Melpomene/Band 1/056 Bei dem Grabe einer Frau, die so lang als heftig litt
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56. Bei dem Grabe einer Frau, die so lang als heftig litt.
Melod IV.
1. Nun ruht von seinen Leiden
Von diesem armen Weib,
Nach ihrem letzten Scheiden,
Der schmerzbefreite Leib.
2. Seit mehr als zwanzig Jahren
War immer wund ihr Fuß,
Und alle Mittel waren
Umsonst für diesen Fluß.
3. Die schmerzdurchwühlten Glieder
Verzehrten die Geduld,
Doch öfter bath sie wieder
Zu Gott um Gnad und Huld.
4. Am Ende kam Erbarmen
Von Gotteshand herab;
Es fand das Herz der Armen
Die Ruh im stillen Grab.
5. Denn plötzlich war verschwunden
Die Schmerzempfindungskraft;
In vier und zwanzig Stunden
War sie dahingerafft.
6. So hören alle Leiden
Im Arm des Todes auf,
[194] So enden alle Freuden
Des Lebens ihren Lauf.
7. Laßt uns daher ertragen
Die Leiden mit Geduld,
Und denken, statt zu klagen:
Ich leid nicht ohne Schuld.
8. So haben auch die Freuden
Des Lebens keinen Werth,
Weil sie beim letzten Scheiden
Des Todeshauch zerstört.
9. Nur unbekehrte Sünder
Trift Strafe nach dem Tod,
Hingegen fromme Kinder
Sind selig dort in Gott.