Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Völkerrecht“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 260261
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Völkerrecht. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 260–261. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:V%C3%B6lkerrecht (Version vom 28.10.2022)

[260] Völkerrecht (internationales Recht, Jus internationale, Jus gentium, Jus belli et pacis, franz. Droit international, Droit des gens, engl. Law of nations, International law, ital. Diritto internazionale), Inbegriff der Rechtsgrundsätze, welche im Verkehr souveräner Staaten untereinander Geltung beanspruchen. Insoweit diese Normen lediglich aus der Natur der wechselseitigen Verhältnisse der Staaten überhaupt gefolgert werden, also auf subjektive rechtsphilosophische Anschauung zurückzuführen sind, spricht man von allgemeinem oder philosophischem V., während man diejenigen Rechtsgrundsätze, welche auf vertragsmäßigem Übereinkommen bestimmter einzelner Staaten oder doch auf feststehendem Gebrauch im Verkehr dieser Staaten untereinander beruhen, als praktisches oder positives V. bezeichnet. Praktisches europäisches V. insbesondere werden diejenigen Rechtsregeln genannt, welche die Staaten und zwar zunächst die christlichen Staaten der europäischen Völkerschaften sowie der von ihnen beherrschten und kolonisierten Länder andrer Weltteile verpflichten. Seit dem Pariser Frieden von 1856 ist auch die Türkei in das sogen. europäische Konzert mit aufgenommen, während die nordamerikanische Union sich nicht unbedingt an jene Normen bindet und namentlich den Abmachungen der europäischen Staaten über die Kaperei nicht beigetreten ist. Was die Quellen des positiven Völkerrechts anbelangt, so beruhen dieselben zunächst auf den von einzelnen Staaten miteinander abgeschlossenen Staatsverträgen, dann auf dem Herkommen oder der völkerrechtlichen Gewohnheit. Die Hauptverträge, welche hierbei in Frage kommen, sind: der Westfälische Friede von 1648, der Friede von Utrecht von 1713, die Wiener Kongreßakte vom 9. Juli 1815, die sogen. Heilige Allianz vom 25. Sept. 1815, das Aachener Konferenzprotokoll vom 24. Mai 1818, der Pariser Friede vom 30. März 1856, die Genfer Konvention vom 22. Aug. 1864, welche das Elend der Kriegführung, namentlich für Verwundete, zu mildern sucht, die Petersburger Konvention vom 11. Dez. 1868 über die Unzulässigkeit des Gebrauchs explosiver Geschosse aus den Handfeuerwaffen, der Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 über die Orientfragen und die Congoakte vom 26. Febr. 1885, welche nicht nur Handelsfreiheit und Neutralität für das Congobecken und für den Congostaat garantierte, sondern auch die Unterdrückung des Sklavenhandels als Pflicht der vertragschließenden Staaten anerkannte. Auch die Handels- und Schiffahrtsverträge sowie die internationalen Post- und Telegraphenverträge der Neuzeit, namentlich der Weltpostvereinsvertrag, auch die Verträge über den Schutz des Urheberrechts (s. d.) gehören hierher. Insofern, als es in Ansehung der völkerrechtlichen Normen an einer gemeinsamen richterlichen Autorität fehlt, welche deren Erzwingbarkeit garantiert, ist dem V. vielfach der Charakter eines eigentlichen Rechts abgesprochen worden; die praktische Anwendbarkeit des Völkerrechts hängt eben zumeist von den Machtverhältnissen der beteiligten Staaten ab. Um so beachtenswerter ist es daher, daß man in neuerer Zeit wiederholt in Streitigkeiten völkerrechtlicher Natur die Entscheidung eines Schiedsgerichts angerufen hat (s. Schiedsrichter). Auch eine Kodifikation des Völkerrechts wird angestrebt, zu welcher schon von Bentham angeregt und von Bluntschli in seinem Werk „Das moderne V. der zivilisierten Staaten, als Rechtsbuch dargestellt“ (3. Aufl., Nördling. 1878) ein wertvoller Beitrag geliefert worden ist. In neuerer Zeit haben sich namentlich zwei Vereinigungen die Pflege und Fortbildung des Völkerrechts mit großem Erfolg zur Aufgabe gemacht: der Verein für Reform und Kodifikation des Völkerrechts (Association pour la réforme et la codification de droit des gens) und das Institut für V. (Institut de droit internationale), welch letzteres aus der erstgedachten Gesellschaft hervorgegangen ist. Der Verein für Reform und Kodifikation des Völkerrechts setzt sich aus Rechtsgelehrten, Staatsmännern, Publizisten und Geschäftsleuten zusammen und hält in der Regel alljährlich seinen Kongreß ab. Diese Körperschaft hat sich namentlich um das internationale Privatrecht, zumal um das Seerecht, große Verdienste erworben. Ebenso ist das Institut für V. eine unabhängige internationale Gesellschaft, welche alljährlich ihre Sitzung abhält. An dieser nehmen die wirklichen Mitglieder (Membres effectifs) mit Stimmrecht teil. Dazu kommen aber noch sogen. Associés, welchen nur eine beratende Stimme zusteht. Zu solchen Mitarbeitern werden namentlich Männer berufen, die durch Spezialkenntnisse dem Institut nützen können. Die Verhandlungen werden in der in Brüssel erscheinenden „Revue de droit international“ und auszugsweise im „Annuaire“ („Jahrbuch“) des Instituts veröffentlicht. Von besonderer Wichtigkeit war namentlich der 1880 in Oxford abgehaltene Kongreß, auf welchem ein von Gustav Moynier in Genf, dem Präsidenten der Internationalen Gesellschaft zur Pflege im Feld verwundeter Krieger, ausgearbeitetes Handbüchlein („Manuel“) des Kriegsrechts (Lois de la guerre sur terre) zur Annahme gelangte, welches allerdings nur wissenschaftlichen Wert beanspruchen kann. Dasselbe gilt von dem auf den Kongressen in Turin, München und Heidelberg festgestellten „Règlement international des prises maritimes“ (veröffentlicht im „Annuaire“ für das Jahr 1888), in welchem das Prisen- und Seebeuterecht behandelt ist.

Seinem Inhalt nach zerfällt das V. in öffentliches V., d. h. das Recht unabhängiger Staaten in ihrem Verkehr als Staaten, und in das internationale Privatrecht, worunter man die Rechtsgrundsätze versteht, nach welchen bei der Kollision der Gesetze verschiedener Staaten in Bezug auf die privaten Rechtsverhältnisse ihrer Unterthanen zu verfahren ist. Zu dem öffentlichen oder eigentlichen V. gehören insbesondere: die Normen über Unabhängigkeit, Gleichheit und Selbsterhaltung der einzelnen Staaten, ferner das Recht der völkerrechtlichen Ehre, das Vertrags- und Gesandtschaftsrecht, die Grundsätze über die Staatsvertretung nach außen, über Krieg und [261] Frieden, über das Recht der Neutralen und über das internationale Seewesen (s. Seerecht). Auch das internationale Strafrecht, welches sich namentlich auf die Auslieferung von Verbrechern bezieht, gehört dem öffentlichen V. an. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Völkerrechts beginnt mit Grotius (s. d.), welcher 1617 sein berühmtes Werk „De jure belli ac pacis“ (deutsch von Kirchmann, Berl. 1871) schrieb. Ihm folgten: Hobbes, Pufendorf, Moser, Klüber und Zachariä, unter den Neuern Heffter, Bluntschli und v. Holtzendorff, der Engländer Phillimore und der Amerikaner Wheaton. Vgl. Heffter, Europäisches V. (7. Aufl., bearbeitet von Geffcken, Berl. 1881); Oppenheim, System des Völkerrechts (2. Aufl., Stuttg. 1866); Wheaton, Elements of international law (8. Aufl., Boston 1866); v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts (Hannov. 1889); Bulmerincq, Praxis, Theorie und Kodifikation des Völkerrechts (Leipz. 1874); Derselbe, Das V. oder das internationale Recht (2. Aufl., Freiburg 1889); Gareis, Institutionen des Völkerrechts (Gieß. 1888); v. Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts (in Einzelbeiträgen verschiedener Verfasser, Berl. 1885 ff., 3 Bde.); Derselbe, Europäisches V. (in der von ihm herausgegebenen „Encyklopädie der Rechtswissenschaft“, 4. Aufl., Leipz. 1882); Hosack, Rise and growth of the law of nations (Lond. 1882); Ferguson, International law (das. 1884, 2 Bde.); Calvo, Droit international (4. Aufl., Par. 1887, 5 Bde.); Derselbe, Manuel de droit international (das. 1885); Martens, Völkerrecht (deutsch von Bergbohm, Berl. 1883–85, 2 Bde.).


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 955
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[955] Völkerrecht. Das Institut für internationales Recht (Institut de droit international) hat nach dreijähriger Pause vom 7.–12. Sept. 1891 in Hamburg getagt. Neben einer Anzahl von Beratungsgegenständen, welche bereits in der vorausgehenden Sitzung zu Lausanne (1888) erörtert worden waren, standen auch mehrere neue Fragen auf der Tagesordnung. Hiervon sind besonders zu erwähnen ein Entwurf zu einem internationalen Reglement für die Führung der Vormundschaft über minderjährige Ausländer, die Aufstellung von Grundsätzen über die Zulassung ausländischer Aktiengesellschaften zum Geschäftsbetrieb und zur Prozeßführung, die Frage der Zuständigkeit der inländischen Gerichte für Prozesse gegen ausländische Staaten und Souveräne, die internationale Regelung des Konkurswesens, insbesondere die rechtlichen Wirkungen der Konkurseröffnung auf im Ausland befindliche Gläubiger und Vermögensteile, die Rechtsverhältnisse der sogen. Küstengewässer, d. h. der an das Festland angrenzenden, der Oberherrschaft des Küstenstaates unterwerfbaren Teile des offenen Meeres, die Lehre von der Auslieferung politischer Verbrecher, die Erörterung von Maßregeln behufs Verhinderung des Sklavenhandels zur See, die Aufstellung von Grundsätzen über die Zulassung und Ausweisung von Ausländern, endlich die Erörterung der Immunitätsrechte der gesandtschaftlichen und der Konsularbeamten. Zum Abschluß gebracht wurden die Regeln über die Aktiengesellschaften, das Vormundschaftsrecht für Ausländer, die Lehre von den Prozessen gegen fremde Staaten und Souveräne sowie jene über den Beweis ausländischer Rechtssätze. Die Verhandlungen über diese und die übrigen, bei der nächsten Versammlung wiederholt zu erörternden Gegenstände werden wie bisher in dem Organ des Instituts, der Brüsseler „Revue de droit international et de législation comparée“, sowie insbesondere auch in dem nächsten (11.) Bande des „Annuaire de l’Institut de droit international“ veröffentlicht. Die letztere Schrift wird auch die sämtlichen Vorarbeiten enthalten, welche den Hamburger Verhandlungen zu Grunde gelegen haben.