MKL1888:Tintenschnecken

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Tintenschnecken“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 716718
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Tintenschnecken. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 716–718. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Tintenschnecken (Version vom 07.12.2024)

[716] Tintenschnecken (Kopffüßer, Cephalopoda Cuv., fälschlich Tintenfische, hierzu Tafel „Tintenschnecken“), die am höchsten entwickelte Klasse der Mollusken (s. d.) oder Weichtiere, verdanken ihren deutschen Namen der Eigenschaft, als Verteidigungmittel eine tintenartige Flüssigkeit auszuspritzen, welche das Wasser trübt und die Tiere den Blicken ihrer Feinde entzieht; wissenschaftlich heißen sie Kopffüßer, weil man die Arme, welche rund um den Kopf angebracht sind, früher für den umgewandelten und vierteiligen Fuß der Schnecken und Muscheln ansah. Zum Verständnis des Baues der T. kann man sich das Tier als eine Schnecke vorstellen, welche im Verhältnis zur Länge außerordentlich hoch und in normaler Lage mit dem Kopf nach unten gerichtet ist.

[Beilage]

[Ξ]

Tintenschnecken.
Gemeiner Vielfuß (Octopus vulgaris). 1/30.

[717] Infolge davon ist die Bauchseite sehr schmal, der Rücken hingegen sehr umfangreich; von letzterm ist aber bei manchen Formen der hintere Teil heller als der vordere und erscheint so, zumal wenn das betreffende Tier auf ihm ruht, leicht als Bauchseite, was er in Wirklichkeit nicht ist. Der Kopf mit den Armen ist vom Rumpf mehr oder weniger deutlich abgesetzt; bei den Oktopoden ist er wegen der mächtigen Arme so groß, daß der Rumpf, welcher alle Eingeweide birgt, mehr als Anhängsel erscheint. Die Arme stehen im Kranz um die Mundöffnung, sind außerordentlich muskulös und mit zahlreichen Saugnäpfen oder auch Haken versehen. Sie dienen zum Kriechen und Schwimmen sowie zum Ergreifen der Beute. Bisweilen ist zwischen ihrer Basis eine Haut ausgespannt, welche die Bewegungen begünstigt; im übrigen sind zum Schwimmen vielfach noch zwei Flossen an den Seiten des Körpers vorhanden. Auf der hintern, in der natürlichen Lage des Tiers untern Fläche befindet sich als eine Hautfalte der sogen. Mantel, welcher eine geräumige Höhle abschließt; in diese münden Darm, Niere und Genitalien aus, auch liegen in ihr die Kiemen. Das für die letztern nötige Atemwasser wird in die Mantelhöhle durch einen weiten Spalt aufgenommen, dagegen nach dessen Verschluß durch eine enge Röhre wieder ausgestoßen. Diese, der sogen. Trichter, entspricht dem vordern Teil des Fußes der Schnecken und veranlaßt, wenn das Wasser plötzlich durch sie entleert wird, mittels des Rückstoßes die Bewegung des Tiers mit dem Rücken voran durch das Wasser. Viele T. sind vollkommen nackt, andre bergen in einer besondern Tasche des Mantels eine flache, feder- oder lanzettförmige Platte („Schale“) aus Chitin, die bei der Sepie ziemlich umfangreich und durch Kalkablagerungen hart ist (daher im gewöhnlichen Leben „Sepienknochen“, os sepiae); noch andre haben eine äußere Schale, welche nur ausnahmsweise dünn und einfach kahnförmig (Argonauta), in der Regel spiralig gewunden und durch Querscheidewände in eine Anzahl hintereinander liegender Kammern geteilt ist. Das Tier bewohnt nur die vordere größte Kammer; die übrigen sind mit Luft gefüllt, werden aber von einem Fortsatz des Tierkörpers durchzogen (s. Ammoniten). In der glatten, schlüpfrigen Haut liegen mit Pigment gefüllte kontraktile Zellen (Chromatophoren, s. d.), welche, von dem Nervensystem und dem Willen der Tiere abhängig, ein lebhaftes Farbenspiel bedingen. Zur Stütze der Muskulatur und zum Schutz des Nervenzentrums und der Sinnesorgane dient ein inneres Knorpelskelett im Kopf (dieses besteht aus den für die Mollusken typischen, hier aber häufig ganz miteinander verschmolzenen drei Ganglienpaaren). An den Seiten des Kopfes befinden sich zwei mächtige Augen, die fast so kompliziert gebaut sind wie die der Wirbeltiere. Gehör- und Geruchorgane sind gleichfalls vorhanden. Der Mund ist mit hornigem Ober- und Unterkiefer in Gestalt eines Papageienschnabels und mit einer Zunge (Radula), welche zahnartige Platten und Haken zum Einziehen der Nahrung trägt, bewaffnet. Der Darm ist ziemlich kurz, Speicheldrüsen und Leber sind sehr groß. Als Atmungsorgane dienen ein oder zwei Paare federförmiger Kiemen. Das Gefäßsystem ist sehr entwickelt und besteht aus einem muskulösen Herzen nebst Arterien, Venen und Kapillaren. Die Gefäße, welche das Blut zu den Kiemen führen, sind gewöhnlich ebenfalls kontraktil (Kiemenherzen). Das Blut enthält kristallisierbares Hämocyanin, welches gleich dem Hämoglobin der Wirbeltiere die Aufnahme des Sauerstoffs besorgt. Doch findet sich in ihm nicht wie bei dem letztgenannten Eisen, sondern Kupfer vor, welches auch die bläuliche Farbe des Bluts veranlaßt. Als Nieren fungieren traubige Anhänge der Kiemenarterien. Ein andres Exkretionsorgan ist der oben erwähnte Tintenbeutel, welcher in den Darm ganz dicht am After ausmündet; sein Produkt bei der Sepie dient als Malerfarbe. Die Geschlechter sind bei den T. getrennt. Männchen und Weibchen unterscheiden sich zuweilen in ihrer Gestalt wesentlich (Argonauta, s. Papiernautilus). Ersteres erzeugt für seine Samenfäden in einem besondern Abschnitt der Geschlechtswerkzeuge komplizierte, über 1 cm lange Patronen (sogen. Needhamsche Maschinen), welche im Wasser platzen. Die Eier werden in einem unpaaren Ovarium produziert und dann nach Umhüllung mit Eiweiß und Kapseln entweder einzeln oder in Trauben und Schläuchen an allerlei Gegenstände angeheftet. Die Begattung erfolgt vielfach in der Art, daß ein dazu besonders eingerichteter Arm des Männchens die Samenpatronen in die weibliche Geschlechtsöffnung überträgt. Bei einigen Arten löst sich dieser Arm nach seiner Füllung mit Samen vom Körper los und schwimmt einige Zeit im Meer umher, um schließlich auch in die Mantelhöhle des Weibchens zu geraten. Bei seiner Entdeckung wurde er für einen Eingeweidewurm (Hectocotylus octopodis Cuv.), später sogar für das ganze Männchen der Tintenschnecke gehalten; jetzt weiß man, daß es ein abgelöster, sogen. hektokotylisierter Arm ist. Die Entwickelung der T. erfolgt direkt, so daß das junge Tier, wenn es das Ei verläßt, schon bis auf die Größe den Alten gleich ist.

Die T. sind ohne Ausnahme Bewohner des Meers, und zwar leben sie sowohl an den Küsten als in großen Tiefen und auf der offenen See. Sie kriechen und schwimmen sehr behende und entfalten namentlich in einigen Formen eine im Verhältnis zur Größe ungeheure Körperkraft. Von den Wirbellosen sind es wohl die gewaltigsten und klügsten Raubtiere. Im allgemeinen bleiben sie ziemlich klein, jedoch erreichen die Formen der Tiefsee, von denen sich freilich nur selten Exemplare an die Oberfläche verirren und so gefangen werden, enorme Dimensionen (s. Kraken). Viele T. werden gegessen, auch wird der Farbstoff des Tintenbeutels sowie der „Sepienknochen“ (s. oben) technisch benutzt. Nach der Anzahl der Kiemen teilt man die T. in Tetrabranchiata (Vierkiemer) und Dibranchiata (Zweikiemer), letztere wieder in Octopoda (Achtarmer) und Decapoda (Zehnarmer) ein. Die Oktopoden, mit acht Armen, die an ihrer Basis durch eine Haut verbunden sind, mit kurzem, rundlichem Körper, ohne innere Schale und meist auch ohne Flossenanhänge, zerfallen in zwei Familien: Philonexidae d’Orb., mit dem Argonauten oder Papiernautilus (s. d.) und Octopodidae d’Orb., zu welcher unter andern der Pulpe oder Vielfuß (Octopus, s. Tafel) und die Moschuseledone (Eledone Leach) gehören. Die Dekapoden besitzen außer den 8 Armen noch 2 lange, tentakelnartige Fangarme, ferner 2 Flossen und eine innere Schale. Hierher gehören die Gattungen Loligo (Kalmar), Sepia (Sepie), Spirula (Posthorn), die fossilen Belemniten etc. Die Vierkiemer besitzen vier Kiemen in der Mantelhöhle, zahlreiche zurückziehbare Tentakeln am Kopf und eine vielkammerige Schale; sie sind in der Gegenwart durch die einzige Gattung Nautilus L. vertreten. Zu derselben Familie (Nautilidae Ow.) gehören auch die Gattungen Orthoceras Breyn., Lituites Breyn. (s. Tafel „Silurische Formation“) [718] und Clymenia Münst. (s. Tafel „Devonische Formation“), während die Familie Ammonitidae Ow. die Gattungen Goniatites de Haan (s. Tafeln „Devonische Formation“ und „Steinkohlenformation I“), Ceratites de Haan (s. Tafel „Triasformation I“) und Ammonites Breyn. (s. Tafel „Juraformation I“) umfaßt (s. Ammoniten). – Die T. sind sowohl wegen der großen Mannigfaltigkeit der Formen als auch wegen der Häufigkeit des Vorkommens für die Erkenntnis versteinerungsführender Schichten wesentlich. Die Vierkiemer traten schon im Silur mit Nautilen und Geradhörnern, im Devon auch mit Goniatiten auf; von allen diesen Formen überlebten nur die echten Geradhörner, Goniatiten und Nautilen das paläozoische Zeitalter, doch starben Orthoceras und Goniatites in der Trias aus. Dafür aber erscheinen nun außer den bereits in der Trias wieder aussterbenden Ceratiten die Ammoniten, die sich schon in genannter Formation, mehr noch im Jura und ebenso noch in hohem Grad in der Kreide (hier außer durch normale Formen auch durch Nebenformen: Baculites, Ancyloceras, Toxoceras, Crioceras, s. Tafel „Kreideformation“) entwickeln, aber mit dem Schluß der Kreide (des mesozoischen Alters) ihr Ende erreichen; es bleibt also für Tertiär- und Jetztzeit nur Nautilus. Die Zweikiemer beginnen in der Trias mit belemnitenartigen Tieren, echte Belemniten und ihre Nebengenera sind äußerst häufig in Jura und Kreide (Belemnites, Rhynchoteuthis, s. Tafeln „Juraformation I“ und „Kreideformation“); die ganze Familie aber stirbt mit der Kreide aus, während die ebenfalls im Jura auftretenden Kalmare und Sepien bis jetzt zugenommen haben. Spirula, Octopus haben keine, Argonauta hat nur tertiäre fossile Repräsentanten. Vgl. Ferussac und d’Orbigny, Histoire naturelle des Céphalopodes (Par. 1835–45); Verany, Mollusques méditerranéens, Bd. 1: Céphalopodes (Genf 1847–51); Bronn-Keferstein, Klassen und Ordnungen des Tierreichs; Bd. 3: Cephalopoden (Leipz. 1869).