Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Marokkanisches Militär
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aus: Deutscher Hausschatz, Illustrierte Familienzeitschrift, 37. Jahrgang Oktober 1910 – Oktober 1911, S. 809–810
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Friedrich Pustet
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Erscheinungsort: Regensburg, Rom, New York, Cincinnati
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Marokkanisches Militär.
Von W. Kabel.

Marokko steht augenblicklich wieder im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, nachdem es schon einmal im Jahre 1906 beinahe die Ursache zu einem Kriege zwischen den europäischen Großmächten geworden war. Die schwierigsten Kämpfe, die der Sultan mit den aufrührerischen Stämmen auszufechten hat, legen die Frage nahe, wie es eigentlich mit der bewaffneten Macht des nordafrikanischen Küstensultanats bestellt ist. Herzlich schlecht, kann man nur sagen. Gewiß, französische Instruktionsoffiziere haben sich im letzten Jahrzehnt zwar alle Mühe gegeben, aus den freien und ungeheuer selbstbewußten Eingeborenen eine reguläre Armee zu schaffen, vermochten aber infolge der ständigen politischen Wirren und des häufigen Thronwechsels nur einige Truppenteile aufzustellen, die vielleicht die Bezeichnung Militär verdienen. Außerdem werden diese französischen Offiziere höchstwahrscheinlich von ihrer Regierung auch einen deutlichen Wink bekommen haben, sich bei der Lösung ihrer Aufgabe nicht geradezu allzu große Mühe zu geben. Denn die Marokkopolitik Frankreichs ist seit Jahren nichts als ein schlaues, einzig und allein darauf berechnetes Ränkespiel, das Land zu schwächen und für den Übergang in französischen Besitz reif zu machen. Darüber kann kein Zweifel bestehen, wenn man Frankreichs Stellungnahme gegenüber der Marokkofrage mit offenen Augen ansieht.

Jedenfalls verfügt der Sultan eigentlich nur über eine einzige zuverlässige und wirklich europäisch geschulte Truppe – seine Leibwache. Was sonst an Militär vorhanden ist, genügt auch nicht den bescheidensten Ansprüchen. Von einer sachgemäßen Ausbildung der Offiziere ist keine Rede. Der Stellenkauf in der sogenannten Armee füllt den Säckel des Throninhabers mit bei der steten Geldnot stets willkommenen Zuschüssen. Eine einheitliche Uniform sollte vor Jahren eingeführt werden, kostete aber zu viel, und es blieb daher bei einer Phantasiebekleidung, die jeder sich nach Belieben schafft. Moderne Geschütze sind vorhanden, sollen aber mangels ausgebildeter Mannschaften so gut wie unverwendbar sein. Von einer Truppengliederung weiß die marokkanische Armee nichts. Das Heer im Felde ist nichts als ein wüstes Durcheinander aller möglichen Truppengattungen. Das Wort „Mahalla“, das man jetzt so häufig in den Zeitungen lesen kann, bedeutet ursprünglich „Rastort“ oder „Heerlager“ und dann ein auf einem Kriegszuge befindliches Heer selbst.

Was man von den marokkanischen Soldaten zu halten hat, zeigt die folgende, äußerst humorvolle Episode, die [810] der englische Reisende Lionel Darings in seinem Werke „Marokkanische Streifzüge“ erzählt.[ws 1].

Darings war in Fez von dem Besitzer eines Cafés darauf aufmerksam gemacht worden, daß sich in dem südwestlich gelegenen Städtchen Miknasa eine uralte Moschee befinde, in der als größte Sehenswürdigkeit ganz Marokkos ein Mantel Mohammeds ausgestellt sei. Der Engländer ließ sich wirklich zu dem zweitägigen Ausfluge verleiten. Die Moschee bestand jedoch nur noch aus einigen zerfallenen Mauern, in denen ein halbverrückter Derwisch hauste und erst gegen ein unverschämt hohes Trinkgeld den sogenannten Mantel Mohammeds, einen völlig zerrissenen braunen Burnus, entschieden neueren Datums, vorzeigte.

Wütend wollte Darings nach dieser Enttäuschung den Ort wieder verlassen, als ihn der Führer eines größeren, ebenfalls von Fez herübergekommenen Fremdentrupps beiseite nahm und ihm mitteilte, am Nachmittag würden in dem Hofe des Kasernements der hier in Miknasa in Garnison liegenden Truppen zwei Räuber standrechtlich erschossen. Zu dieser Hinrichtung könne er den hochgeborenen Efendis einen Zuschauerplatz an dem Fenster eines den Kasernenhof von einer Seite begrenzenden Gebäudes besorgen. Darings bezahlte als echter Engländer für dieses nervenerregende Schauspiel ein sehr reichliches Bakschisch, hatte dafür auch die Genugtuung, die einzelnen Phasen der Erschießung der beiden Übeltäter in mehreren Momentaufnahmen mit seinem Kodak festhalten zu können, wobei ihn nur störte, daß soundso viele andere Fremde die übrigen Fenster des Gebäudes besetzt hielten und daher dieselben hochaktuellen Photographien wie er zu „knipsen“ vermochten. Darings beschreibt dann genau, wie die Delinquenten inmitten eines Trupps in sehr schmutzige Uniformen gehüllter Soldaten aus den Kasernen heraustraten und ihnen von einem nach der geringeren Zerlumptheit seines Äußeren offenbar höheren Militär der Inhalt eines großen Papiers mit einem mächtigen Siegel daran vorgelesen und darauf das Urteil an beiden Räubern, die vor einer frisch aufgeworfenen Grube mit verbundenen Augen knieten, zugleich vollstreckt wurde. Nach der Salve seien sie rücklings in die Grube hinabgestürzt. Dort hätten die Soldaten sie auch vorläufig liegen lassen.

Darings fährt nun folgendermaßen fort: „Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich nach drei Monaten bei der Rückkehr von der Küste wieder Miknasa passierte und derselbe Fremdenführer, der mich schon einmal zu der Hinrichtung eingeladen hatte, mich vor der Karawanserei anspricht und mir fast genau mit denselben Worten geheimnisvoll zuraunt, was er mir schon vor einem Vierteljahr zugeraunt hatte. Da ging mir mit einem Male ein Licht auf. Ich schwieg aber klugerweise, zahlte dem frechen Spitzbuben abermals ein sehr anständiges Bakschisch, beobachtete aber jetzt die Hinrichtung der beiden Räuber – das Programm war in allen Punkten genau dasselbe geblieben – mit ganz anderen, sehr kritischen Augen. Und da merkte ich, weil meine Nerven jetzt vollkommen ruhig waren, natürlich sofort, daß es sich hier um nichts anderes als ein fraglos recht häufig wiederholtes Schaustückchen handelte, in dem jede einzelne Person ihre Rolle bereits mit einer gewissen Nachlässigkeit spielte. So gaben sich z. B. die beiden Delinquenten – was mir beim ersten Male völlig entgangen war – auch nicht die geringste Mühe mehr, die dem Tode Verfallenen auch nur etwas lebenswahr darzustellen. Im Gegenteil – ihre Gleichgültigkeit den drohenden Flintenläufen gegenüber konnte gar nicht größer sein. Nachher nahm ich mir dann den Halunken von Fremdenführer vor und sagte ihm auf den Kopf zu, daß die Exekution ein plumper Schwindel gewesen sei und die Gewehre nur Papierpfropfen als Geschosse enthalten hätten. Erst versuchte er noch zu leugnen, dann gab er alles zu. Äußerst bezeichnend für marokkanische Militärverhältnisse ist es, daß der Verdienst aus diesen nur für die Fremden inszenierten Hinrichteten ehrlich zwischen allen Auftretenden geteilt wurde – und zu diesen gehörte auch der Herr Kommandant der Truppen in Miknasa und seine Herren Offiziere.“


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Geschichte Lionel Darings wurde von Walther Kabel teilweise wortgleich auch in den Beitrag Gimpelfang in Afrika eingearbeitet. Dieser erschien mit der Verfasserangabe K. W. in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 217–219. Sie erschien außerdem, ebenfalls unter den Namen Marokkanisches Militär, mit der Verfasserangabe W. K. Abel in: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang [1912], 1. Bd., S. 176–178.