Menschenrettung bei Theaterbränden

Textdaten
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Autor: Wilhelm Döhring
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Titel: Menschenrettung bei Theaterbränden
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 692–695
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Menschenrettung bei Theaterbränden.
Von W. Döhring, Pr. Regierungsbaumeister und Branddirektor der Stadt Leipzig.

Gott zur Ehr’, dem Nächsten zur Wehr.

Nur wenige Monde noch, dann jährt sich zum siebenten Male der bedeutungsvolle Tag, an welchem Wien von der furchtbaren Ringtheaterkatastrophe heimgesucht worden ist; beinahe zwei Jahre sind im rasch dahinfließenden Zeitenstrome verrauscht seit dem namenlosen Brandunglücke bei der Opéra comique in Paris, und das Jahr 1887 kann als eines der traurigsten in der Chronik der Theaterbrände verzeichnet werden. Sechzehn Schauspielhäuser und Vergnügungslokale wurden von Flammen zumeist völlig verzehrt; in drei Theatern – der Komischen Oper zu Paris, dem Alcazar-Theater in Hurley und dem Opernhause in Stockport – sind zusammen 277 Personen verbrannt, siebzehn wurden im Gedränge auf der Flucht erdrückt. Zusammen kamen also 294 Menschen ums Leben, zwanzig wurden schwer, viele leicht verletzt. Fürwahr, eine reiche Auslese des Todes gerade an jenen Stätten, welche dem Vergnügen und der Erholung gewidmet sind. Keine noch so rege, aufrichtige und warmgefühlte Theilnahme für die unglücklichen Hinterbliebene der Opfer solcher Schreckensscenen, keine noch so wohlthätige Handlungsweise von Behörden und Menschenfreunden vermag die heftig blutenden Wunden der trauernden Herzen zu stillen und deren Schmerzen zu lindern, welche zumeist unverantwortlicher Leichtsinn geschlagen hat. Selbst strengste Verurtheilung der Schuldigen vermag dies nicht. –

Von der Redaktion der „Gartenlaube“ bin ich gebeten worden, ihr einen kleinen Beitrag über das so hochwichtige Gebiet der Menschenrettung aus Feuersgefahr und über die neueste Taktik der Massenrettung von Menschen bei Theaterbränden zu liefern. Diesem Wunsche komme ich sehr gern nach, und die Erörterung der häufig auftretenden, durchaus berechtigten Frage des großen Publikums, wie es mit der Rettung von massenhaft bedrohten Menschenleben beim Ausbruch einer Katastrophe bestellt ist, erscheint mir darum sehr zeitgemäß, weil die beklagenswerte Thatsache, daß selbst zweckdienliche Hilfsmittel zur Rettung von Menschen bei dem Brande der Opéra comique in Paris gänzlich fehlten, auch für die Stadtverwaltungen eine Mahnung sein mag, welche für den Feuerschutz und die Ausrüstung der Feuerwehr Sorge zu tragen haben; eine ernste Mahnung mag es sein, daß falsch angebrachte Sparsamkeitsrücksichten, Unterlassungssünden und Verschleppungen sich erfahrungsmäßig schwer rächen.

Im Anschluß an diese Mahnung muß an dieser Stelle aber auch betont werden, daß, wie dies seit dem Urbeginn staatlicher und kommunaler Systeme der Fall gewesen ist, nach Heraufbeschwörung von Katastrophen jedesmal ein Impuls der Reinwaschung sich bemerkbar macht, immer bei denjenigen, welche in erster Linie berufen sind, für die Verhütung solcher unverantwortlichen Unglücksfälle dasjenige zu thun, was nach menschlichem Ermessen immer nur thunlich ist. Niemand will aber dann schuld haben, jeder hat dann seine Schuldigkeit gethan. Es sei nur an die bekannten Gerichtsverhandlungen in Wien und Paris erinnert! Wie zu alter Zeit bei den Römern, wenn eine Schlacht verloren ging, so besteht leider auch noch bei uns das sogenannte Abwälzungsprinzip, und wie bei diesen, so sehen wir auch heute noch nach vielem Hin- und Herdebattiren den Abschluß so mancher wichtigen Berathung und Verhandlung über Entstehung und Verhütung solcher Unglücksfälle im Sande verlaufen.

[693]

Feuerwehrübung am Theater.
Nach einer Zeichnung von Paul Wagner.

[694] Man giebt sich zufrieden, der alte Schlendrian beginnt von neuem, Vetter und Muhme werden beruhigt, die Sache schläft allmählich ein, sie wird wohl wieder einmal angeregt, aufgeschoben und trotz aller Anstrengungen und Bemühungen einiger gewissenhafter Bürger und Feuerwehrkommandanten, Besserung herbeizuführen kommt sie schließlich ganz in Vergessenheit – es bleibt bei der verlorenen Schlacht.

Erfahren haben wir so genugsam, daß der Feuerschutz der wichtigste Faktor aller einsichtsvollen Gemeindeverwaltungen sein müßte! Erfahren haben wir in den letzten Jahren noch an den oben genannten grausigen Unglücksstätten, wie Tod und Verderben schrankenlos wüthet, wenn in monate- und jahrelangem Saumseligkeitstaumel nicht dem alten bewährten Sprichwortes: „si vis pacem, para bellum“ Rechnung getragen wird.

Daher will ich an dieser Stelle mit eindringlichen Worten zeigen, daß solchen Schreckensscenen überall vorgebeugt werden kann, wenn alle Gemeinden die Verpflichtung in ihrem vollen Umfange erst erkannt haben werden, daß neben so vielen bewährten, für Handel und Gewerbe, Kunst, Industrie und Militär getroffenen Einrichtungen vor allem auch solche zu treffen sind, die nicht nur das Nationalvermögen schützen und erhalten, sondern auch diejenigen Gefahren beseitigen, welche unseren Mitmenschen durch die Elementarmächte erwachsen. Und gerade das Interesse, welches wir solchen gemeinnützigen Institutionen schenken, ist der beste Gradmesser für unsere Gesittung, für unsere Kulturentwickelung. –

Mehr denn je ist ja zum Glück schon unser Auge auf den staunenswerthen Aufschwung unseres heutigen Feuerschutz- und Rettungswesens gerichtet, dem als wirthschaftlichem, Wohlstand erhaltenden Faktor so nicht mindere Bedeutung zufällt wie allen Wohlstand erzeugenden Bestrebungen unserer Zeit.

Unsere Zeit ist Zeuge großartiger Entwickelung des Berufs- wie Freiwilligen-Feuerwehrsystems; in allen Gauen bilden sich neue Wehren, täglich wächst die Zahl derer, die, hoch wie niedrig, sich in den Wehrverband ihres Heimathortes einzureihen eilen und gegen einen Feind sich rüsten, den nicht Stadtmauer und Thurm, nicht die beste Wehr und Waffe zurückschreckt, wenn derselbe erst einmal gewisse Grenzen überschritten hal: gegen das Feuer, diesen unheimlichen Städtevertilger des Mittelalters, den gefürchtetsten Feind unserer heutigen Theater.

„Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr“ – mit diesem Wahlspruche und mit der Macht der Intelligenz ist die Feuerwehr der Neuzeit, deren Werk sich als eine selbstlose Betätigung der „Religion der Liebe“ offenbart, wohl in der Lage, diesem gefürchteten Feinde mit Muth, Kraft und Selbstvertrauen erfolgreich gegenüber zu treten, wenn es an schnellem Bekanntwerden des Feuers: Feuertelegraphie und telegraphischer Kontrolle –, an der gehörigen Waffe: der Ausrüstung der Feuerwehr mit Geräthen – an der notwendigen Munition: dem Wasser –, sowie an einer alle Zeit schlagfertig geschulten, unerschrockenen Mannschaft nicht fehlt.

Ich kann das Thema der Menschenrettung bei Theaterbränden nicht besser behandeln, als daß ich an der Hand von Zeichnungen aus meinem Berufsleben als früherer Inspektionsoffizier der Berliner Feuerwehr und aus meiner jüngsten Praxis in der von mir in den letzten fünf Jahren in Leipzig reorganisierten und geleiteten Berufsfeuerwehr Schilderungen gebe.

Wir befinden uns im Hauptfeuerwehrdepôt. Es ist Nacht! Branddirektor, Offiziere, Mannschaften und selbst die Pferde liegen im Schlummer. Nur die Wache für den Telegraphendienst befindet sich an den Telegraphenapparaten, um die eingehenden Meldungen instruktionsgemäß weiter zu geben; keiner ahnt, daß in der nächsten Minute ihm eine Thätigkeit zufallen kann, welche selbst den nervenstärksten und im Feuerwehrcorps in jahrelangem Dienste ergrauten Feuerwehrmann in Aufregung zu setzen vermag.

Plötzlich geht eine Feuermeldung ein; der in dem Telegraphenzimmer, wo alle Feuermeldungen eingehen, postirte Telegraphist liest ab: „Groß-Feuer“. Er alarmirt das Depôt, indem er die vor dem Apparate angebrachte Alarmkurbel dreht – eine zweite Feuermeldung folgt sofort der ersten; er ahnt nichts Gutes, er fängt an, unruhig zu werden, er traut seinen Augen nicht: „Neues Theater brennt!“ Er weiß nur zu gut, was dies zu bedeuten hat. Meine armen Kameraden! geht es ihm trotz der Eile noch blitzschnell durch den Kopf. Kaum ist er im Stande, diese Meldung, wie die Instruktion vorschreibt, auf dem schon am Telegraphenapparate bereit liegenden, für den Branddirektor bestimmten Meldezettel mit Bleistift zu notiren. Die Hand zittert. Sein Kamerad hilft ihm ablesen – „Brandherd Garderobe“. Im Sturmschritt läuft die am Apparat auf die Depesche wartende Ordonnanz aus dem Telegraphenzimmer zur Thür hinaus, stürzt die wenigen Stufen der Treppe hinunter vor das Hauptfeuerwehrdepôt, woselbst das Rettungscorps, wie unser Bild S. 697 zeigt, schon unter Fackelbeleuchtung in zugweiser Marschbereitschaft steht, und überreicht mir die Depesche. Den Zettel: „Theater, Brandherd Garderobe“ lesen und das Signal zum Abmarsch geben, muß natürlich das Werk eines Augenblickes sein. In voller Stärke wird abgerückt und unterwegs noch das bekannte militärische Signal den Reitern und Fahrern gegeben: „Schenkel heran, Schenkel heran, laßt ihn laufen was er kann.“

Während es im Galopp vorwärts geht, werden die wenigen Minuten Fahrzeit ausgenützt, indem von mir und den Offizieren die auf den Personenwagen sitzenden Mannschaften noch kurz auf die etwa vorzunehmenden Rettungen aufmerksam gemacht und zur Anspannung aller ihrer Kräfte angespornt werden. Noch ist eine Straßenecke zu nehmen; es geht noch eine kurze Strecke bergauf und wir sind an der Brandstätte angekommen. Die einzelnen Züge fahren vorschriftsmäßig an, ich gebe das Signal „Halt!“, darauf „Abgestiegen, Marsch!“

Anstatt aber unser Neues Stadttheater, den Liebling der Leipziger Bürger, in Flammen zu sehen, stand dasselbe düster und dunkel da, wie wir es auf unserem Hauptbilde betrachten können, keine Rauchsäule stieg hinauf, keine der bekannten Flammenzungen schlug aus den Fenstern hinaus. Was ist das? Feuer ist auf jeden Fall, denn der in der bezüglichen Garderobe angebrachte automatische Feuermelder ist durchaus zuverlässig; er meldet richtig und auf die Zuverlässigkeit meiner im Theater postirten, die Kontrolle Tag und Nacht ununterbrochen übenden Feuerwehrleute schwöre ich. Ein solches Versehen ist bei ihnen noch nicht vorgekommen und kann auch nicht vorkommen.

Aha! Da erscheinen die Väter der Stadt, welche vom Beginn der von ihnen selbst veranlaßten Feuermeldung an uns erwarteten und mit der Uhr in der Hand nun meine Meldung entgegennehmen. Die mit dem städtischen Feuerwehrwesen betraute Kommission der Stadtverordneten, an ihrer Spitze der Oberbürgermeister, wollte sich überzeugen, wie ihre Feuerwehr auf dem Posten, wie schnell sie anrückt, wie sie schlagfertig sei. Sie ließen dieselbe alarmiren, indem sie unverhofft in das Theater bis in die Garderobe gingen, hier den kontrollirenden Feuerwehrmann erwarteten und von diesem dann Feuer melden ließen, gerade so, als ob in der That das Theater in den Garderoben brenne. Nachdem ich die Befehle der Herren entgegengenommen und erfahren hatte, daß es sich um ein Manöver handle, wurden von mir die erforderlichen Signale und Befehle gegeben, die einzelnen Züge begannen unter Führung ihrer Offiziere die ihnen zugetheilte Thätigkeit, die Dampfspritzen antworteten mit grellem Pfiffe auf das ihnen gegebene Signal zum Wassergeben, und die Thätigkeit des Corps begann, wie sie unser Hauptbild darstellt.

Dasselbe zeigt auch eine Massenrettung von Menschen aus den Garderoben, während zugleich mit voller Dampfkraft und dem Aufwande der Kräfte aller Mannschaften die Bekämpfung des fingirten Feuers im Gange ist.

Wir sehen rechtsseitig die Rettung von Menschen vornehmen auf dem sogenannten Reichenberger Rutschtuche, linksseitig durch den sogenannten Rettungsschlauch – beides Utensilien, welche heute bei keiner Feuerwehr und vor allen Dingen nicht in größeren Städten fehlen sollten, wo zu jeder Minute ein Brandunglück entstehen kann, bei welchem Menschen aus Feuersgefahr zu retten sind.

Obwohl die Neuzeit über ein Arsenal von Rettungsgeräthen verfügt, sei zunächst nur der beiden erwähnten gedacht, die wir auf unserem Bilde in Anwendung sehen. Von anderen Rettungsgeräthen und ihrer zweckdienlichen Anwendung nächstens mehr!

Der zur Rettung von Menschen, die sich in hohen Stockwerken befinden, meistbenutzte Apparat ist, wenn wir von dem einfachen Rettungssack, der unter Benutzung von Hakenleitern herabgelassen wird, absehen, der Rettungsschlauch.

[695] Derselbe ist aus starkem Hanfgewebe hergestellt, hat eine Länge von 20–25 Metern und einen lichten Durchmesser von etwa 80 Centimetern. Am oberen Ende wird der Schlauch mit einer Durchschubstange und mit festen Stricken befestigt. Am unteren Ende befindet sich ein ungefähr zwei Meter langer Schlitz.

Die zu rettende Person wird in diesen Schlauch oben hineingesteckt und gleitet, wie wir dies auf unserem Hauptbilde links sehen, in demselben sicher herab. – Die unten den Schlauch sicher und fest haltende Feuerwehrmannschaft läßt den Schlauch nach, sobald die gerettete Person unten angekommen ist und durch die schlitzartige Oeffnung entsteigen will. Die Rettung ist eine durchaus einfache und sichere.

Wo es sich um Massenrettungen handelt, würden sowohl der Rettungssack, welcher bei Häusern mit vorspringenden Gesimstheilen überhaupt nicht immer mit Sicherheit zur Anwendung gelangen kann, wie auch der Rettungsschlauch nicht mehr genügen. Man kann durch diese Utensilien immer nur eine Person nach der anderen retten, welches zu viel Zeit erfordern würde. In solchen Fällen findet zweckdienlich das Rutschtuch Anwendung, wie wir dies rechtsseitig aus unserem Bilde im Gebrauche sehen.

Im Schlafsaal der Feuerwehr.

Dasselbe bildet seit mehr als 20 Jahren ein Specialgeräth der freiwilligen Feuerwehr in Reichenberg und ist in einer großen Zahl von Feuerwehren anderer Städte in Gebrauch. – Es ist ein treffliches Hilfsmittel für größere Orte und Städte mit hohen Häusern, Theatern etc., wo viele Menschen im Brandfalle in möglichst schneller Weise gerettet werden sollen. Ist das Tuch befestigt, so wird eine zu rettende Person nach der anderen auf dasselbe gesetzt, auf welchem sie ohne Gefahr und eigenes Hinzuthun herabgleitet. Beim Anblick der Höhe ängstlichwerdende und sich gegen die Feuerwehrmannschaft oben beim Aufsetzen sträubende Personen werden zwangsweise darauf geworfen, und auch in solchem Falle ist es möglich, die zu rettenden Personen ohne jede Beschädigung herunterzuschaffen.

Als ich mit dem Rutschtuch zum ersten Male an meinem Hauptfeuerwehrdepôt übte, kam gerade die Schuljugend aus der Schule. Nicht lange sah diese unseren Rettungsübungen zu, als sich erst einer, dann noch einer, schließlich eine ganze Schar von Kindern an mich mit der Bitte wandte, auch einmal „herunterrutschen“ zu dürfen. Mit Vergnügen erlaubte ich dies und ließ die Kinder auf der Treppe hinaufgehen und dann vom dritten Stock aus, erst auf dem Arme eines Feuerwehrmannes, dann zugleich neben einem Feuerwehrmann und schließlich allein in das Rutschtuch springen und heruntergleiten. Die Freude war groß und durch solche Uebung habe ich erreicht, daß man hier bei Jung und Alt Vertrauen zu solchen Rettungen durch uns gewonnen hat. In einer der nächsten Nummern werden wir weiteres über die Organisation der Feuerwehren und über Selbstrettungen aus den verschiedenen Feuersgefahren berichten, um unseren Lesern zu veranschaulichen, wie auch der Laie in Feuersgefahr durch entsprechendes Vorgehen sein und seiner Mitmenschen Leben zu retten vermag.