Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Schlangendienst“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 502
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Schlangendienst. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 502. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Schlangendienst (Version vom 15.09.2022)

[502] Schlangendienst (Schlangenanbetung, Schlangenkultus, Ophiolatrie), die Verehrung der Schlangen, eine über alle Weltteile mit Ausnahme des schlangenlosen Australien verbreitete Kultusform, bei welcher man in gewissen einheimischen Schlangenarten entweder die Verkörperung der Gottheit überhaupt oder besonderer Erd-, Feuer-, Wasser- und Heilgötter oder des Genius loci, des Volksstammvaters und namentlich des bösen Prinzips vermutete. Am häufigsten scheint der Schlangenkultus einerseits aus der Verehrung der Unterweltsgottheiten und anderseits aus dem ehemals weitverbreiteten Feuerdienst hervorgegangen zu sein, indem man die züngelnde, zischende, beißende Flamme als Schlange personifizierte, daher die Darstellung der indischen, ägyptischen, persischen und griechischen Feuergottheiten als Schlange oder mit Schlangenfüßen. Sofern diese Götter häufig bei einem Umsturz des alten Religionssystems zum bösen Prinzip erklärt wurden, ging dieselbe Auffassung meist auf dieses über, daher die Darstellung des indischen aus dem Himmel gestürzten Feuergottes Ahi, des persischen Ahriman, der griechischen Titanen, des altnordischen Loki, des christlichen Lucifer etc. als „alte“ Schlange, und deshalb treten auch so viele alte Heroen und selbst christliche Heilige als Drachentöter auf. In manchen Kirchen wurde die Drachenfigur, z. B. der Grauouilli (s. d.) in Metz, bis zur neuern Zeit aufbewahrt und das Fest seiner Tötung mit kirchlichen Aufzügen gefeiert. Indessen wurde aber auch anderseits die Schlange vielfach als wohlthätiger Dämon verehrt, als Genius der Heilquellen und Personifikation des Äskulap (eines Sohns des Feuergottes bei Ägyptern, Phönikern und Griechen). Doch mischten sich auch andre durch die abweichende Gestalt und Bewegungsweise sowie durch die geheimnisvolle Wirkung des Gifts angeregte Vorstellungskreise ein, und somit liegt hier eine so vielfache Symbolisierung von Naturkräften und religiösen Vorstellungen vor, daß die mehrfach versuchte Zurückführung auf Eine dem gesamten S. zu Grunde liegende Idee notwendig scheitern mußte. Besonders berühmt durch ihren S. waren die Ophiten (s. d.), welche davon ihren Namen erhielten. Zur Zeit der Entdeckung Amerikas wurde der S. bei den Indianern des Nordens, bei den Mexikanern und in Peru allverbreitet gefunden; heute blüht er insbesondere noch in manchen Ländern Afrikas und namentlich in einzelnen Distrikten Ostindiens, wo besondere Schlangenfesttage mit großartigen Tempelfütterungen unzähliger Brillenschlangen abgehalten werden. Sogenannte Schlangenzauberer und Giftdoktoren tragen in allen diesen Ländern viel zur Erhaltung des abergläubischen Nimbus der Schlange bei. Die Lösung des sich hierin darbietenden Rätsel- und Sagenknäuels haben (oft in sehr einseitiger Richtung!) versucht: Fergusson, Tree and serpent worship; mythology and art in India (Lond. 1868, Hauptquellenwerk); Mähly, Die Schlange im Mythus und Kultus der klassischen Völker (Leipz. 1867); Schwartz, Die altgriechischen Schlangengottheiten (Berl. 1858).