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Autor: Paul Bekker
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Titel: Musik in New-York [3]
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aus: Pariser Tageszeitung, Jg. 2. 1937, Nr. 292 (30.03.1937), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1937
Verlag: Pariser Tageszeitung
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Erscheinungsort: Paris
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Musik in New-York [3]


Der nachfolgende Artikel, den die „Neue Zürcher Zeitung[“] veröffentlicht hat, ist der letzte Artikel, den Paul Bekker kurz vor seinem Tode geschrieben hat, als er glaubte, nach achtmonatlicher Krankheit genesen zu sein.

New York im März

Wenn man durch irgendeinen Zufall – Abwesenheit oder Krankheit – längere Zeit verhindert gewesen ist, das New Yorker Musikleben ständig zu beobachten, so bemerkt man bei der Rückkehr, dass alles genau so ist, wie vorher, ausgenommen vielleicht ein paar Personalveränderungen. Darüber hinaus hat sich nichts begeben, dem man nachweinen müsste. Da waren keine Ereignisse, keine Neuheiten, keine Aufregungen, keine Höhepunkte – es geht alles so friedlich und farblos gleichmässig weiter, wie eine brave Mühle, und es ist im Grunde ganz gleichgültig, wo man wieder anknüpft.

Aeusserlich die wichtigste Neuerung war das Ausscheiden Toscaninis als Leiter der Philharmonischen Konzerte. Für den laufenden Winter hat man diese Konzerte, die jeden Donnerstag stattfinden und an den drei folgenden Tagen wiederholt werden, an mehrere Dirigenten aufgeteilt. Von ihnen hatten die Hauptanteile John Barbirolli (England) und Arthur Rodzinski (Amerika), während zwischendurch Igor Strawinsky, Georges Enescu[1] (Rumänien) und Carlos Chavez (Mexico) als Gäste auf je zwei Wochen amtierten. Strawinsky ist als sachlich nüchterner Interpret in aller Welt bekannt, Enesco repräsentiert einen ungewöhnlich sympathischen, warmherzigen Typ eines von innen heraus schaffenden Vollblutmusikers, der Mexikaner Chavez ist im Gegensatz dazu ein Charlatan, der es versteht, sich in seiner engeren Heimat das Ansehen eines modernen Musikers zu geben.

Das Wichtigste waren indessen nicht diese Gastspiele, sondern die Tatsache, dass der junge Barbirolli nach wenigen Konzerten als alleiniger künstlerischer Oberleiter der Philharmonie für die nächsten drei Jahre verpflichtet wurde. Das gab eine Sensation, denn jedermann fragte sich: warum? Barbirolli hatte sich bis dahin als fleissiger und tüchtiger Durchschnittsmusiker erwiesen, er verstand es augenscheinlich, mit dem Orchester gut umzugehen und ordentlich zu musizieren, und die Vereinheitlichung der Leitung war seit langem der Wunsch aller ernsthaften Musikfreunde. Wenn trotzdem das Befremden ob des kühnen und plötzlichen Entschlusses der Philharmonie-Direktoren überwog, so einfach aus dem Grunde, weil Barbirolli mit allen nützlichen Gaben nicht die persönlichen Qualitäten zu besitzen schien, die eine derart langbefristete Berufung rechtfertigten. Der Fall zeigt wieder einmal das für New York und Amerika im allgemeinen so typische Charakteristikum, nämlich, dass für richtige Wertbegriffe kein Unterscheidungsmerkmal vorhanden ist.[2] Ausgezeichnetes wird zwar anerkannt, aber das Mittelmässige, manchmal sogar das weniger als Mittelmässige, kann bei einiger Geschicklichkeit eine ebenso bedeutsame Rolle spielen. Man hat keine Masstäbe.

Der Haupteffekt aber trat ein, als wenige Wochen nach der Bekanntgabe des dreijährigen Barbirolli-Engagements die Rückkehr Toscaninis angekündigt wurde, und zwar als Leiter eines Rundfunkorchesters. Er soll zehn Konzerte dirigieren, für die er insgesamt 40.000 Dollar – bei Fortfall sämtlicher Unkosten, Steuern, usw. – erhalten wird. Man kann sich die Verdutztheit aller interessierten Kreise bei Veröffentlichung dieser Nachricht vorstellen. In der Tat ist es eine der sonderbarsten Angelegenheiten, von welcher Seite man sie betrachten mag. Toscanini, der Ende der vorigen Spielzeit wochenlang Abschied gefeiert hatte, warf plötzlich seinen Entschluss um zugunsten eines zweit- bis drittrangigen Rundfunkorchesters, die Philharmonie stand da mit langer Nase und dem dreijährigen Vertrag mit Barbirolli – was das Publikum tun wird, bleibt abzuwarten. Das ganze Vorfall ist bezeichnend für eine Situation, in der es keinen leitenden Kopf gibt, sondern ein Unternehmer den andern zu übertrumpfen sucht, und Geld für Ueberraschungseffekte in Fülle vorhanden ist. Was sachlich dabei herauskommt, kümmert niemanden.

Auch das Philadelphia-Orchester hat inzwischen seinen Leiter ausgewechselt. An die Stelle von Leopold Stokowsky, der nur noch eine begrenzte Zahl von Konzerten leitet, ist der junge Ungar Eugen Ormandy getreten. Die wichtigen Stellen sind vorläufig noch alle in den Händen von Ausländern, obschon im Kongress jetzt die sogenannte Dickstein-Vorlage diskutiert wird, die eine Art Fremdensperre für Künstler bedeutet. Es sollen nämlich nur so viel ausländische Sänger, Musiker, Schauspieler zugelassen werden, wie Amerikaner in dem betreffenden Ausland tätig sind. Das ist eine unsinnige Forderung, denn die Amerikaner haben bei allem sehr zu beachtenden Musiktalent heute noch nicht annähernd die Reife, um als gleichwertige Partner der europäischen Musiker und Sänger auftreten zu können. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Dickstein-Vorlage Gesetz werden wird, immerhin ist ihr Erscheinen symptomatisch für gewisse nationalistische Regungen, die zeitentsprechend nun auch in Amerika sich zur Geltung zu bringen suchen.

Man sieht das besonders deutlich an der New Yorker Metropolitan-Oper. Früher war es üblich, dass amerikanische Sänger, die Karriere machen wollten, sich ausländische Namen beilegten. Wenn heute bekannt wird, dass ein Künstler Amerikaner ist, so ist damit sein Erfolg gesichert. Das Publikum verhätschelt ihn und landsmannschafliche Gefühle treten an die Stelle kritischer Erwägungen. Die einzige Novität der „Metropolitan“ innerhalb von zwei Spielzeiten war die Oper „Caponsacchi“ von Richard Hageman, eine fadenscheinige Nachahmung schlechter italienischer Muster. Aber der Komponist ist gebürtiger Amerikaner und hat dreissig Jahre in New York gelebt: darauf gründet sich sein moralischer Anspruch, aufgeführt und gefeiert zu werden. Sicher geht es heutzutage in der ganzen Welt so oder ähnlich zu. Dass aber ein derart grosses oder unabhängiges Land, das bisher mit Recht auf seine Vorurteilslosigkeit stolz war, solche kleinliche Vetternwirtschaft mitmacht, erscheint um so bedauerlicher, als Amerika gerade als Kunstland vorläufig noch ohne Import überhaupt nicht existieren kann.

Im übrigen geht die „Metropolitan“ ihren gewohnten Trott. Mozart wird überhaupt nicht aufgeführt, kaum noch Verdi und Puccini. Wagner ist der Haupttrumpf, in Aufführungen freilich, deren allgemeines Niveau dem europäischer Provinzbühnen zweiten Ranges entspricht. Alles Sonstige ist allerdings noch schlechter. Ein Werk wie „Carmen“ etwa wird man selten derart unzulänglich in Besetzung und Ausstattung hören, wie in dem ersten Operntheater der Welt. Dabei sind gute Künstler vorhanden, gelegentlich gelingt auch etwas Hübsches, wie Rimsky-Korsakoffs „Goldener Hahn“. Aber unmittelbar daneben stehen schauerliche Reste der Vergangenheit und werden eifrig bewundert. Es ist das nämliche wie auf allen andern Gebieten: es fehlen die Masstäbe, und die Wirkungen werden bestimmt nicht durch Qualitäten, sondern durch Zufälligkeiten der Mode oder der Reklame.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Enesco
  2. Vorlage: Der Fall zeigt wieder einmal, dass für New York und Amerika im allgemeinen so typische Charakteristikum, nämlich, dass für richtige Wertbegriffe kein Unterscheidungsmerkmal vorhanden ist.