MKL1888:Phrasierung
[29] Phrasierung nennt man die deutliche Gliederung musikalischer Gedanken durch den Vortrag. Gut phrasieren ist eine schwere Kunst, weil unsre Notenschrift, wie sie heute ist, besonderer Zeichen für die Phrasengrenzen und Motivgrenzen entbehrt; als solche hat neuerdings (1882) H. Riemann den jetzt zur Anzeigung des Legatovortrags gebrauchten Bogen (für die Phrase) und einen kleinen, eine Linie des Liniensystems durchschneidenden Strich, das Lesezeichen (für die motivische Untergliederung), vorgeschlagen und in seinen „Phrasierungsausgaben“ angewandt. Bisher hat das Verlangen nach Anhalten für die P. dazu geführt, daß man die Legatobogen nach Möglichkeit so führte, daß sie wenigstens nicht aus einer Phrase in die andre übergriffen; so besonders bei H. v. Bülow, I. Faißt, S. Lebert und H. Scholtz. Die traditionellen Bogen der Klassikerausgaben sind notorisch auch für Klaviermusik meist in einer Ordnung disponiert, die nur für Streichmusik korrekt wäre (vgl. Bogenführung). Eine radikale Reform mit gänzlicher Beseitigung des Legatobogens kann keine großen Ungelegenheiten schaffen, da man Legatovortrag überall als verlangt anzunehmen gewohnt ist, wo nicht Stakkatopunkte das Gegenteil bestimmen; die Bindung der Grenznote einer Phrase an die Anfangsnote der folgenden ist durch einen Tenutostrich (_) über der Schlußnote anzuzeigen. Die Bezeichnung der Phrasengrenzen ist darum von großer Bedeutung, weil sie der dynamischen und agogischen Schattierung die Wege weist. Die Trennung der Phrasen erfordert einen kleinen Zeitverlust; die Anfangsnoten der Motive und Phrase erhalten mehr oder minder starke Accente (s. Takt und Ausdruck). Vgl. Riemann, Musikalische Dynamik und Agogik (Hamb. 1884).