Melilla
[804] Melilla. (Zu dem Bilde S. 789.) Von dem Gibraltar gegenüberliegenden Vorgebirge Afrikas zieht sich der gekrümmten Küstenlinie entlang, nur einen schmalen Saum am Meere freilassend, ein hohes Gebirge hin, „Rîf“ genannt oder „Errîf“. Es ist wild und schluchtenreich, schwer zugänglich und bewohnt von Berberstämmen, die man nach der für die algerischen Berber üblichen Bezeichnung „Kabylen“ oder nach ihrem Wohnort wohl auch „Riffins“ nennt. Sie selbst heißen sich „Masighs“ oder „Amasighs“, d. h. „Freie“, leben fast durchweg unabhängig unter erblichen Fürsten ihres Stammes, ohne sich viel um ihren Oberherrn, den Sultan von Marokko, zu kümmern. Sie sind hellfarbig, von schönen athletischen Formen, kräftig, thätig und lebhaft und fallen auf durch ihren spärlichen Bart. Das Haar ist nicht selten blond, so daß man sie oft für Bauern aus dem nördlichen Europa halten könnte. Sie sind ein trotziges, verwegenes Geschlecht, voll fanatischen Hasses gegen die Christen, Jagd und Seeraub ist ihr Hauptvergnügen, ihre Flinte ihr vornehmstes Besitzthum, das allein schon eine Stimme in der Versammlung der Stammesgenossen gewährleistet.
Das sind die Gegner, mit denen die Spanier jetzt zusammengerathen sind. Es ist nicht das erste Mal. Schon gegen Ende der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts hatten die Rîfbewohner sich die Wirrnisse marokkanischer Thronstreitigkeiten zu nutze gemacht und waren unter anderem auch in die spanischen Besitzungen in Nordafrika eingedrungen. Da Marokko die verlangte Genugthuung für die Räubereien seiner „Unterthanen“ nicht gab, so erklärte Spanien im Oktober 1859 den Krieg, der nach blutigen Gefechten zu einem für Spanien günstigen Frieden führte (April 1860).
Zum Schutze der spanischen Besitzungen in Marokko dienen nun vier sogenannte „Presidios“, welches Wort sowohl „Festung“ wie „Staatsgefängniß“ bedeutet. Diese Doppelrolle haben denn auch Ceuta, Melilla, Peñon de Velez und Alhucemas zu spielen. Sie haben den nicht mehr sehr ausgedehnten Rest von spanischem Besitz zu decken und sind zugleich Deportationsorte für Staatsgefangene und schwere Verbrecher. So besteht auch die auf etwa 3000 Seelen sich belaufende Einwohnerschaft des 15 Kilometer südöstlich vom Kap Tres Forcas auf einer schmalen Landzunge gelegenen Melilla zu einem großen Theile aus Deportierten. Nebenbei ist die Stadt, trotz ihrer scheinbar freien und luftigen Lage, sehr ungesund, so daß Gouverneur und Besatzung oft wechseln.
Nach den Zeitungsnachrichten hat der Bau eines vorgeschobenen Forts den Kabylen Anlaß zur Empörung gegeben. Vielleicht war das auch bloß ein Scheingrund, den die fanatischen Kabylen benutzten, um den Kampf gegen die verhaßten Fremdlinge wieder zu eröffnen. Genug, der spanische General Margallo erlitt in den letzten Tagen des Oktober eine schwere Schlappe und ist selbst im Kampfe gefallen. Die Spanier machen gewaltige Anstrengungen, um ihrem schwer geschädigten Ruf wieder auf die Beine zu helfen. Wenn aber ein europäischer Staat den marokkanischen Boden zum Schauplatz kriegerischer Unternehmungen macht, so geht immer ein nervöses Zucken durch die Kabinette Europas: es ist immer möglich, daß da ein Stein ins Rollen geräth, der auf seinem Wege schwere internationale Verwicklungen hervorrufen könnte. Denn Spanien, Frankreich und England stehen sich, was die sogenannte „marokkanische Frage“ betrifft, mit äußerstem Mißtrauen gegenüber und keines will dem andern einen Vorsprung auf dem Gebiete gönnen, auf das sie alle ein Anrecht zu haben glauben.