MKL1888:Rätsel
[591] Rätsel (griech. Änigma), die umschreibende Darstellung eines nicht genannten Gegenstandes, den der Leser oder Hörer selbst auffinden („raten“) soll. Die Hauptaufgabe eines guten Rätsels besteht darin, daß die ganze Beschreibung, wenn auch ihre einzelnen Teile mehrdeutig sind, doch treffend den Gegenstand bezeichne; es ist um so vollkommener, je schärfer bei aller absichtlichen Dunkelheit die Bezeichnungen sind, und je mehr dabei dem Nachdenken überlassen wird. Man unterscheidet: Buchstabenrätsel, wenn einer oder zwei Buchstaben am Anfang des Wortes verändert werden, während der übrige Teil des Wortes unverändert bleibt (Maus, Haus, Schmaus); Logogriphen, wenn durch Versetzung der Buchstaben andere Wörter gebildet werden (Bernhardus, Bruder Hans); Arithmogriphen oder Zahlenrätsel; Palindrome, wenn das betreffende Wort vor- und rückwärts gelesen einen Sinn geben muß; Homonymen, wenn ein und dasselbe Wort in verschiedener Bedeutung genommen werden soll; Scharaden oder Silbenrätsel, wenn erst die einzelnen Silben und dann das Ganze eines mehrsilbigen Wortes bezeichnet werden; Worträtsel, bei denen gleich das ganze Wort zusammengenommen wird. Nebenzweige des Rätsels sind: das Bilderrätsel oder der Rebus (s. d.), der sogen. Rösselsprung (s. d.), endlich das Schachrätsel. Das R. hat seinen Ursprung im Orient, wo es im Altertum nicht selten als Ausdruck höherer Erkenntnis diente, die sich gern in Dunkelheit hüllte. Schon bei den Hebräern spielte es im Volksleben bei ernsten und heitern Anlässen eine bedeutende Rolle. Dem Joram muß es dazu dienen, das Königtum Abimelechs zu verhöhnen; Simson würzt damit sein Hochzeitsmahl; die Königin von Saba geht mit Salomo an dessen Hof einen Rätselkampf ein. Bei den Griechen schloß sich das R. in den frühsten Zeiten an die Orakelsprüche an und war daher meist in Hexametern abgefaßt. Besonders kam es zur Zeit der Sieben Weisen, die es zu didaktischen Zwecken verwendeten, in Aufnahme, und namentlich soll Kleobulos eine große Anzahl von Rätseln in [592] Versen geschrieben haben. Fast alle bei uns jetzt üblichen Formen des Rätsels finden sich schon im hellenischen Altertum, und selbst die Epiker, die dramatischen Dichter und Lyriker mischten gern rätselartige Aussprüche in ihre Dichtungen ein. Bekannt ist das von Ödipus gelöste R. der Sphinx (vgl. Ohlert, R. und Gesellschaftsspiele der alten Griechen, Berl. 1886). Die Römer fanden weniger Geschmack an dergleichen Denkübungen. Besonders häufig war dagegen der Gebrauch der R. bei den germanischen Völkern. Schon die Eddalieder sind voll solcher Fragen, womit man seine gegenseitige Kenntnisse prüfte. Aus dem spätern deutschen Altertum sind besonders zwei Gedichte von Rätselform zu erwähnen: das sogen. „Tragemundeslied“ und der „Wartburgkrieg“, außerdem zahlreiche im Volksmund und in Volksbüchern erhaltene Überreste von Rätseln. Eine weitere Ausbildung hat das R. im 18. und 19. Jahrh. erhalten, wo man ihm durch die poetische Form größern Reiz zu geben suchte. Durch poetischen Gehalt und Formenschönheit ragen Schillers bekannte R. in der „Turandot“ hervor; mehr durch Humor oder durch Witz und Scharfsinn ausgezeichnet sind die R. von Hebel und Schleiermacher, ferner von Mises, Thiersch, Hauff, Schmidlin, Brentano u. a. Die erste deutsche Rätselsammlung wurde 1505 in Straßburg gedruckt (neu hrsg. von Butsch, das. 1875). Eine Sammlung alter Volksrätsel enthält auch Simrocks „Deutsches Rätselbuch“ (3. Aufl., Frankf. 1874). Von den zahlreichen neuern Sammlungen empfehlen sich durch Reichhaltigkeit Ohnesorges Rätselalmanach „Sphinx“ (Berl. 1833–35, 6 Bde.) und Hoffmanns „Großer deutscher Rätselschatz“ (Stuttg. 1874, 2 Bde.). Vgl. Friedreich, Geschichte des Rätsels (Dresd. 1860).