Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Physiognōmik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 39
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Physiognōmik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 39. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Physiogn%C5%8Dmik (Version vom 09.05.2024)

[39] Physiognōmik (griech.), die Kunst, aus der Beschaffenheit der äußern Teile des Körpers, besonders des Gesichts (Physiognomie), auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen zu schließen. Schon im Altertum scheint man diese Kunst geübt und geschätzt zu haben; Pythagoras, Sokrates, Platon legten besondern Wert darauf, und Aristoteles gilt als Verfasser einer ausführlichen Abhandlung über P., in welcher, als zuverlässigste Methode, die Vergleichung menschlicher mit tierischen Zügen empfohlen und der Grundsatz aufgestellt wird, daß, wenn ein Mensch in seiner Gesichtsbildung einem Löwen, Fuchs, Raubvogel etc. ähnlich sehe, dies ein Beweis sei, daß er auch die entsprechenden geistigen Eigenschaften besitze. Obschon diese Theorie mit den Beobachtungen des täglichen Lebens im augenscheinlichsten Widerspruch steht, hat sie sich doch mit merkwürdiger Zähigkeit erhalten und nicht allein bei den astrologischen und chiromantischen Zeichendeutern des Mittelalters, sondern selbst noch in neuester Zeit Anhänger und Nachahmer gefunden. Als begeisterter Prophet einer neuen physiognomischen Ära trat Lavater auf, und seine orakelhaften, mit großer Zuversichtlichkeit verkündeten physiognomischen Urteilssprüche machten bei Gebildeten und Ungebildeten ein gewaltiges Aufsehen, obgleich schon damals Lichtenberg in sehr drastischer Weise die hohle Phrasenhaftigkeit der Lavaterschen Offenbarungen und Behauptungen geißelte („Fragment von Schwänzen“). Auf wissenschaftlichen Wert oder praktische Brauchbarkeit können dieselben allerdings keinen Anspruch machen, da für Lavater nicht logische Gründe, sondern nur persönliche Gefühle und die Inspirationen seiner vermeintlichen physiognomischen Divinationsgabe maßgebend sind. Beweise und verständliche Grundsätze wird man in seinem vierbändigen Werk „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ vergeblich suchen. Auch die Gallsche Schädellehre hat den anfänglich von ihr erwarteten Nutzen für die P. nicht gehabt, da die phrenologischen Hypothesen sich als wissenschaftlich unhaltbar herausgestellt haben. Zudem trifft die Voraussetzung, daß die Hervorragungen der Gehirnoberfläche an der äußern Schädeldecke erkennbar seien, für den untern Teil des Stirnknochens gar nicht zu, da die Form desselben von der Größe und Gestaltung der in seinem Innern befindlichen Knochenhöhlen abhängig ist. Th. Piderit („Mimik und Physiognomik“, 2. Aufl., Detmold 1886) hat das Verdienst, zuerst die P. einer wissenschaftlichen Behandlungsweise zugänglich gemacht zu haben. Brauchbare physiognomische Merkmale darf man nicht an den festen Knochenformen, sondern nur an denjenigen Gesichtsteilen zu finden erwarten, die unter dem Einfluß der Seelenthätigkeit stehen, d. h. an den beweglichen Muskeln. Mimische, durch Leidenschaften und Stimmungen hervorgerufene Züge werden durch häufige Wiederholung allmählich zu bleibenden physiognomischen Zügen, und ein physiognomischer Zug ist anzusehen als ein habituell gewordener mimischer Zug. Von diesem Prinzip ausgehend, benutzt Piderit die von ihm zur Erklärung der mimischen Gesichtsmuskelbewegungen aufgestellten Grundsätze, um darauf ein mit logischer Konsequenz durchgeführtes System rationeller P. zu basieren. Ursprung und Bedeutung der einzelnen physiognomischen Züge an Augen, Mund, Nase etc. werden eingehend nachgewiesen und dieselben durch instruktive schematische Zeichnungen veranschaulicht (s. Mimik). Aber auch diese durch Muskelspannung hervorgerufenen physiognomischen Züge können täuschen und zu falschen Schlüssen verleiten, da nicht allein durch häufig wiederholte Gemütsbewegungen, sondern auch durch mancherlei andre Ursachen (Krankheiten, Art der Lebensbeschäftigung etc.) der physiognomische Ausdruck beeinflußt und verändert werden kann; als zuverlässigstes Hilfsmittel der P. empfiehlt sich deshalb die aufmerksame Beobachtung des Mienenspiels, das theoretische und praktische Studium der Mimik. Vgl. auch Camper, Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge (a. d. Holländ., Berl. 1792); Carus, Symbolik der menschlichen Gestalt (2. Aufl., Leipz. 1858); Reich, Die Gestalt des Menschen und deren Beziehungen zum Seelenleben (Heidelb. 1878). Über pathologische P. (Pathognomik), d. h. die Beurteilung psychischer oder somatischer Krankheiten aus den Gesichtszügen und andern äußern Merkmalen des Patienten, vgl. Baumgärtner, Krankenphysiognomik (2. Aufl., Stuttg. 1841–43, mit Atlas), und Morison, P. der Geisteskrankheiten (a. d. Engl., Leipz. 1853).