MKL1888:Tierseelenkunde

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Tierseelenkunde“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 705706
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Tierseelenkunde. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 705–706. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Tierseelenkunde (Version vom 01.04.2024)

[705] Tierseelenkunde (Tierpsychologie), die Wissenschaft von den geistigen Fähigkeiten der Tiere, welche eigentlich nur einen Teil der allgemeinen Psychologie (s. d.) zu bilden hätte. Die ältern heidnischen Philosophen, wie Parmenides, Empedokles, Demokrit, Anaxagoras u. a., waren auch vollkommen überzeugt, daß die Tiere in ganz ähnlicher Weise wie der Mensch Schlüsse ziehen und Erfahrungen einsammeln; Plutarch schrieb eine Abhandlung über die Frage, ob die Land- oder Wassertiere klüger seien, und Porphyrios betonte mit strenger Folgerichtigkeit, daß wie im körperlichen Bau auch im geistigen Leben kein prinzipieller, sondern nur gradweise Unterschiede zwischen Tier und Mensch vorhanden seien. Einige alte Philosophen übertrieben diese Erkenntnis sogar, indem Celsus z. B. den Tieren selbst Religion, Sprache und Prophetengabe zuschrieb, worauf Origines sehr richtig bemerkte, daß sich ihre scheinbare Voraussicht nur auf Erhaltung ihrer eignen Brut erstrecke. Die unter den Einfluß der Kirche geratene Philosophie gewöhnte sich sodann seit Descartes, den Tieren Überlegung und geistiges Leben ganz abzuerkennen und sie für eine Art von Automaten zu erklären, deren Handlungen sich nur nach bestimmten, für jede Art ein für allemal festgestellten Normen bewegen, die den sogen. Instinkt (s. d.) der Art ausmachen. Bei dieser Annahme war das Studium der geistigen Fähigkeiten der Tiere überflüssig, und obwohl sie nicht unwidersprochen blieb und Rorarius, der Nunzius Papst Clemens’ VII., sogar 1654 ein Buch unter dem Titel: „Die wilden Tiere brauchen ihren Verstand besser als der Mensch“ veröffentlichte, so bewegten sich doch die zum Teil überaus genauen Beobachtungen der Kunsttriebe niederer Tiere, welche Swammerdam, Réaumur, Rösel von Rosenhof, Bonnet, Trembley u. a. im 17. und 18. Jahrh. anstellten, lediglich in der Richtung, das von Gott geordnete wunderbare „Maschinenwerk“ darin zu bewundern. Es ist unerhört, was in dieser Richtung beispielsweise über den mathematischen Instinkt der Bienen bei ihrem Wabenbau oder über die angeborne Wissenschaft gewisser Trichterwickler noch in neuerer Zeit zusammenphantasiert worden ist, obwohl solche Kunstwerke, wie Müllenhof gezeigt hat, zum Teil einfach genug entstehen. Eine Richtung zum Bessern zeigten zuerst die „Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Tiere“ (1760) des Hamburger Populärphilosophen Hermann Reimarus, sofern hier die fest determinierten Triebe von den freiern geistigen Handlungen unterschieden werden; aber erst die eingehenden Beobachtungen des Tierlebens durch Forscher und Liebhaber, wie sie Brehm Vater und Sohn, Scheitlin, die Gebrüder Müller und zahlreiche andre Tierfreunde angestellt haben, brachen das alte Vorurteil und bahnten der Ausdehnung einer wissenschaftlichen Psychologie auf die Tierwelt, wie sie in Deutschland namentlich Wundt anstrebte, Bahn. Doch eröffnete erst das Auftreten Darwins diesen Bestrebungen die rechten Gesichtspunkte, sofern er auf das Werden und Wachsen der geistigen Fähigkeiten unter den Tieren so gut wie der körperlichen Formen hinwies und auch hierbei die Wirksamkeit der natürlichen Auslese betonte (s. Darwinismus, S. 570). Seitdem haben sich viele Forscher mit dem größten Erfolg der vergleichenden und experimentellen T. gewidmet, und es ist unvergessen, was in dieser Richtung Lubbock, Hermann Müller, Plateau, Forel, Preyer und viele andre Forscher über die geistigen Fähigkeiten der Insekten und andrer niedern Tiere ermittelt haben, indem sie sie teils in ihre gewohnten und teils in neue Bedingungen versetzten. Es hat sich dabei ergeben, daß man ihre geistigen Fähigkeiten zum Teil über- und zum Teil unterschätzt hat. Das sogen. Totstellen der niedern Tiere hat sich z. B. als eine nützliche Schrecklähmung (s. Kataplexie), die Selbstamputation der Seesterne, Krebse, Spinnen und Eidechsen, die man früher als Ausfluß eines starken und heroischen Willens ansah, als bloßer unbewußter Reflexakt erwiesen, anderseits haben aber viele Beobachtungen, z. B. diejenigen Preyers an gefesselten Seesternen, gezeigt, daß die Fähigkeit, sich in neuen und schwierigen Lagen zweckmäßig zu benehmen, selbst bei niedern Tieren nicht gering ist. Ebenso ist das Gedächtnis früh entwickelt, und selbst kopflose Tiere, wie die Muscheln, lernen schnell Gefahren vermeiden, wie die Messerscheide (Solen), die sich nach Forbes nur einmal durch aufgestreutes Salz aus ihrer Sandröhre hervorlocken läßt, nicht aber zum zweitenmal. Neuere im Sinn der Entwickelungslehre angestellte Untersuchungen haben wahrscheinlich gemacht, daß bei den niedern Tieren nur die chemischen Sinne (Geruch und Geschmack) neben dem körperlichen Gefühlssinn feiner entwickelt sind, und daß die höhern Sinne (Gehör und Gesicht) erst auf viel höhern Organisationsstufen ihre Ausbildung erfahren. Das Vorwiegen der chemischen Sinne bis in die Kreise der niedern Wirbeltiere hinauf lehrt auch die vergleichende Gehirnkunde, welche die vorherrschende Entwickelung der sogen. Riechlappen bei allen niedern Wirbeltieren, ja bis zu den untern Klassen der Säuger hin zeigt. Hierzu hat die Paläontologie ferner den Beweis erbracht, daß der vom Gehirn ausgefüllte Hohlraum [706] des Schädels selbst in derselben Familie, z. B. bei dem bis zum Eocän zurückverfolgbaren Geschlecht der pferdeartigen Tiere (Equiden), ein beständiges Wachstum in der Zeit aufweist, wie denn die Tiere mit sehr unausgebildetem Hirn, z. B. die Faultiere, unter den Säugern auch ein sehr unentwickeltes Seelenleben und große Stumpfheit zeigen. In den höhern Abteilungen, z. B. bei den Affen, ist es namentlich das Großhirn, dessen beide Hemisphären eine erhebliche Zunahme zeigen, bis sie (beim Menschen) alle übrigen Gehirnteile bedecken. Den einzigen wesentlichen Unterschied der tierischen von der menschlichen Intelligenz sucht Vignoli in dem Mangel des Selbstbewußtseins bei der erstern, doch ist eine bestimmte Grenze auch hierin nicht zu ziehen, und man kann nur ein stufenweises Wachstum der Fähigkeiten bei den höhern Tieren nachweisen. Vgl. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (3. Aufl., Leipz. 1887); Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich (das. 1885); Vignoli, Über das Fundamentalgesetz der Intelligenz im Tierreich (das. 1879); Büchner, Aus dem Geistesleben der Tiere (3. Aufl., Berl. 1880); über die geistigen Fähigkeiten der Insekten: Fabre, Souvenirs entomologiques (3 Tle., Par. 1879, 1882 u. 1886); Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen (deutsch, Leipz. 1883); Derselbe, Die Sinne und das geistige Leben der Tiere (das. 1889); über höhere Tiere: Scheitlin, Versuch einer vollständigen T. (Stuttg. 1840, 2 Bde.); Rennie, Fähigkeiten und Kräfte der Vögel (Leipz. 1839); Derselbe, Baukunst der Vögel (Stuttg. 1847).