Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Schöpfung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 607
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Schöpfung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 607. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Sch%C3%B6pfung (Version vom 20.12.2022)

[607] Schöpfung, die Hervorrufung des Alls durch den göttlichen Willen aus Nichts, auf der hebräischen und babylonischen Kosmogonie beruhendes jüdisches und christliches Dogma, womit schon die Apologeten des 2. Jahrh. den meist zugleich Theogonien darstellenden Kosmogonien des Heidentums, insonderheit auch der griechischen Vorstellung von einer ewigen Materie, gegenübertraten. Während Gott unter letzterer Voraussetzung nur Weltbildner wäre, betont daher schon das sogen. apostolische Glaubensbekenntnis den „allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde“. Später unterschied man, um die griechisch-philosophische und die christlich-religiöse Ansicht zu vermitteln, eine erste S. (die des Chaos) und eine zweite (die der sechs Tagewerke oder Zeiträume). Während man sich aber theologischerseits selbst neuerdings noch bemühte, die althebräische Schöpfungssage vor der neuern Naturkunde zu rechtfertigen, entschieden der gleiche Charakter jener mit der altassyrischen Sage, die Art und doppelte Gestalt der Überlieferung und der Widerspruch mit der Naturwissenschaft für die mythische Ansicht in mancherlei Formen, und mit wenigen Ausnahmen reduzieren heute auch die streng bibelgläubigen Dogmatiker den Kern der Schöpfungslehre auf den Satz, daß die zeitlich-räumliche Welt ihren Grund in einem bewußten und freien Willensakt Gottes habe. Unter dem Einfluß der geologischen Erkenntnis, daß der Bau der Erdrinde auf eine allmähliche Entstehungsweise hindeutet, und daß die Erdoberfläche in mannigfachen, aufeinander folgenden Epochen von den heute lebenden völlig verschiedene Tier- und Pflanzengeschlechter getragen hat, begann das von einigen Kirchenlehrern aufgestellte Dogma von der plötzlichen Erschaffung des Weltalls mit allem, was sich darin regt und bewegt, der Idee einer allmählichen Entwickelung der lebendigen wie der leblosen Welt Platz zu machen. Nachdem man lange den geschichteten Bau der Erdrinde und ihre Versteinerungen als Überreste der Sintflut (s. Diluvianismus) betrachtet hatte, sind seit dem ersten Erscheinen von Buffons „Epochen der Natur“ (1749) Versuche aufgetaucht, den mosaischen Schöpfungsbericht und die Geologie durch sogen. Konkordanz- oder Harmonisierungshypothesen zu vermitteln, indem man entweder den erstern nur auf die im Menschen gipfelnde letzte S. (in der sogen. Restitutionstheorie) bezog und alle frühern Schöpfungen in das Chaos verwies, oder die geologischen Perioden der Erdbildung als die bildlich zu verstehenden sechs Schöpfungstage der Bibel ausdeutete. An solchen Versuchen, Theologie und Wissenschaft zu versöhnen, ist namentlich die englische Litteratur ungemein reich; allein nachdem Lyell nachgewiesen, daß die Veränderungen der Erde nicht in wohlgetrennten Perioden (s. Katastrophentheorie), sondern in ununterbrochener Folge, wie noch heute, vor sich gegangen sind, und seitdem durch Darwins Auftreten die Ansicht einer langsamen Entwickelung der höhern Lebensformen aus niedern bei den Naturforschern die Oberhand gewonnen hat, beschränken sich die Vermittelungsvorschläge der Theologen auf eine Rückkehr zum Standpunkt des heil. Augustin, welcher eine mittelbare S. (creatio indirecta) lehrte, wonach Pflanzen und Tiere, ja selbst der Mensch im Anbeginn der Dinge nur der Anlage nach erschaffen worden wären, um sich, wenn ihre Zeit gekommen sei, zu entwickeln. Vgl. Kosmogonie.