Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Rhizopōden“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 791792
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Rhizopōden. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 791–792. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Rhizop%C5%8Dden (Version vom 25.09.2022)

[791] Rhizopōden (Wurzelfüßler, Rhizopoda, Sarcodina), Klasse der Protozoen, niedere Organismen, deren Körper aus gleichartigem oder doch nur wenig differenziertem Protoplasma (Sarkode) ohne bestimmte äußere Haut besteht und von jedem beliebigen Teil der Oberfläche wurzelartige Scheinfüßchen (Pseudopodien) aussenden oder sie wieder zurückziehen und mit der Körpermasse verschmelzen lassen kann. Das Protoplasma ist meist homogen und enthält nur zuweilen gefärbte Körnchen, Bläschen und Fettkügelchen, dagegen wohl immer einen oder mehrere Kerne: auch scheidet es chitinöse, häufiger kalkige oder kieselige Gehäuse oder Skelette, meist von sehr regelmäßiger, oft außerordentlich zierlicher Form, aus. Die Pseudopodien dienen zur Fortbewegung und auch zur Nahrungsaufnahme, indem sie kleine Organismen umfließen und völlig in sich einschließen. Dieser Vorgang der Aufnahme und Verdauung von Nahrungsstoffen erfolgt bei den R. mit Gehäuse außerhalb derselben. Die R. leben vorwiegend im Meer und tragen durch die Anhäufung ihrer Gehäuse nicht unmerklich zur Bildung des Meeressandes und zur Ablagerung mächtiger Schichten bei, wie auch eine Unzahl fossiler Formen aus verschiedenen Formationen bekannt sind. Man teilt die R. in drei Ordnungen: Foraminiferen, Heliozoen und Radiolarien, und rechnet auch wohl als vierte Ordnung noch die Amöben inkl. Moneren hinzu (s. Protozoen).

1) Die Foraminiferen, auch Polythalamien genannt, sind R. mit einer ein- oder vielkammerigen, meist kalkigen, seltener chitinösen oder aus Sandkörnchen gekitteten Schale. Der Weichkörper in ihrem Innern enthält einen oder mehrere echte Kerne und sendet die Pseudopodien entweder aus einer einzigen größern Öffnung der letzten Kammer oder durch zahllose feine Röhrchen, von welchen die ganze Schale durchbohrt ist, hervor. Über die Fortpflanzung ist wenig bekannt; doch ist so viel sichergestellt, daß zuerst der Kern sich teilt und dann erst die Vermehrung der Zellen vor sich geht. Zum Teil scheint ein Lebendiggebären stattzufinden. Bei den vielkammerigen Formen sind die ersten Kammern die kleinsten und werden von den spätern umhüllt; je nachdem nun die letztern sich geradlinig, in konzentrischen Kreisen, spiral, in alternierenden Reihen, schraubenförmig oder unregelmäßig aneinander schließen, entstehen die mannigfaltigsten Gestalten. Diese erreichen auch, obwohl im allgemeinen die Foraminiferen sehr klein sind, zum Teil bedeutende Größe; so werden z. B. die Nummuliten (s. d.) mehrere Zentimeter groß. Wenige Formen, wie Arcella und Difflugia, leben im süßen Wasser, mehr schon im Brackwasser, die meisten aber im Meer und zwar gewöhnlich auf dessen Grund, wo sie sich kriechend fortbewegen. Im Meer bedingt namentlich die Familie der Globigerinen, welche indessen an der Oberfläche leben, durch Anhäufung ihrer allmählich zu Boden sinkenden Schalenreste eine fortdauernde Bildung von Ablagerungen, welche eine auffallende Übereinstimmung mit den ältern Kreidebildungen zeigen (vgl. Bathybius). Das meiste Interesse nehmen die Foraminiferen der frühern Epochen der Erdgeschichte in Anspruch. Als ältestes aller bisher bekannten Lebewesen wird das in der laurentischen Formation aufgefundene riesige Eozoon (s. d.) bezeichnet, dessen tierische Natur jedoch neuerdings wieder sehr zweifelhaft geworden ist. Ferner sind die versteinerten Reste von Foraminiferen in den devonischen und silurischen Schichten sehr zahlreich. Am häufigsten aber sind sie in der Kreide- und Tertiärperiode vertreten und finden sich sowohl in der Schreibkreide als auch im Kalk des Pariser Beckens in ungeheurer Menge (Miliolitenkalk, ein vielfach benutztes Baumaterial). Auch die lebenden Arten sind trotz ihrer Kleinheit zum Teil in solchen Massen vorhanden, daß Max Schultze in einem Gramm Meeressand von Gaeta gegen 50,000 Schalen von ihnen auffand. Man teilt die Foraminiferen nach Zahl und Ordnung der Kammern in Mono- und Polythalamia oder nach der Struktur der Schale in Imperforata (mit nur einer großen Öffnung) und Perforata (mit vielen feinen Poren und häufig noch einem verwickelten Kanalsystem). Übrigens sollten sich nach den Untersuchungen Carpenters Arten in der gewöhnlichen Weise gar nicht unterscheiden und auch die Gattungen nicht scharf auseinander halten lassen; ebenso bilden die versteinerten Formen mit den lebenden kontinuierliche Reihen; nur ist ein Fortschritt in der Entwickelung von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart nicht nachweisbar. Es verdient noch bemerkt zu werden, daß A. d’Orbigny, der sich zuerst 1826 eingehend mit den Polythalamien beschäftigte, sie wegen Ähnlichkeiten im Bau der Schale für Tintenschnecken hielt, bis Dujardin 1835 ihre wahre Natur erkannte. S. die Abbildungen von Gromia, Dendritina, Orbulina und Guttulina auf Tafel „Protozoen“, von Fusulina auf Tafel „Steinkohlenformation I“ und von Flabellina, Chrysalinida, Bulimina, Textularia, Lituola und Dentalina auf Tafel „Kreideformation“.

2) Die Heliozoen oder Sonnentierchen sind R. des süßen Wassers von kugeliger Gestalt und besitzen einen, seltener mehrere Kerne, zuweilen auch ein radiäres Kieselskelett. Sie pflanzen sich sowohl durch Teilung als auch durch Bildung von Schwärmsprößlingen fort.

3) Die Radiolarien oder Polycystinen sind R. mit kompliziertem Weichkörper und einem strahlig angeordneten Skelett. Sie leben als Einzelwesen und sind nur ausnahmsweise zu Kolonien vereinigt; ihr Körper besteht aus einer von fester Membran umschlossenen Kapsel (Zentralkapsel), welche in einer weichen, schleimigen Sarkodeschicht eingebettet liegt, von der nach allen Seiten feine, einfache oder verästelte und anastomosierende, fadenartige Scheinfüße ausstrahlen. Die Zentralkapsel selbst enthält auch Sarkode und in dieser einen großen oder zahlreiche kleine echte Kerne sowie Fetttropfen, Eiweiß- und Ölkugeln, seltener Kristalle und Konkretionen. Die Sarkode innerhalb der Kapsel steht durch deren Poren mit der äußern Sarkode in Zusammenhang. In der letztern finden sich Hohlräume (Vakuolen) und eigentümliche gelbe Zellen vor. In der Regel scheidet der Körper ein festes Skelett ab, welches entweder ganz außerhalb der Zentralkapsel liegt, oder, die letztere mit radialen Teilen durchbohrend, bis in ihre Mitte hineintritt. Diese Skelette sind von überaus zierlichen und mannigfaltigem, regelmäßigem Bau. Sie zeigen oft eine phantastische Vielseitigkeit (ahmen z. B. Vogelbauer, Pickelhauben etc. nach), doch sind die einzelnen Teile stets nach mathematisch strengen Gesetzen aneinander gefügt. Das Material der Skelette [792] (nur wenige Gattungen sind skelettlos) ist meist glashelle, durchsichtige, homogene Kieselsäure, welche, wie bei den Schwämmen, solide und hohle Nadeln, Gitternetze etc. bilden hilft; bei einer Gruppe aber bestehen die Nadeln des Skeletts aus einer Art Eiweiß, dem sogen. Akanthin. Die Fortpflanzung ist erst bei wenigen Gattungen genauer bekannt geworden, und zwar geschieht sie meist durch Bildung von Schwärmsporen innerhalb der Zentralkapsel. Die Radiolarien, deren Kolonien die Größe von mehreren Zentimetern erreichen, sind fast alle mikroskopisch klein. Sie sind Meeresbewohner und schwimmen an der Oberfläche der See, tauchen aber auch in tiefere Schichten hinab; ihre Kieselgehäuse sind gerade für die Absätze in den tiefsten Abgründen der Ozeane charakteristisch. Noch neuerdings hat die Weltumseglung des Challenger Tausende neuer Arten mit den wunderbarsten Skeletten kennen gelehrt. Als Fossilien spielen die Radiolarien zwar nicht die bedeutende Rolle wie die Foraminiferen, indessen finden sie sich doch in Tripeln, Polierschiefern und Kreidemergeln der tertiären Schichten und bilden auf Barbados und den Nikobaren sogar ganze Felsen. Man teilt die Radiolarien in vier große Gruppen ein: a) Thalassicollea, Einzeltiere, bei denen das Skelett fehlt oder aus einzelnen zusammenhangslosen, rings um die Zentralkapsel zerstreuten Kieselnadeln (spicula) oder aus einem lockern Geflecht unregelmäßig verbundener Nadeln und Stäbe besteht, sich aber niemals in die Zentralkapsel fortsetzt; b) Polycystinea; das Skelett bildet eine sehr verschieden gestaltete Gitterschale, die häufig durch Einschnürungen in mehrere Glieder zerfällt und eine Längsachse besitzt. Oft sind mehrere sphäroidale Schalen eingeschachtelt und durch radiale Stäbe verbunden, oder es tragen starke radiale Hohlstacheln ein System tangentialer Netzbalken anstatt des Gittergehäuses; c) Acanthometrae; das Skelett besteht aus radialen Akanthinstacheln, welche sich in der Zentralkapsel vereinigen, häufig auch noch durch Fortsätze eine äußere Gitterschale bilden; d) Meerqualstern (Polycyttaria), Kolonien mit zahlreichen Zentralkapseln (Nestern), oft von ansehnlicher Größe, bald ohne Skelett, bald mit spärlichem Netzwerk von Nadeln, bald mit Gitterkugeln in der Umgebung der Zentralkapseln. Sie erscheinen als Gallertklumpen von kugeliger, stabförmiger oder kranzförmiger Gestalt. S. Tafel „Protozoen“. Vgl. d’Orbigny, Tableau méthodique de la classe des Céphalopodes (Par. 1826); Dujardin, Observations sur les Rhizopodes (das. 1835); Schultze, Über den Organismus der Polythalamien (Leipz. 1854); Derselbe, Über das Protoplasma der R. (das. 1863); Ehrenberg, Über noch zahlreich jetzt lebende Tierarten der Kreidebildung (Berl. 1839); Williamson, On the recent Foraminifera (Lond. 1858); Carpenter, Introduction to the study of the Foraminifera (das. 1862); Häckel, Die Radiolarien (Berl. 1862–87, 2 Tle.); R. Hertwig, Der Organismus der Radiolarien (Jena 1879); Brandt, Monographie der koloniebildenden Radiolarien (Berl. 1885).