doktor,“ sagte Hans. „Die Stimme war ganz anders, die war so –“ Er suchte offenbar nach einem passenden Vergleich, ohne ihn in seiner Aufregung zu finden.
Nun wurde doch auch in Frau Lucie die Neugier wach.
„Habt Ihr den Mann gesehen?“
Nein, niemand hatte ihn gesehen. Es hatte an der Thüre des Wohnzimmers „detlopft“ –
„G-ek-lopft, tüchtig geklopft,“ schrie Hans, als ob er zeigen wollte, daß er wieder in dem glücklichen Besitze seiner Stimme sei.
„Ohne daß vorher die Flurglocke geläutet wurde?“
Nein, niemand hatte vorher läuten hören. Der Rechtsanwalt war auf das Klopfen schnell hinausgegangen. Die Kinder hatten einen lauten Ausruf des Papas, dann ein rasches Hin und Her von Fragen und Antworten gehört – „aber kein Wort verstanden!“ murrte Hans dazwischen – und dann, dann hatte der Papa den Kopf, der „danz, danz roth“ war, wieder durch die Thürspalte hereingesteckt und gesagt. „Kinder, ich hab’ Besuch. Geht zur Mama!“ und war mit dem Besuch in den Salon gegangen.
In den Salon? Mit einem Fremden? Jetzt wo man den Baum anzünden, bescheren wollte? Die kleine sonst so entschlossene Frau stand einen Augenblick rathlos da und blickte nach der Freundin, wortlos fragend, was die zu dieser Störung sage.
Aber diese sagte nichts. Sie hatte von dem allem kaum etwas verstanden. Ihre Augen sahen nicht, was um sie vorging. Der deutsche Winterabend war für sie verschwunden. Vor ihren Augen leuchtete die rothe Wüstensonne, die auf dürres Erdreich, auf Züge ausgehungerter, erschöpft zusammenbrechender Gestalten brannte. Und dorthin hätte sie ihn geschickt? Wenn er nun dort unterging – –
„Serena!“
Es war der Freundin Stimme, die bittend neben ihr erklang.
„Serena, willst Du die Kinder nicht noch einen Augenblick bei Dir behalten? Ich muß hinüber, nachsehen, welche Störung – – nicht doch: dem Christkind helfen, daß es fertig wird. Hans, willst Du wohl hierher! Seid Ihr denn sämmtlich aus dem Häuschen? Husch! Husch!“ Damit trieb Frau Lucie ihre Sprößlinge vom Vorplatz wieder in das Zimmer, schloß die Thüre ab und ließ die also Eingefangenen im Dunkeln.
O diese kurze liebliche Gefangenschaft, diese Dunkelheit, in die der Glanz der seligsten Erwartung, der Vorschimmer all der Herrlichkeiten leuchtet, die jetzt das Christkind „drüben“ vorbereitet! Soweit ab von der Welt der Kinder die Gedanken des Mädchens eben noch waren, es ward ihr warm ums Herz, als die kleinen Hände tastend nach ihr faßten. Weiche Aermchen schlangen sich um ihren Hals, zwei Köpfchen schmiegten sich an ihre Schulter. Und als selbst Hans in ungewohnter Weichheit – die Dunkelheit ist eine gute Bändigerin der Wilden – seine Wange an ihre Brust legte, ihr anvertrauend, daß er durch das Schlüsselloch einen weißbehelmten Neger gesehen habe, einen von den neuen Zinnsoldaten, als nun auch die Kleinen mit heimlichem Gewisper und Gekicher ihre hochgespannten Erwartungen verriethen, als all die frischen Lippen, stammelnd und flüsternd, ihr so nahe waren, all das weiche warme junge Leben sich so vertrauend an sie drängte, da fühlte sie sich plötzlich süß durchschauert, wie von der Ahnung eines großen Glücks.
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Die Kleinen hatten recht gehabt: es war der richtige Weihnachtsmann, den der Heilige
Abend bei Rechtsanwalts im wahren Sinne des Wortes hereingeschneit hatte. Einer
schöneren Christbescherung wußten sich Eltern und Kinder jetzt und später nicht zu erinnern.
Nur etwas länger hatte man dieses Mal auf den ersehnten Ruf der Klingel warten müssen.
Und doch waren es sechs Hände statt der gewohnten vier, die sich mit dem Anzünden des Weihnachtsbaumes beschäftigten. Aber wer zugesehen hätte, wie oft der Hausherr zwischenhinein den Gast umarmte, ihn dann wieder von sich abhielt um ihn schmunzelnd zu betrachten, wer mit angehört hätte, wieviel Frau Luciens hübscher Sprudelmund zu fragen, zu berichten und immer [812] wieder neu zu fragen hatte, der würde sich gewundert haben, daß die drei Leutchen überhaupt nur fertig wurden.
Aber schließlich stand er da, ein Prachtbaum unter allen Weihnachtsbäumen – darauf hielt der Rechtsanwalt von jeher – flimmernd im Strahl seiner hundert Lichter vom breitverzweigten unteren Geäste bis zu dem Weihnachtsengel auf der Spitze, der scheinbar aus der hohen Decke niederschwebte. Fast blendend schimmerte die lange Tafel in dem schneeigen Damastgedeck, dem Stolz der Hausfrau. Und darauf blinkte, blitzte, strahlte im Glanz der Neuheit, was von den Träumen dreier Kinderseelen Wirklichkeit geworden war. Hier Puppen, Puppenwagen, Puppenstube – Wunderwerke für die Phantasie der Kleinen, eine farbenbunte kleine Schönheitswelt für sich; dort das Ideal des Knaben: Manneswaffen! Wie er funkelte, der „Damascener“-Säbel! Wie der Beschlag der Armbrust blitzte! Wie prächtig die schwarz-weiß-rothe Fahne sich entfaltete inmitten der in einem Palmenhaine aufgestellten weißen Zeltstadt! Wie stramm die schwarze Kompagnie dort exerzierte!
Und jetzt – jetzt war er da, der athemraubende, der große, heißersehnte Augenblick! Die Flügelthüre, der Eingang in den Himmel, that sich auf, und drinnen war der Himmel – der halberstickte Laut der Ueberraschung, dem ein plötzliches Verstummen folgte, kündete das Uebermaß der Seligkeit. Die Kinder, vorwärts stürzend, standen wieder, vom der großen Lichtwelle geblendet, die so unvermuthet auf sie eindrang, wortlos nach den Herrlichkeiten starrend, bis der Bann des ersten überwältigenden Eindrucks sich löste, um jenem grenzenlosen Jubel Platz zu machen, der für Eltern die herrlichste Musik auf dieser Erde ist. Und nun ein Trippeln, Hüpfen, Tanzen kleiner Füße, ein Aufflattern der kleinen Arme am Hals des Vaters und der Mutter, ein Deuten, Zeigen, zitterndes Betasten und schließlich ein leidenschaftliches Herunterholen der Geschenke – ein Rufen, Fragen, Durcheinanderreden – – kein Wunder, daß die Eltern nur noch Augen und Ohren für die glückliche kleine Schar hatten.
Ihre beiden Gäste hätten sich jetzt ihretwegen ebensogut auf irgend einem ausgebrannten Mondkrater begegnen können, anstatt daß sie sich plötzlich hier im Glanz und Jubel einer deutschen Weihnacht gegenüberstanden.
Ein Wiedersehen nach fünf Jahren!
Da stand sie, hoch und schlank, eine gewinnende liebliche Erscheinung in dem lichtgrauen Kleid, das sich in weichen Falten um sie schmiegte. In der offenen Thüre vor dem dunklen Hintergrund des Nebenzimmers stehend, vom vollen Licht des Christbaums angestrahlt, war Serena in ihrer plötzlichen Bewegungslosigkeit wie ein eigenartig schönes Bild zu sehen.
Aber nein! sie war es selbst, die Nievergessene, nur schöner noch in ihrer tiefen Blässe, aus der die dunklen Augen erschrocken, fragend, zweifelnd nach ihm hinstarrten, bis sie erst in jäher seliger Gewißheit aufleuchteten und sich dann verwirrt zu Boden senkten.
Freudestrahlend, in übermächtiger Bewegung eilte er mit ausgestreckten Händen auf sie zu, aber – mit stummer Abwehr, die kein Folgen zuließ, trat sie in die Tiefe des dunklen Raumes hinter sich zurück.
Serenas erster Gedanke war Flucht, in ihrem Herzen hämmerte es wild, jeder Nerv zitterte noch von dem tödlich süßen Schrecken dieser Ueberraschung.
Er – hier! Wie kam er her? Weshalb? Bloß um des Freundes willen? Gewiß! gewiß! was sollte er noch von ihr wollen? Er, der sich wohl schon längst getröstet hatte, wenn – ja wenn er wirklich einmal, wie Lucie meinte – sie glaubte es ja nicht – des Trostes bedürftig gewesen, war!
„Serena!“ „Tante!“ „Tante S’ena!“
Man rief nach ihr, man suchte. Sie wurde aus dem Dunkel in das Licht gezogen und von allen Seiten umdrängt. Frau Lucie schloß sie in eine feurige vielsagende Umarmung, der Rechtsanwalt zerdrückte ihr erregt die Hand, von den Kindern wollte ihr jedes zuerst das Schönste zeigen. Sie mußte sich vom kleinen Hans dem großen Hans zuführen lassen, der natürlich nur als Extra-Christgeschenk für seinen Pathen aus Afrika gekommen war, mußte Seite an Seite mit ihm stehend, die famose schwarze Truppe mustern, den Lebkuchen, den Marzipan versuchen, sich freuen, lächeln, lachen – –
Und Serena freute sich, sie lächelte, sie lachte; sie bewunderte das kleine dicke Wickelkind von Elli, das so schön schreien, und den kleinen dicken Täufling von Nelli, der sogar die Augen schließen konnte, und sie beging nur den für die Kleinen freilich unbegreiflichen Verstoß, daß sie das Schreikind mit dem Schlafkindchen verwechselte und das anziehende Paar in die falschen Wiegen legte.
Dann folgte sie der Hausfrau an den Flügel. Sie sollte spielen, singen. „Stille Nacht, heilige Nacht“ – nein, mit dem Singen ging es trotz des besten Willens nicht, und der Rechtsanwalt mußte durch seine Stimme das Lied zu retten suchen, bis Hans ihn vom Flügel fortholte. Wie seltsam ernst dieser dabei aussah!
An der kleinen Abendtafel ging es, nachdem die Kinder zu Bett gebracht waren, laut, fast überlaut her. Der Hausherr, gar nicht wiederzuerkennen, schlug fast beständig an sein Glas, und die Reden sprudelten ihm nur so vom Munde, so daß seine Frau vor Staunen und vor Stolz auf ihren Fritz dazwischen hinein kaum einmal zu Worte kam – was viel sagen wollte!
Dann hatte man zusammen angestoßen und wieder angestoßen, auf Freundschaft und Vaterland, auf deutsche Treue, auf jeden einzelnen unter den Tischgenossen, und schließlich hatte sich Serena fortgestohlen in das Schlafzimmer der kleinen Mädchen, neben deren Betten die Wiegen mit den beiden Puppen standen. Hier war Friede – stille Nacht, heilige Nacht.
Wie ein Traum lag das Erlebte hinter ihr, ein Traum, aus dessen Schleiern nur immer wieder sein Gesicht auftauchte, seine Gestalt hervortrat, seine Stimme vorklang … so wenig er auch gesprochen hatte – mit ihr nur einmal, als er ihr über den Tisch hinüber zutrank: „Auf die Erfüllung meines Weihnachtswunsches!“
Welches Wunsches, das hatte er nicht gesagt, aber so gut und bittend dabei ausgesehen, daß sie sich fast – vergessen hätte. Kühl bleiben, nur nicht selber sich verrathen – es war auf die Länge schwer geworden, um so schwerer, je mehr sich aus dem Neuen, Veränderten seines Wesens die alte kindliche Treuherzigkeit herausgeschält. Wie er die Kleinen auf die Knie klettern, in seinem Barte hatte zausen lassen; wie er den kleinen Hans, der sonst auf keine Weise von ihm fort zu nehmen war, selbst zu Bett gebracht hatte!
„Das hätten seine Schwarzen sehen sollen!“ hatte der Rechtsanwalt lachend gerufen, und ihr selber war ein Lächeln über die ernsten Züge gehuscht.
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Frau Lucie hatte die Freundin mit sanfter Gewalt aus dem Schlafzimmer der Kinder fortgeholt, und nun, nachdem die laute Lust verrauscht, der Glanz des Weihnachtsbaumes bis auf das letzte Lichtstümpfchen erloschen war, nun saß man sich im „Boudoir“ der Hausfrau an dem gemüthlichsten aller Eck- und Plaudertische gegenüber. Man sprach von dem und jenem, bis plötzlich Frau Lucie sich erhob und hinausging, um „von nebenan etwas zu [814] holen“. Der Rechtsanwalt folgte ihr ohne ein Wort der Entschuldigung, es seinen Gästen überlassend, sich sein Verschwinden zurechtzulegen.
Aengstlich blickte Serena von der feinen Stickerei, auf die sie sich gebückt hielt, in die Höhe und unvermittelt in zwei Augen, die fest und warm auf sie gerichtet waren, mit einem Ausdruck, der ihr alles Blut zum Herzen trieb. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie die Arbeit nicht mehr halten konnten.
„Serena!“
„Herr – Herr Hauptmann!“ Sie wollte aufstehen, sich entfernen, aber die Knie versagten ihr den Dienst.
„Fräulein Serena! darf ich reden, wie ich – vor fünf Jahren – hätte reden sollen? Ich war vorhin unfreiwilliger Zeuge des Gesprächs – –“
Serenas Blässe wich einer dunklen Röthe. Die Schritte – großer Gott! „Sie waren dort im Arbeitszimmer? Und Sie haben zugehört?“
„Nicht länger, als die Ehre es erlaubte.“
Sie sah unsicher nach ihm hin. Ihr ganzes Wesen war in Aufruhr.
Unwillkürlich war sie weiter von ihm abgerückt, so daß der Lampenschirm ihm ihr Gesicht verbarg. Er schob die Lampe ruhig auf die Seite. „Darf ich reden?“
Und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
„Erinnern Sie sich noch an jenen dämmernden Dezembernachmittag, der mich im Auftrag unserer gemeinsamen Freunde zu Ihnen führte mit der Bitte, daß Sie den Weihnachtsabend hier bei uns verleben möchten? Sie saßen – o ich seh’ es noch – vor Eifer wie in Rosengluth getaucht, an einer Handarbeit. Das krause Haar, das Sie noch immer, trotz der Mode, in die Höhe streichen, war in die Stirn gefallen, wie es immer thut, wenn Sie erregt sind.“
Serenas Finger fuhren unwillkürlich nach der Stirn, um das widerspenstige Geringel fortzustreichen, das ihr auch jetzt wieder vorgefallen war. Darunter hervor sah sie halb gerührt, halb ärgerlich zu ihm auf.
Lächelnd fuhr er fort: „Ihre Arbeit sollte noch bis zum anderen Tage fertig werden – eine grüne Börse war’s – wenn ich mich nicht irre, dieselbe, die dort drüben – –“
Serena fuhr in die Höhe, einen scheuen Blick auf ihren Arbeitskorb werfend, der seitwärts auf dem Tische stand. Hans aber legte bittend die Hand auf ihren Arm und drückte sie sanft auf ihren Sessel nieder.
„Bin ich denn ein so fürchterlicher Mensch, Serena, daß Sie davonlaufen müssen? Und interessiert Sie das, was ich zu sagen habe, auch nicht ein bißchen? – So, das ist lieb von Ihnen, daß Sie sich wieder niederlassen! Sehen Sie, als es sich damals um die Frage drehte, ob ich gehen oder bleiben sollte, da war der arme Bursch verliebt bis zur Narrheit, bis zum – Versemachen. Statt vor Sie hinzutreten als ein ehrlicher Soldat und zu sprechen: ‚So steht’s – nun sag’, was weiter werden soll,‘ bringt der dichtende Held sein übermäßiges Empfinden zu Papier, dieses Papier auf eine, wie er meint, sehr zarte und sehr kluge Art in Ihre Hände und harrt am nächsten Abend mit verzehrender Ungeduld seines Christgeschenks und – wartet heute noch darauf. Denn die Arbeit ist – verzeihen Sie, Serena“ – er nahm die Häkelei sorglich aus dem Korbe – „die Arbeit ist unglücklicherweise nicht vollendet, der Gefühlserguß des blöden Schäfers nie gelesen worden.“ Mit schlecht verhehlter Hast entfernte er den Seidenrest von dem Papier und zeigte dieses, nachdem er es geglättet, dem Mädchen, dessen Züge wie von einer Morgenröthe des Glückes überstrahlt erschienen.
Der kleine Bogen war beschrieben – – Verse!
„Darf ich – lesen?“
Sie lächelte – aber zugleich traten ihr die lange zurückgedrängten Thränen in die Augen; mit einer leisen Handbewegung gab sie die Erlaubniß.
Eine flammende Gluth ging über die männlichen gebräunten Züge, und die Hand, mit der Hans glättend immer und immer wieder über die tiefen Brüche des mißhandelten Papiers fuhr, zitterte gleich seiner Stimme, als er begann, das altgewordene Gedicht zu lesen:
„O Weihnacht! Deutsche Weihnacht! Unvergessen
Dem Mann, was einst des Kindes höchster Klang!
Ein Strom von Liebe, Liebe unermessen,
Durchwogt die Welt und löst des Winters Zwang,
Wandelt in Frieden wilden Sturms Gebrause,
Zaubert den Frühling zwischen Schnee und Eis –
Ach! doppelt einsam, wer aus öder Klause
Hinüberschaut in der Beglückten Kreis!
Dort jubeln Kinder, helle Augen funkeln
Den Glanz des Christbaums schöner noch zurück – –
Wo führt der Weg hinüber aus dem Dunkeln?
Wann blüht auch ihm, das er ersehnt – das Glück?
In ihren Zügen glaubt er es zu lesen,
Den Abglanz dessen, was ihn selig macht –
Ach, ob es Wahrheit, ob es Traum gewesen.
Verkünde du ihm, heil’ge Weihenacht!
Kein armes Kind geht unbeschenkt von hinnen –
O, löse du der Zungen starres Band!
Laß treues Herz ein treues Herz gewinnen,
Gieb Hände, die sich suchen, Hand in Hand!“
Leise verklangen die letzten Worte des Gedichtes – die Hände und die Lippen der beiden fanden sich in jenem seligen Schweigen, das die süßeste von allen Sprachen der Liebe ist.
Einen Augenblick lang hatte dies stille Glück einen Zeugen – Frau Lucie war leise über die Schwelle getreten; aber rasch ging sie wieder zurück und schloß die Thüre hinter sich behutsam zu. Drinnen im Nebenzimmer warf sie sich mit einem mühsam unterdrückten Jubelruf dem Gatten an den Hals. „Gottlob, die Sache ist in Ordnung! Aber ich sag’ Dir – wie die Zwei da drin beieinandersitzen … das ist noch schöner als bei unserer Verlobung!“
„Hm!“ brummte der Rechtsanwalt – er brummte immer, wenn er eine große Rührung überwinden wollte – „dafür hat es allerdings auch nicht so lange gedauert, bis ich den Mund aufthat.“
„Oder ich!“ rief sie. „Wer war der Erste?“ Er blieb die Antwort schuldig, und nicht ungern. Denn sie verstand es noch heute nicht weniger gut, ihm den Mund zu schließen, wie damals, als er – oder sie zuerst gesprochen hatte.