Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Runen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 3637
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Runen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 36–37. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Runen (Version vom 02.08.2021)

[36] Runen, die ältesten Schriftzeichen der Germanen. Sie sind nicht, wie man früher annahm, einheimischen Ursprungs, sondern um die Zeit von Christi Geburt aus dem lateinischen Alphabet (der Kapitalschrift) hervorgegangen, dessen Buchstaben man unter prinzipieller Vermeidung der wagerechten und krummen Linien (diese waren zum Einritzen in Holz ungeeignet) umformte und mit bedeutsamen Namen versah. Das älteste Runenalphabet (nach den ersten sechs Buchstaben futhark genannt) bestand aus 24 Zeichen: f. u. th. a. r. k. g. w. h. n. i. j. eu (?). p. z (= weich s). s. t. b. e. m. l. ng. o. d; dasselbe läßt sich mit geringen Abweichungen in der gleichen Anordnung bei den Nordgermanen (Brakteat von Vadstena), Angelsachsen (in der Themse gefundenes Messer) und Südgermanen (Charnayspange) nachweisen, war also allen germanischen Stämmen gemeinsam, was für die Goten durch die Beibehaltung einzelner Runenzeichen in dem Alphabet des Ulfilas und durch die in einer Wiener Handschrift erhaltenen Namen der gotischen Buchstaben, die mit den Namen der angelsächsischen und nordischen R. übereinstimmen, für die Franken durch das ausdrückliche Zeugnis des Venantius Fortunatus noch besonders erhärtet wird.

futharkgwhnij
eu(?)pzstbemlngod
Fig. 1. Das gemein-germanische Runenalphabet.

Dieses gemeingermanische Alphabet (Fig. 1) ist bei den Angelsachsen durch Hinzufügung neuer Zeichen (welche durch die reichere Entwickelung des Vokalismus notwendig wurde) erweitert, bei den Skandinaviern vereinfacht worden, da in den jüngern Inschriften nur 16 Zeichen (f. u. th. o. r. k. h. n. i. a. s. t. b. l. m. y) verwendet werden, denen man erst ganz spät noch 7 neue Sproßformen (die sogen. punktierten R.) hinzufügte (Fig. 2–4). Eine eigentümliche Abart des kürzern Alphabets sind die sogen. Zweigrunen, eine Art nordischer Geheimschrift. Zuerst sind die R., denen man einen geheimnisvollen Einfluß auf die Personen oder Dinge, die ihre Namen bezeichneten, zuschrieb, nur zur Weissagung (beim Losorakel) und zum Zauber gebraucht worden. Hieraus erklärt sich auch der Name der R. (rûna, altnord. rún, Plural rúnir, bedeutet Geheimnis). Über das Losorakel ist uns im 10. Kapitel der „Germania“ des Tacitus ein Zeugnis erhalten. Man streute mit R. (notis quibusdam) bezeichnete hölzerne Stäbchen auf ein weißes Tuch; darauf wurden auf gut Glück drei dieser Stäbchen aufgehoben und gedeutet. Höchst wahrscheinlich geschah diese Deutung in metrischer Form (in allitterierendem Spruch). Die Verwendung der R. zum Zauber ist besonders im Norden bezeugt. Es gab Zauberrunen für bestimmte Zwecke, so Siegrunen, Bierrunen, Bergerunen (zur Geburtshilfe), Seerunen (zum Schutz der Schiffe), Rederunen (um klug zu sprechen), Löserunen (bei Gefangenschaft), R. zum Besprechen (Stumpfmachen) der Schwerter u. dgl. Zu zusammenhängender Schrift sind die R. von den Deutschen des Kontinents nur in geringem Umfang gebraucht worden (die einzigen erhaltenen Runendenkmäler sind

futhorkg
(palat.)
w
hnijchpeostbe
mlngœdg
(gutt.)
aæyea
Fig. 2. Angelsächsische Runen (nach der Inschrift des Kreuzes von Ruthwell). Die hier fehlenden Zeichen, durch ( ) eingeschlossen, sind aus dem Alphabet des Runenliedes hinzugefügt.
f, vu, oth, dhạ (o)rk, ghn
i, east, dp, blmr
final.
(später y)
Fig. 3. Das jüngere nordische Runenalphabet.
abdef, vgh, ʒi, jklmn
oprstth,
dh
u, wyzæœ
Fig. 4. Das jüngste nordische Runenalphabet mit den „punktierten“ Runen (nach dem Codex runicus).

Schmuckgegenstände, die durch die R. den Wert von Amuletten erhielten, und Waffen), und auch in England war ihre Verwendung zu diesem Zweck nicht häufig (das umfangreichste Denkmal, die Inschrift auf dem Kreuz von Ruthwell, stammt bereits aus christlicher Zeit). Im skandinavischen Norden, wo die lateinische Schrift erst verhältnismäßig spät bekannt wurde, haben die R. dagegen sehr ausgedehnte Verwendung gefunden, besonders zu Grabinschriften auf Steinen. Die Schrift geht entweder von links nach rechts oder umgekehrt, zuweilen auch in beiden Richtungen abwechselnd. Die ältesten Denkmäler (die Zwinge von Thorsbjärg, das Diadem von Straarup u. a.) gehören wahrscheinlich dem 5. Jahrh. an; das berühmte „goldene Horn“ von Gallehus bei Tondern, die Steine von Tune, Strand, Varnum, Tanum u. a. stammen aus dem 6. Jahrh. Vgl. Fr. Burg, Die ältern nordischen Runenschriften (Berl. 1885). Die Inschriften im kürzern Alphabet beginnen etwa um 800 (z. B. die Steine von Helnäs und Flemlöse auf Fünen). Ganz sicher datierbar sind jedoch erst die zweifellos jüngern Jällingesteine aus dem 10. Jahrh. Sie sind besonders zahlreich in [37] Schweden und reichen bis in späte Zeit hinab, auf Gotland bis ins 16. Jahrh.; einige (z. B. der Karlevistein auf Öland und der Rökstein in Ostgotland) enthalten stabreimende Verse. Der Gebrauch der R. zu litterarischen Zwecken (in Handschriften) ist selten und nur als eine gelehrte Spielerei zu bezeichnen (das umfangreichste Denkmal, der sogen. „Codex runicus“ mit dem schonischen Recht aus dem 14. Jahrh., ist faksimiliert hrsg. von P. G. Thorsen, Kopenh. 1877). Besonders lange wurden R. auf Kalenderstäben gebraucht. – Von älterer Litteratur seien nur erwähnt: Worm, Runir (Kopenh. 1636); Göransson, Bautil (mit Abbildungen, Stockh. 1750); Brynjulfsson, Periculum runologicum (Kopenh. 1823). Liljegren gab in „Run-Lära“ (Stockh. 1832) und „Run-Urkunder“ (das. 1833) eine gute Zusammenstellung. Zur Orientierung empfiehlt sich: v. Liliencron und Müllenhoff, Zur Runenlehre (Halle 1852). Über das Alphabet handelten: Kirchhoff, Das gotische Runenalphabet (2. Aufl., Berl. 1854), und Zacher, Das gotische Alphabet Vulfilas’ und das Runenalphabet (Leipz. 1855). Unter den neuesten Schriften ist die bedeutendste Ludv. Wimmers Buch „Runeskriftens oprindelse ok udvikling i norden“ (Kopenh. 1874; deutsch von Holthausen, Berl. 1887). Die große Sammlung von Stephens: „The old northern runic monuments of Scandinavia and England“ (Lond. u. Kopenh. 1866–84, 3 Bde.; abgekürzte Ausg. 1884, 3 Bde.) ist wertvoll durch ihre vorzüglichen Abbildungen, dagegen sind die Deutungen der Runeninschriften fast sämtlich verfehlt. Ergänzt wird dieses Werk für die speziell schwedischen (jüngern) Inschriften durch Dybeck, Svenska Run-Urkunder (Stockh. 1855–59) und Sverikes Run-Urkunder (das. 1860–76), für die dänischen Inschriften durch P. G. Thorsen, „De danske Rune-Mindesmaerker“ (Kopenh. 1864–81). Eine neue, groß angelegte Sammlung der dänischen Runeninschriften wird seit längerer Zeit von Wimmer vorbereitet, eine Monographie über die südgermanischen R. von Rud. Henning. Sonst haben sich um die Runenkunde verdient gemacht: W. Grimm (1821, 1828), Lauth (1857), K. Hofmann (Münch. 1866), Fr. Dietrich; im Norden: F. Magnusen, Worsaae, Munch, Rafn, Thomsen, Bugge, Gislason, auch Jessen u. a. Ein Wörterbuch schrieb Dieterich („Runensprachschatz“, Stockh. u. Leipz. 1844). Vgl. Bugge, Übersicht über die Runenlitteratur (in „Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft“ 1875, Bd. 8).