Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Mīmik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 639640
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Mīmik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 639–640. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:M%C4%ABmik (Version vom 22.11.2023)

[639] Mīmik (griech.), das Vermögen, durch Mienen und Gebärden Empfindung, Gedanken und Willen auszudrücken. Bildet sich diese allen Menschen mehr oder weniger zukommende Fähigkeit zu der Geschicklichkeit aus, gewisse Individualitäten nach ihrer äußern Erscheinung nachzubilden, so ist sie porträtierende M., die lediglich in Nachahmung besteht und, je nachdem sie körperliche oder psychische Eigentümlichkeiten anderer Personen zur Anschauung bringt, entweder somatologische oder psychologische M. sein kann. Zu jener gehört z. B. die Nachahmung körperlicher Mängel, des Hinkens, Schielens etc., zu dieser die Darstellung gewisser Charaktereigentümlichkeiten, z. B. des Stolzes, der Furchtsamkeit, der Habsucht etc. Geht die M. aber darauf aus, innere Seelenzustände zum deutlichsten, jedermann verständlichen Ausdruck zu bringen, so ist sie als selbstschaffende, idealisierende M. eine Kunst im eigentlichen Sinn des Wortes und ein Hauptmittel der dramatischen Darstellung, möge es sich dabei um die Vorführung tragischer oder komischer Rollen handeln. In ihrer Verbindung mit der Redekunst ist sie entweder theatralische (dramatische) oder oratorische M. (s. Deklamation), in ihrer Verbindung mit der Musik aber orchestische M. oder belebte Rhythmik. Die Schönheit der mimischen Darstellung an sich und abgesehen von der damit zu erzielenden Wirkung der Rede oder der Musik beruht zum guten Teil auf natürlicher Anlage und völliger Herrschaft über das Spiel der Gesichtsmuskeln und über die Körperbewegungen, obwohl Übung und Studium unstreitig viel zur Ausbildung vorhandener Anlagen beitragen können. Unentbehrliche Erfordernisse derselben sind Klarheit und Deutlichkeit, Natürlichkeit, Grazie, Mannigfaltigkeit und Einheit. Für die relative Schönheit der M. gilt als Hauptsatz, aus welchem sich alle übrigen leicht herleiten lassen: alle Gebärden müssen mit dem Charakter der Rede oder Musik, die sie zu begleiten haben, auf das genaueste übereinstimmen und also die Gedanken der Rede oder Musik gleichsam verkörpern. Spuren mimischer Darstellungsweise lassen sich bei den meisten kultivierten Völkern des Altertums nachweisen. Bei den Griechen bildete sie einen wesentlichen Bestandteil der Orchestik und gewann bei den Römern in der Pantomimik (s. Pantomime) ihre höchste Ausbildung. Die M. der Alten war übrigens im eigentlichen Sinn plastisch, d. h. sie wirkte durch die gesamte Gestalt, während die Individualität und Gesichtsmimik des Darstellers durch den Gebrauch der Theatermasken stark eingeschränkt wurde. In der neuern Zeit war das Ziel der M., die sich als Kunst größtenteils auf die Bühne beschränkte, die möglichst ausgeführte subjektive Charakteristik. Vgl. Engel, Ideen zu einer M. (Berl. 1785, 2 Bde.); Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (Hamb. 1792); Schebest, Rede und Gebärde (Leipz. 1861); K. Michel, Die Gebärdensprache (Köln 1886).

Die Kunst der darstellenden M. beruht hauptsächlich auf der Nachahmung der unwillkürlichen mimischen Bewegungen, welche, als Ausdruck gewisser Leidenschaften und Stimmungen, besonders in den Gesichtsmuskeln zum Vorschein kommen. Diese jedem verständliche und, wie Darwin konstatiert hat, bei allen Völkern merkwürdig gleichartige Mienensprache physiologisch zu erklären, ist erst neuerdings einigermaßen gelungen. Joh. Müller und Lotze waren noch der Ansicht, daß sich für die Veränderung der Gesichtszüge durch Affekte „weder Grund noch Zweck angeben lasse“, obwohl schon Erasmus Darwin versucht hatte, das Gebärdenspiel von natürlichen Ursachen abzuleiten. Duchenne („Mécanisme de la physionomie humaine“, 1862) suchte durch elektrische Reizung die Bedeutung der einzelnen Gesichtsmuskeln für das Mienenspiel genauer festzustellen, huldigte aber, ebenso wie Ch. Bell („Anatomy of expression“, 1806), der teleologischen Anschauung, daß die mimischen Gesichtsmuskeln uns von der Natur als „Werkzeuge des Ausdrucks“ und nur zu dem Zweck verliehen seien, um unsre Gemütsbewegungen in der dem Menschen angebornen und nicht weiter erklärbaren Weise zu äußern. Th. Piderit, dessen Arbeiten als bahnbrechend auf diesem Gebiet anerkannt [640] sind, hat darauf die physiologischen und psychologischen Gesetze des Mienenspiels eingehend abzuleiten und die komplizierten Erscheinungen desselben auf einfache Prinzipien zurückzuführen gesucht („Grundsätze der M. und Physiognomik“, Braunschw. 1858; „M. und Physiognomik“, 2. Aufl., Detmold 1886). Da alle Vorstellungen aus Sinnesempfindungen abstrahiert sind und in ihnen wurzeln, so werden lebhafte Vorstellungserregungen (Affekte) von reflektorischen, nicht zum klaren Bewußtsein kommenden, sinnlichen Mitempfindungen begleitet, die sich durch unwillkürliche Bewegungen der zu den Sinnesorganen in Beziehung stehenden Muskeln, also hauptsächlich der Gesichtsmuskeln, zu erkennen geben. Alle mimischen Bewegungen beziehen sich entweder auf imaginäre Sinnesempfindungen oder auf imaginäre Objekte. Die durch angenehme Vorstellungen veranlaßten Gesichtsmuskelbewegungen sind derart, als sollte durch sie die Aufnahme sympathischer (angenehmer) Sinneseindrücke erleichtert und unterstützt werden; die durch unangenehme Vorstellungen verursachten sind derart, als sollte dadurch

Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3.
Beispiele der Mimik.

die Aufnahme disharmonischer (unangenehmer) Sinneseindrücke abgewiesen oder erschwert werden. Beispielsweise wird durch Abwärtsziehen der Augenbrauen die Stirnhaut in senkrechte Falten gelegt (eine Bewegung, welche dazu dient, die Augen zu beschatten und das Schließen derselben vorzubereiten) nicht nur bei unangenehmen Lichtempfindungen, sondern auch bei unangenehmen Vorstellungen als Ausdruck des Zorns, der Verstimmung etc. (Fig. 1). Die Augen werden aufgerissen und infolgedessen die Augenbrauen nebst der horizontal gefalteten Stirnhaut in die Höhe gezogen, nicht allein, wenn die Aufmerksamkeit durch sichtbare Gegenstände, sondern auch, wenn sie durch Vorstellungen (imaginäre Objekte) lebhaft erregt ist: Ausdruck der Überraschung und Verwunderung oder auch, in abgeschwächter Form, angestrengter und anhaltender Aufmerksamkeit (Fig. 2). Um bei unangenehmen (bittern) Geschmacksempfindungen eine Berührung der schmeckenden Zungenoberfläche mit dem Gaumengewölbe zu vermeiden, wird der Mund aufgesperrt und zugleich, durch Aufwärtsziehen der Oberlippe, diese von der Unterlippe möglichst entfernt. Sehr unangenehme (bittere) Vorstellungen geben sich deshalb durch eine Spannung des Oberlippenhebers zu erkennen. Kombiniert mit horizontalen Stirnfalten zeigt dieser mimische Ausdruck, daß die Aufmerksamkeit des Menschen dauernd auf bittere Vorstellungen und Erinnerungen gerichtet ist (Fig. 3). Auf solche einfache Grundzüge, die sich in mannigfachster Weise zusammenstellen und gegenseitig modifizieren können (hauptsächlich durch den Blick, d. h. die Bewegungen der Augäpfel), lassen sich die meisten mimischen Ausdrucksweisen zurückführen, ähnlich wie die unendliche Fülle musikalischer Modulationen auf die wenigen einfachen Töne der Oktave. Die Resultate seiner mimischen Untersuchungen hat Piderit auch zur Begründung einer wissenschaftlichen Physiognomik (s. d.) benutzt. Damit war aber die Entstehung und Gleichmäßigkeit aller mimischen Bewegungen noch keineswegs erklärt. Denn wenn sich auch begreifen läßt, daß das „süße und saure Gesicht“ seit früher Kindheit (vom Vergnügen des Säuglings her, wie E. Darwin sagte) gleichmäßig zum Ausdruck der betreffenden Geschmacksempfindungen wie der entsprechenden angenehmen und unangenehmen seelischen Empfindungen diente, so sind damit andre mimische Formen nicht zu erklären. Es ist das Verdienst Ch. Darwins, bewiesen zu haben, daß gewisse Grundlagen der M. (vermutlich aus ähnlichen Muskel-Associationen entwickelt) schon bei den höhern Tieren vorkommen, wie wir z. B. bei Hunden sehr wohl im stande sind, ein vergnügtes und mürrisches Gesicht zu unterscheiden, ein Kichern auch bei den Affen vorkommt etc. Viele Tiere drücken z. B. Wut und Haß durch Entblößen der Zähne, sei es in ganzer Reihe (Grinsen) oder durch bloßes Entblößen der Eckzähne infolge eines seitlichen Emporziehens der Oberlippe, aus. Da der Mensch seine Zähne doch nur noch höchst selten als Waffen im Kampf benutzt, so muß dieses „Zähneweisen“ in der Wut, welches er mit dem Tier gemein hat, wohl aus Zuständen früherer Wildheit und Abstammung hergeleitet werden, und ebenso verhält es sich mit manchen andern mimischen Äußerungen, die ohne diese Annahme völlig sinnlos erscheinen. Während aber viele Äußerungen der M. auf so natürlichen Muskel-Associationen beruhen, daß sie sogar vererbt werden, scheinen andre, wie das verächtliche Hervorstrecken der Zunge, Kopfnicken und Kopfschütteln, nur konventionelle Äußerungen und Abkürzungen naheliegender Gebärden zu sein, z. B. das Kopfnicken eine Abkürzung der Verneigung, die ihrerseits eine Abkürzung des Niederwerfens ist. Der Nachahmungstrieb (s. d.) thut dann das Seinige, solche Gebärden festzuhalten, denn jede M. wirkt, wie vom Lachen bekannt, „ansteckend“. Vgl. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (4. Aufl., Stuttg. 1884); Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (3. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.).