Meyringen und die Aareschlucht
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Meyringen und die Aareschlucht.
Pustend und keuchend windet sich das Dampfroß mit seinem langen Schweif von Wagen den Berg hinauf, die Paßhöhe des Brünig zu gewinnen. Morgens früh haben wir das herrliche Luzern am Vierwaldstättersee verlassen, sind, um diesen auch richtig zu genießen, zu Schiff nach Alpnach-Stad gefahren und haben erst dort die Bahn bestiegen, die in ununterbrochener Linie Luzern mit dem schönen Berner Oberland verbindet. Im Fluge haben wir das liebliche Unterwaldner Ländchen durcheilt und seine Reize vielfach besprochen; – nun ein Pfiff, und „Brünig“ schallt’s aus dem Munde des Schaffners.
„Zwanzig Minuten Aufenthalt. Restauration am Bahnhof!“
Flugs sind mein Freund und ich zum Wagen hinaus, um unserer Kehle irgend ein Labsal zu verschaffen; haben wir doch schon mehr als zwei Stunden den edlen Gerstensaft entbehren müssen!
Aber welches Unerhörte ereignet sich da! Gebannt vom Anblick, der sich uns bietet, bleiben wir stehen. „Schau,“ ruf’ ich aus, „da drüben das Rosenlaui mit den gigantischen Wetterhörnern, dem silberschimmernden Wellhorn und dem prächtig blauen Gletscher!“
„Wirklich ganz nett,“ sagt er, – und „magnifique“, „beautiful“ tönt’s rings um uns herum von den Zungen der verschiedensten Erdensöhne und -töchter – „aber nun zum Frühschoppen!“
Bald darauf geht’s mit dem Zug bergab weiter; der steilen Thalwand entlang hat moderne Eisenbahntechnik der Fahrt den Weg geebnet; nur noch einige Minuten; schon kommen wir durch liebliche Baumgärten an reizenden Holzhäuschen vorbei, und nun hält der Zug vor dem schmucken Bahnhof Meyringen. Nach getroffener Verabredung senden wir unsere bescheidenen Gepäckstücke nach dem Hotel „Reichenbach“ voraus und machen uns alsbald an die Besichtigung des lieblichen Dorfes. Wir überschreiten die Hauptstraße, an der heimelige Wohnhäuser mit Schnitzwaren und anderer Oberländer Industrie in den zum Verkaufe eingerichteten Erdgeschossen mit schmucken Gasthöfen wechseln, und biegen in die malerische Dorfgasse ein, die mit ihrem landschaftlichen Hintergrund, gebildet von den Wasserfällen des Mühle- und Alpbaches, geradezu einzig in ihrer Art ist. Wir besichtigen die Kirche und den von ihr getrennt stehenden Thurm, der noch aus uralter Zeit stammt, beschauen vor dem Dorf die zerfallene Burg Resti, um dann von dort weg unsere Schritte quer durch das liebliche Thälchen nach dem gastlichen Hotel „Reichenbach“ zu lenken. Etwa 400 m oberhalb desselben stürzt der aus dem Rosenlaui kommende Reichenbach zum ersten Male mit fürchterlichem Getöse in die Tiefe, auf seinem Weg ins Thal noch eine ganze Anzahl von größeren und kleineren Fällen bildend, von denen besonders der unterste durch seine Schönheit weltberühmt geworden ist. Noch mehrere Bäche sollen weiter thalabwärts von den Flühen, wie zarte Schleier sich dem Auge bietend, vom Winde schaukelnd hin und her bewegt.
„Wahrhaftig,“ ruft mein Begleiter aus, „Meyringen ist mehr denn ‚Lauterbrunnen‘; es ist ‚lauter Bach‘!“
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Bald haben wir die rauschende Aare, die ihre sandigen Fluthen in wohlgeregeltem Bett pfeilschnell dem Brienzersee zuführt, überschritten, und nach einigen Augenblicken landen wir wohlbehalten unter der Pforte unseres Hotels. Kein Dutzend schwarzbefrackter Kellner mit langweiligen nichtssagenden Gesichtern schwärmen herum, uns fast die Zehen abzutreten; dafür heißen uns des Wirthes schmucke Töchter um so herzlicher willkommen. – „Gottlob!“ sagt mein Freund, „sind wir nicht in einem Haus, in dem man vor lauter Luxus, Parkettböden, Aufzügen, Kronleuchtern etc. alles hat, nur keine Idee von Ausruhen und Gemüthlichkeit.“
„Ja, deß bin ich auch froh, aber wer kommt denn da die Treppe herunter? Ist das nicht unser Freund, der Doktor, der Geologe? Jetzt ist unser Kleeblatt erst vollzählig!“
„Das trifft sich ja herrlich! Nun mach’ ich den Cicerone und führe Euch ein wenig herum –“
„Schon alles gesehen!“ rufen wir leichthin im Bewußtsein unserer vorigen Leistungen in Naturgenuß, „kommst längst zu spät!“
„Aber das ist ja rein unmöglich in der kurzen Zeit; habt Ihr denn die Aareschlucht schon gesehen?“
„Was? Aareschlucht! Wird mir was Rechtes sein!“
„O,“ sagt er, „einzig, großartig, kolossal!“
„Na also, nach dem Essen wollen wir hingehen! Erst die Pflicht, dann das Vergnügen!“
Und nun setzen wir uns gemüthlich zu Tisch und lassen uns [542] von dem Tosen des nahen Wasserfalls die herrlichste Tafelmusik machen; dann Siesta auf dem schattigen Balkon, eine feine Havanna – Herz, was willst du noch mehr?
„Doch nun voran,“ mahnt unser Doktor, „zehn Minuten und wir sind am Ort!“
Alsbald stiefeln wir lustig draus los. „Nach der Aareschlucht“ verkündet an der Hauptstraße eine gewaltige Tafel mit riesigen Buchstaben, damit kein Vorüberkommender das Wunder zu schauen versäume. Den Weg der Aare entlang aufwärts gehend, dringen wir zwischen Erlen und Weidengebüsch vorwärts, der Dinge harrend, die da kommen sollen.
Plötzlich versperrt uns ein etwa 100 m hoher Felsenriegel, quer durchs Thal gelagert, jeglichen Ausweg. Nirgends ist ein Durchgang zu erblicken, auch führt kein Pfad drüber hinauf. Erstaunt sehen wir unseren Doktor an.
„Was ist denn das? Wo geht’s hinaus, und wo kommt denn da die Aare her? Es ist ja nirgends die Spur von einem Loch zu erblicken!“
„Nur immer drauf los!“ ermuthigt uns der Freund, und bald stehen wir vor einem mächtigen Felsenthor, das den Einblick in eine finstere, verworrene, seltsam gewundene Schlucht eröffnet. Himmelhoch erheben sich die naßkalten Wände, oben überhängend und sich beinahe berührend, nur spärlich von Grün überkleidet. Das ist der Eingang zur Aareschlucht; mit einem geheimen Schauder betreten wir eine eiserne Galerie, die auf in den Felsen eingelassenen Stützen ruht und schon die tobende Aare unter sich hat.
Nach einigen Schritten klafft uns ein gähnender Schlund entgegen. Schwärzliche, sonderbar gestaltete und vom herabträufelnden Wasser schlüpfrig gewordene Fluhwände starren uns an, so weit unsere Augen reichen, in der Tiefe sich in einem unentwirrbaren Chaos verlierend. Wie die Zähne eines Krokodilrachens greifen die vorspringenden Felszacken ineinander, so nahe, daß unsere Ellbogen sie beiderseitig berühren können und der schmale Pfad die ganze Breite ausfüllt, und so hoch und überhängend, daß unser Auge keinen Ausweg findet und wir glauben, sie müßten über uns zusammenstürzen.
Dazu toben etwa 5 m unter dem Steg mit fürchterlichem Gebrüll die tiefdunklen Wasser der Aare. Unheimlich quallt es hier unter einem ganz unterfressenen Felsen hervor; die schwarzen Blasen glotzen uns an wie die rollenden Augen greulicher Unholde der Wassertiefe; dort reißt sie ein wilder Strudel mit sich nieder auf den Grund, um sie einige Schritte weiter unten das grause Spiel von neuem beginnen zu lassen.
„Na, was sagt Ihr jetzt dazu?“ schreit unser Doktor mit Aufbietung aller seiner Stimmmittel. – Wir verstehen ihn kaum und schütteln in stummer Bewunderung nur den Kopf; das großartige Schauspiel hält alle Sinne gefangen.
„Das ist ja die reine Pforte der Unterwelt,“ wage ich endlich zu sagen. „Die Schauer des Styx kann ich mir nicht fürchterlicher vorstellen.“
„Da soll die Aare noch mehr denn 50 Fuß tief sein, behapten die Leute, und ‚kleine Enge‘ nennen sie den Ort,“ entgegnet unser Cicerone.
„Langend und bangend in schwebender Pein“ gehen wir weiter: da öffnet sich die Schlucht ein wenig, die Felswände treten auf etwa 20 Schritte auseinander und prangen, von Moos und allerlei Pflänzchen bewachsen, in lieblichem Grün; auch einige seltenere Vögel haben sich hier eingenistet.
Immer vorwärts! Noch einmal treten die Fluhwände auf eine längere Strecke ganz nahe zusammen und bilden die „große Enge“; doch sind wir nicht mehr so ängstlich; der Mensch gewöhnt sich an alles. Dann wird die Schlucht wieder weiter bis an ihr Ende.
Gleich hinter der „großen Enge“ stürzt von der linken Felswand der „Schräibach“ in weitem Bogen in die Aare, eine angenehme Abwechslung in das Eintönige der starren Steinwände bringend. Auf der gleichen Seite mündet hoch über dem Aarespiegel eine vom Wasser längst verlassene Schlucht ein, die der Volksmund deshalb auch als „trockene Lamm“ bezeichnet.
Bereits haben wir mehr denn 1200 m zurückgelegt, und noch hat die Schlucht ihr Ende nicht ganz erreicht. Doch genießen wir schon den Ausblick auf die sonnigen Matten von Innertkirchen, hoch überragt von der schneeigen Spitze des Ritzlihornes. Der Weg geht nun vermittelst Treppen etwas in die Höhe zum sog. „Känzeli“, mit welchem Namen man eine etwas vorspringende Stegabtheilung bezeichnet, und von hier wieder abwärts, um an der Mündungsstelle, der „finstern Schlauche“, sein Ende zu erreichen. Diese „Schlauche“, die früher auch dem Abfluß des Wassers diente, war vor Anlegung der Galerie, welche beiläufig die hübsche Summe von 36000 Mark kostete, der einzige Weg, auf dem man zum Aarespiegel der großen Schlucht herniedersteigen konnte. Da wir es nun vorziehen, nicht den gleichen Weg zurück zu gehen, nehmen wir den Aufstieg über das massenhaft herumliegende halsbrecherische Geröll durch dieses finstere Loch, fürwahr, ein gutes Stück Arbeit!
Endlich gelangen wir auf die Höhe dieses Thalriegels, der „Kirchet“ genannt, und sagen mit Schillers Taucher:
„Es freue sich, wer da athmet im rosigen Licht!
Da unten aber ist’s fürchterlich!“
Auf der breiten Straße, die von Meyringen zur Grimsel führt, zu unserem Hotel zurückkehrend, bohren wir unseren Doktor an mit der Frage, wie wohl diese Schlucht entstanden sein möchte.
„In grauen Vorzeiten,“ so beginnt er, „erstreckten sich alpine Gletscher bis weit ins Land hinaus. Auch durchs Aarethal ging einer bis über Bern hinunter. Als dieser nun wie alle anderen mit der Zeit ins Schmelzen kam und allmählich verschwand, blieb hier oberhalb des ‚Kirchet‘ das Thalbecken mit Wasser gefüllt, weil ihm zunächst der Abfluß fehlte. Dasselbe erhielt von der Gletschermasse des Finsteraarhorns immer neuen Zufluß, infolgedessen das überfließende Wasser seinen Weg irgendwo über diesen Hügel nehmen mußte; solcher Wasserrinnen lassen sich mehrere nachweisen. Eine zufällig vorhandene, bedeutend weichere Gesteinschicht wurde von den Fluthen leichter angegriffen, und so ist die ganze Schlucht durch Jahrtausende lang fortgesetztes Waschen und Reiben der Aare entstanden. Kühne Männer unternahmen es, dieses Wunder der Welt zugänglich zu machen, indem sie an Seilen und Balken in der Luft schwebend die eisernen Träger in die Felswand einsetzten, über die nun der Wanderer auf sicherem Pfade dahinschreitet.“
So darüber weiter plaudernd, gelangen wir bei dem freundlichen Dörfchen Willigen auf den Saumpfad, der ins Rosenlaui führt, und statten, denselben verfolgend, dem herrlichen obersten Reichenbachfall einen Besuch ab. Welch’ ein Anblick! Wie eine Rakete steigt der mächtige Wasserstrahl zuerst mehrere Meter hoch in die Luft, um in Millionen Tropfen aufgelöst in die jähe Tiefe zu stürzen. Vom Wirbelwind entführt, schweben die Wasserstäubchen wieder aufwärts, in den Strahlen der Sonne sich zu Myriaden funkelnder Edelsteine verzaubernd. Es ist ein Bild, für das kein Maler Farben und kein Dichter Worte findet.
Den Saumpfad herab kommen Reisende aller Nationen, Damen auf gesattelten Pferden und Maulthieren, Touristen mit leichtem Ränzel auf dem Rücken, Führer und Träger mit ihrem schwerbepackten hölzernen „Räf“, ein buntes, fröhliches Durcheinander.
Wir ziehen es nun vor, uns in unser Gasthaus zurückzuziehen. Bereits ist der Nachmittag zu Ende gegangen; unser Gemüth ist nach so vielen Eindrücken der Ruhe bedürftig. Lustwandelnd ergehen wir uns im schattigen Park, das Erlebte uns noch einmal im Geiste vorüberziehen lassend oder lebhaft miteinander besprechend. –
Schon küßt die scheidende Sonne mit goldenen Strahlen die eisigen Firnen; langsam erblaßt das feurige Roth; die dunkle Nacht hält leise ihren Einzug in das liebliche Thal.
Um den kühlen Abend und die herrliche Luft zu genießen, haben wir uns noch auf der Veranda niedergelassen. Vom Dorf herüber schimmern die traulichen Lichter; das Gerassel der Rosse und Reisewagen ist verstummt. Drüben leuchten die Fälle des Alpbaches, vom magischen Lichte bengalischen Feuers beschienen, einigemale in feenhaftem Schimmer aus der Dunkelheit auf, um uns noch im Traume wie Gebilde eines Märchenlandes zu erscheinen.