Modespionage
„Die neuen Modelle werden nicht in diesen Schaufenstern ausgestellt, sondern sind nur im Innern der Geschäftsräume zu besichtigen.“
Über diese Inschrift im Schaufenster eines größeren Modewarengeschäfts hat sich wohl schon mancher Uneingeweihte gewundert, und selbst viele Frauen, die doch Sachverständige in derartigen Dingen sind, wissen nicht, daß diese Inschrift nur angebracht ist, weil sich der Inhaber des Geschäfts gegen die Spionage schützen will, die betreffs neuer Modelle für Damenkleider und Hüte beständig ausgeübt wird.
Der Kampf zwischen den Erfindern neuer Modemodelle und den Leuten, welche versuchen, sich diese neuen Erfindungen widerrechtlich anzueignen, ist ebenso originell wie interessant.
Vor einem der großen Pariser Häuser, in dem ein König der Mode thront, der zu seinen Kundinnen nur wirkliche Millionärinnen und Fürstinnen von reinstem Geblüt zählt, der in seinen Ateliers die Modelle für die Mode herstellt, die während der nächsten Monate in der ganzen Welt maßgebend sein wird, fährt ein hochelegantes Automobil vor. Der Lenker des Automobils und der neben ihm sitzende Diener zeigen eine einfache, aber vornehme Livree. Der Diener öffnet den Schlag, und eine elegante Dame, der man auf weite Entfernung ansieht, daß sie mindestens sechzehn ritterbürtige Ahnen hat, entsteigt dem Fahrzeug. Der Diener eilt nach dem Kontor des berühmten Modehauses und meldet die Herzogin L. aus London an, welche gekommen ist, um Einkäufe zu machen.
Die Hoheit wird mit allen Ehren empfangen und nach dem mit höchstem Luxus eingerichteten Probesalon geleitet, in welchem die neuen Modelle von Kleidern vorgeführt werden. Mehr als ein Dutzend männlicher und weiblicher Angestellter der Firma, sowie der Chef selbst sind anwesend, um die hohe Kundin zu empfangen. Die Herzogin spricht nur gebrochen Französisch und wünscht, daß ihr Diener den Dolmetscher machen soll, denn der sei geborener Franzose. Allein der Chef der Firma erklärt ebenso höflich wie entschieden, daß es dem Diener unter keinen Umständen gestattet sein würde, den Probesalon zu betreten, denn das sei gegen die Grundsätze des Geschäftes.
Der Diener muß also draußen bleiben, und die Herzogin macht gute Miene zum bösen Spiel. In ihrem gebrochenen Französisch, das sie ganz entzückend ausspricht, erklärt sie, sie wünsche die neuesten Gesellschaftstoiletten zu sehen, da sie einen größeren Bedarf für die Londoner Saison habe, die in allernächster Zeit beginne.
In wenigen Minuten steht eine kostbare Modellrobe auf kunstvollem Gestell, das auf Rollen läuft, vor der Herzogin.
Ihre Hoheit legt die goldene Lorgnette an die Augen und mustert kritisch die Robe. Dann sagt sie: „Ist das wirklich das Allerneueste?“
„Das Allerneueste, das wir haben,“ erklärt der Chef des Hauses. „Diese Robe ist erst vor einer halben Stunde bei uns eingeliefert worden. Hoheit sind die erste Person, welche überhaupt diese Robe sehen.“
Die Herzogin scheint noch nicht überzeugt. Sie tritt an das Gestell heran und prüft sorgfältig den Stoff, fährt auch leicht mit der Hand über einzelne Teile der kostbaren Robe. „Ich möchte etwas anderes sehen,“ sagt sie dann vornehm.
Der Chef der Firma hat mit seinen männlichen und weiblichen Angestellten einige rasche Blicke des Einverständnisses gewechselt. Jetzt verbeugt er sich höflich und erklärt: „Hoheit bemühen sich dann wohl in ein anderes Geschäft, denn wir haben nichts Neueres als dieses und können nichts Besseres zeigen.“
Ein ironisches Lächeln spielt dabei um seine Lippen.
Die Herzogin verläßt in hoheitsvoller Haltung den Probiersalon, um sich mit dem draußen harrenden Diener nach dem Automobil zu begeben und fortzufahren.
Sobald sie die Tür geschlossen hat, hört sie hinter dieser das laute Lachen aller männlichen und weiblichen Augestellten. Die Überrumpelung durch eine Modespionin ist abgeschlagen. Man hatte ihr absichtlich ein altes Modell vorgeführt, und an den wenigen Handbewegungen, welche die angebliche Herzogin machte, als sie den Stoff prüfte, hat man sofort die Konfektioneuse erkannt. Die angebliche Herzogin ist die Spionin eines Konkurrenzgeschäftes aus London oder New York. Ihre Vornehmheit, ihr Titel, ihre Dienerschaft, alles ist gefälscht oder geborgt.
Nun, die Spionin kann sich solche Ausgaben leisten, denn sie werden ihr von der Firma reichlich ersetzt, und Geld spielt dabei keine Rolle. Bezieht doch zum Beispiel eine Spionin von dem Londoner Hause, in dessen Diensten sie steht, jährlich ein festes Gehalt von ungefähr 12 000 Mark.
Daß man auch den Diener nicht einließ, hatte seine ganz bestimmten Gründe. Er war ein männlicher Spion, ebenfalls ein Fachmann, der, mit sicherem Blick und gutem Gedächtnis ausgestattet, nach Vorführung der Modelle imstande gewesen wäre, aus dem Gedächtnis die neuen Formen sofort nachzuzeichnen und besonders die Farbenzusammenstellungen wiederzugeben.
Eine der Direktricen des Welthauses glaubt sogar in dem Diener den Reisekurier jener amerikanischen Milliardärin wiederzuerkennen, der vor drei Tagen da war und erklärte, seine Auftraggeberin käme mit dem nächsten Dampfer in Cherbourg an und würde direkt nach Paris reisen, um hier Einkäufe zu machen. Jener angebliche Reisekurier bat, Tag und Stunde anzusetzen, zu der der Besuch der Milliardärin angenehm sei. Als man ihm Modelle vorführen wollte, lachte er und erklärte: „Gott sei Dank verstehe ich nichts von diesen Dingen. Sie wissen, wir Amerikaner überlassen derartige Sachen den Frauen. Wenn Sie mir aber vielleicht ein paar neue Farbenzusammenstellungen zeigen könnten, wäre Ihnen und mir das Geschäft erleichtert, denn meine Auftraggeberin hat einen sehr eigenartigen Geschmack für Farbenabtönungen, und vielleicht könnte ich Ihnen gleich sagen, ob sich unter Ihren neuesten Modellen diese Farben vertreten finden.“
Mit dieser anscheinend so harmlosen Redewendung hatte sich aber auch der angebliche Kurier dem mißtrauischen Inhaber des Geschäftes schon verraten. Er wollte nur an die neuesten Modelle herangelassen werden, um sie gewissermaßen mit photographischer Treue in sein Gehirn aufzunehmen.
Von der vornehmen Spionin bis zu der kleinen Schneiderin der Provinzstadt, die in die größere Stadt kommt, um sich hier vor dem Schaufenster der Konfektionsgeschäfte heimlich Skizzen zu machen, treibt man die Modespionage im großen und im kleinen. Natürlich, wenn der Inhaber des Geschäftes sieht, daß draußen jemand skizziert, fährt er sofort aus dem Laden heraus und weist die skizzierende Persönlichkeit weg, indem er gleichzeitig auf das Strafgesetzbuch und das Gesetz betreffend den Schutz geistigen Eigentums aufmerksam macht. Die Spionin im kleinen Stil ist deshalb nicht minder vorsichtig wie ihre Kollegin im großen. Zum Ärger des Ladeninhabers steht sie halbe Stunden lang vor dem Schaufenster, welches neue Hutformen enthält, und prüft Hut um Hut. Dann geht sie davon, hält sich im Schalterraum des nächsten Postamtes kurze Zeit auf, um hier in Ruhe auf mitgebrachtem Papier an einem der zur Verfügung des Publikums stehenden Schreibepulte eine Skizze zu entwerfen, kehrt dann wieder nach dem Schaufenster zurück, prägt sich neue Einzelheiten ein und begibt sich wieder nach dem Schalterraume oder nach einer Konditorei, um hier die Skizze weiter auszugestalten. Voll Wut sieht der Ladeninhaber die Spionin immer wiederkehren und seine ausgestellten Neuheiten mustern; aber er kann nichts gegen sie unternehmen, denn sie zeichnet nicht ab und macht keine Versuche, heimlich zu photographieren.
Um diesen ganzen erbitterten Kampf zwischen Modellbesitzern und Modespionen zu erklären, der unwillkürlich an den Kampf zwischen Einbrechern und Geldschrankfabrikanten erinnert, weil auf beiden Seiten außerordentlich viel List und Geschicklichkeit aufgeboten wird, müssen wir uns vor Augen halten, wie die Mode entsteht und für die Kulturwelt geschaffen wird.
Im großen Publikum glaubt man, die Mode sei [118] ein Zufall oder sie würde von einzelnen berühmten Persönlichkeiten, zum Beispiel von Künstlerinnen oder von ersten Damen der Gesellschaft gemacht.
Das war vielleicht früher einmal der Fall. Heutzutage wird die Mode systematisch „kreiert“ durch die Chefs der berühmten Konfektionsfirmen in Paris und London und durch deren Generalstab von Künstlern und Künstlerinnen. Mit einem Aufwande von monatelangen Mühen, von riesigen Kosten werden Hunderte von verschiedenen Skizzen entworfen, geprüft, verworfen, kombiniert, umgearbeitet, bis endlich eine Anzahl Skizzen angenommen ist, welche nach dem feinen Gefühl des Chefs des betreffenden Hauses und seiner technischen und kaufmännischen ersten Gehilfen beiderlei Geschlechtes wohl geeignet sind, einen Erfolg zu erzielen. Dann werden diese Skizzen in natürlicher Größe farbig ausgeführt und danach mit äußerster Vorsicht, damit ja nichts von dem Geheimnis in die Öffentlichkeit dringt, angefertigt.
Man verwendet in den Ateliers der Firma, welche diese Modellroben oder -hüte herstellt, nur ausgesuchte, durchaus sichere Leute, die man lange Jahre kennt, denn auch unter das Ladenpersonal, ja unter das Hauspersonal, welches die Reinigung in den Geschäfts- und Kontorräumen, sowie in den Werkstätten besorgt, suchen sich sehr oft Spioninnen einzuschleichen.
Man fertigt nun ein bis zwei Dutzend allerneuester Modelle an, welche in bezug auf Form und Schnitt des Kleides, Farbe und Farbenzusammenstellung, Besatz, Knöpfe, durch die Eigenart der verwendeten Stoffe usw. wirklich als neue Modelle betrachtet werden können. Jedes dieser Modelle stellt sich für den Inhaber des Geschäftes nach Berechnung aller Kosten auf 20 000 Frank und darüber. Diese Modelle sind aber sofort wertlos und der Geschäftsinhaber steht ohne Neuheiten da, wenn es kleineren Firmen gelingt, sich von den Modellen eine Kopie zu beschaffen.
Namentlich vor den billigen Warenhäusern haben die großen Firmen in Paris und Loudon außerordentliche Angst, und am meisten fürchten sie die Amerikaner und die Deutschen. Wird durch Spionage ein solches Modell einem großen Hause in Amerika oder Deutschland übermittelt, das billige Waren herstellt und das die neue Form, Farbenzusammenstellung oder Ausstattung der Robe oder des Hutes mit einigen Änderungen in billigem Material kopiert und in Tausenden und aber Tausenden von Exemplaren auf den Markt bringt, so ist natürlich das Originalmodell vollkommen entwertet. Die reichen Amerikanerinnen zum Beispiel, die Einkäufe von Hunderttausenden machen, suchen sehr sorgfältig, ehe sie in Paris einkaufen, auch die Konfektionsgeschäfte in Berlin, in London und Brüssel ab, und haben sie dort irgend etwas gefunden, das an die Originalmodelle erinnert, die sie in Paris finden, so kaufen sie die letzteren natürlich nicht mehr.
Aber auch der kleine Damenschneider oder die Schneiderin, welche für eine weniger vermögende Kundschaft arbeitet, will sich diese Kundschaft erhalten und neue gewinnen, indem sie nach der allerneuesten Mode arbeitet, nach einer Mode, die noch neuer ist als die, welche die Frauenzeitungen bringen; die Putzmacherin der Kleinstadt will ihre Kundschaft mit neuen Kopfbedeckungen beglücken, für die sie nicht die teuren Modellkosten in Paris oder der nächsten Großstadt bezahlen möchte. Deshalb eben sucht sie sich heimlich neue Ideen und Modelle zu beschaffen, indem sie die Schaufenster der nächsten Großstadt studiert und sich Skizzen macht.
Die Vertreter der großen Konfektionsgeschäfte in allen Städten des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, Italiens, Englands fahren gewöhnlich zweimal jährlich nach Paris, um dort in den großen Konfektionsgeschäften Modelle zu erwerben, nach denen sie dann ihre Produkte anfertigen lassen. Diese Modellkleider und -hüte werden mit Tausenden von Franken bezahlt, und da im Anfang Juni immer schon die nächste Wintermode fertig ist und ebenso im November oder Dezember die Mode für den nächsten Sommer bereits bestimmt ist, haben die Inhaber der großen Konfektionsgeschäfte, welche auf reellem Wege die Modelle erwerben, natürlich Zeit genug, um die Ideen der Modelle noch durchzuarbeiten, dem Sondergeschmack des betreffenden Landes anzupassen und dann in einer genügend großen Zahl kopieren zu lassen, um an die kleineren Geschäfte der Provinz die Produkte dutzendweise zu verkaufen.
Aber selbst diesen ehrlichen Käufern gegenüber haben die großen Pariser Geschäfte vor kurzem eine Vereinigung gebildet, welche grundsätzlich die neuen Wintermodelle nicht vor dem 15. August zeigt. Die Ablieferung angekaufter Modelle für das Ausland erfolgt nach Amerika nicht vor dem 7. September, für Europa nicht vor dem 15. September.
Männer sind gewöhnlich nicht geneigt, die Wunderwerke der Schneider- und Putzmacherkunst mit besonderer Achtung zu betrachten. Vielleicht haben diese Kunstwerke für sie jetzt mehr Interesse, wenn sie erfahren, daß um ihretwillen ein so umfangreicher Krieg der List und des Geschäftsinteresses geführt wird.