MKL1888:Walther von der Vogelweide

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Walther von der Vogelweide“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Walther von der Vogelweide“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 16 (1890), Seite 375
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Walther von der Vogelweide. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 375. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Walther_von_der_Vogelweide (Version vom 02.05.2024)

[375] Walther von der Vogelweide, der größte deutsche Lyriker des Mittelalters, wurde gegen 1160 geboren. Über seine Heimat gehen die Meinungen stark auseinander; auch die Ansicht, nach welcher Walthers Geburtsstätte die „Vogelweide“ auf dem Laiener Ried im Eisackthal in Tirol gewesen ist (vgl. Zingerle in „Im neuen Reich“ 1874, Nr. 12), läßt sich nicht erweisen. W. war von ritterlicher Abkunft, aber arm. Gegen Ende der 80er Jahre verließ er seine Heimat und begab sich nach Wien an den Hof Herzog Leopolds VI. Wie bei diesem, stand W. auch bei dessen Nachfolger Friedrich dem Katholischen (gest. 1198) in hoher Gunst. Nicht so bei Leopold VII., dem nächsten Herzog von Österreich. W. verließ infolgedessen den Wiener Hof, und es kamen Zeiten schwerer Bedrängnis über den heimatlosen Dichter. Wir begegnen ihm in Mainz zur Zeit der Krönung Philipps von Schwaben, den er in herrlichen Sprüchen feierte (September 1198), dann in Magdeburg, wo der König zur Weihnachtszeit 1199 glänzenden Hoftag hielt. Um Pfingsten 1200 weilte er wieder in Wien; im November 1203 ist er urkundlich in dem österreichischen Zeisselmauer nachzuweisen; seit 1204 war er wiederholt der Gast Landgraf Hermanns von Thüringen auf der Wartburg, wo bekanntlich eine Anzahl der berühmtesten Sänger damals verweilte. In dem Kampf Kaiser Ottos mit Innocenz III. hielt W. so lange an dem schwer bedrängten Welfen fest, bis Ottos Sache unrettbar verloren war. Dann erst trat er zu dem siegreichen Gegenkaiser, dem Hohenstaufen Friedrich II., über (1213–14). Was W. von Otto vergebens wiederholt erbeten hatte, die Gewährung einer Heimstätte, ward ihm durch Friedrich II. zu teil; er verlieh ihm ein Lehen, das zwar geringen Ertrag, aber doch eine willkommene Ruhestatt für den Dichter bot. Wir finden ihn ferner als Gast an Heinrichs von Medlick glänzendem Hof zu Mödling bei Wien sowie bei dem Patriarchen von Aquileja, d. h. vielleicht bei Wolfger von Ellenbrechtskirchen. Später wirkte er litterarisch für Friedrichs II. Kreuzzug. Bald nach der Bannung des Kaisers muß er gestorben sein; sein Grab war im Münster zu Würzburg. Im September 1889 wurde ihm zu Bozen ein Brunnenstandbild (von Natter) errichtet. W. gehört zu den hervorragendsten Dichtern überhaupt. Er gebot über die lieblichsten und süßesten Weisen des eigentlichen Minneliedes; aber in nicht minderm Grad war ihm auch die Fähigkeit verliehen, in gewaltigen Tönen für die höchsten Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, für das Vaterland, das Recht und die Wahrheit in politischen Dingen seine Stimme zu erheben. Neben dem Minnesang pflegte er die poetische Gattung des Spruches mit Vorliebe. Die mächtige Wirkung seiner politischen Dichtungen erhellt am sichersten aus dem Vorwurf Thomasins von Zirkläre, W. habe Tausende bethört, daß sie überhörten Gottes und des Papstes Gebot. Die Form entspricht in Walthers Gedichten an künstlerischem Wert ihrem reichen Ideengehalt. Die Annahme Wilhelm Grimms und W. Wackernagels, nach welcher W. auch der Verfasser der Spruchsammlung „Freidanks Bescheidenheit“ sein soll, ist namentlich durch Franz Pfeiffer mit schwer zu widerlegenden Gründen bestritten worden. Unter den Ausgaben des Dichters heben wir hervor die von K. Lachmann (Berl. 1827; 5. Ausg. von Müllenhoff, 1875), von W. Wackernagel und M. Rieger (Gieß. 1862), von Fr. Pfeiffer (Leipz. 1864; 6. Aufl. von Bartsch, 1880), von Wilmanns (2. Ausg., Halle 1883; Textausg. 1886) und von Paul (das. 1882). Übersetzungen gaben K. Simrock (7. Aufl., Leipz. 1883), Fr. Koch (Halle 1848), G. A. Weiske (das. 1852), Pannier (Leipz. 1876), Schröter (Nachdichtungen, Jena 1881), Wenzel (Plauen 1888). Vgl. Uhland, W., ein altdeutscher Dichter (Stuttg. 1822; abgedruckt im 5. Band der „Schriften“); Fr. Pfeiffer, Über W. (Wien 1860); die Biographien des Dichters von M. Rieger (Gieß. 1863) und R. Menzel (Leipz. 1865); Wilmanns, Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide (Bonn 1882); W. Leo, Die gesamte Litteratur Walthers von der Vogelweide (Wien 1880).