Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Phänologie“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 982984
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Phänologie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 982–984. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Ph%C3%A4nologie (Version vom 09.04.2024)

[982] Phänologie (griech.), die Wissenschaft von der Abhängigkeit der verschiedenen Entwickelungsstufen im Pflanzen- und Tierleben von den klimatischen Verhältnissen. Die ersten phänologischen Beobachtungen wurden von Linné angestellt; er schlug vor, aus diesen und klimatologischen Beobachtungen einen Pflanzenkalender für verschiedene Orte zu entwerfen und die Abhängigkeit der Pflanzenentwickelung von den klimatischen Verhältnissen zu bestimmen. Infolge seiner Anregung fanden die phänologischen Beobachtungen anfänglich eine weite Verbreitung, bald aber trat ein Stillstand ein, und erst Quételet gelang es, an etwa 80 Orten in den verschiedensten Ländern Europas Beobachter zu gewinnen, deren Aufzeichnungen veröffentlicht wurden, so daß er bereits über eine größere Zahl von vieljährigen Beobachtungsreihen (die längste für Brüssel umfaßte 34 Jahre) verfügte. Quételet führte den Namen P. ein und entwarf eine Instruktion zur Anstellung derartiger Beobachtungen. Sein Streben, eine internationale Instruktion zu vereinbaren, ist trotz mehrfacher Anregung auch bis heute nicht in Erfüllung gegangen. Nach Quételet traten später auch Göppert, Fritsch und namentlich Hoffmann in Gießen für eine größere Verbreitung von phänologischen Beobachtungen ein. Fritsch entwarf 1853 seine erste Instruktion, die später zwar mehrfach vereinfacht wurde, in der aber bereits besonderes Gewicht auf die Beobachtung der ersten Blüte und der ersten Fruchtreife gelegt war. In der neuesten Zeit gewannen in Deutschland die phänologischen Beobachtungen dadurch wesentlich an Verbreitung, daß der Verein deutscher forstlicher Versuchsanstalten 1884 eine Instruktion für forstlich-phänologische Beobachtungen aufstellte und beschloß, derartige Beobachtungen an einer [983] größern Anzahl von Oberförstereien ausführen und deren Resultate in besondern Jahresberichten (erster Bericht Berl. 1886) veröffentlichen zu lassen.

Ebenso wie Fritsch und Hoffmann (Gießen) die phänologischen Beobachtungen in Verbindung mit Temperaturverhältnissen bearbeitet haben, war bereits Dove in seiner Arbeit über den Zusammenhang der Wärmeveränderungen der Atmosphäre mit der Entwickelung der Pflanzen von der Thatsache ausgegangen, daß Jahre des Mißwachses sich im allgemeinen durch eine länger anhaltende Temperaturerniedrigung unter die mittlere Wärme des jedesmaligen Beobachtungsorts auszeichnen, und hatte die Frage erörtert, ob die Temperatur der obern Bodenfläche mit der der Luft in ihren periodischen und nichtperiodischen Änderungen gleichen Schritt hält, und in welcher Weise die Erdschichten, in welche die Wurzeln der Pflanzen mehr oder weniger tief eindringen, von den Anomalien affiziert werden, welche die Luftwärme eines bestimmten Jahrs oft so bedeutend von der eines andern unterscheiden. Überhaupt steht die Verbreitung der verschiedenen Pflanzenformen auf der Oberfläche der Erde mit der Verteilung der Wärme im innigsten Zusammenhang, und der periodische Verlauf des Pflanzenlebens geht Hand in Hand mit den Wärmeverhältnissen der jährlichen Periode, so daß das frühere Erwachen des Pflanzenlebens ebenso durch eine zeitigere Wärmeentwickelung hervorgerufen wird wie ein Zurückbleiben desselben durch verminderte Luftwärme.

Über die Art und Weise, wie man sich den Zusammenhang zwischen Wärme und Vegetation zu denken hat, herrschen vorläufig noch verschiedene Ansichten, von denen keine als unumstößlich richtig anerkannt ist. Der Behauptung, daß eine Pflanze bei einer bestimmten Temperatur in ein bestimmtes Stadium der Entwickelung tritt, ist die Ansicht gegenübergestellt, daß dieses Stadium von einer bestimmten Wärmesumme abhängig ist. Auch ist behauptet, daß die Summe der Quadrate der mittlern Tagestemperatur für jede Phase der Entwickelung gleich groß ist, oder daß die Summe der positiven mittlern Tagestemperaturen ein und denselben Bruchteil der ganzen jährlichen Wärmesumme bildet, oder endlich, daß jeder Entwickelungsphase eine und dieselbe Summe der täglichen positiven Maximatemperaturen eines in der Sonne hängenden Thermometers entspricht. Außerdem ist noch zu bemerken, daß zwar allgemein die Wärme als eine Hauptursache für die Verbreitung einer gewissen Pflanzenart anerkannt wird, daß aber außer ihr noch die Feuchtigkeit der Luft und des Bodens, die geognostische Beschaffenheit des Standortes und die direkte Einwirkung des Sonnenlichts auf den Vegetationsprozeß zu berücksichtigen sind. Welcher Anteil an dem Gesamtresultat diesen einzelnen Bedingungen zuzuschreiben ist, kann nur empirisch bestimmt werden.

Ein ziemlich einfaches Verhältnis tritt in den tropischen Gegenden ein, in denen sich die mittlere Wärme eines Jahrs nur unerheblich von der eines andern unterscheidet, während die Menge des herabfallenden Regens in den verschiedenen Jahren sehr verschieden ist. Reiche Ernten und Mißwachs sind hier die Folge dieser Unterschiede im Niederschlag. In der gemäßigten Zone sind dagegen die Feuchtigkeitsverhältnisse im ganzen ziemlich gleichbleibend, und nur die äußersten Extreme wirken hier schädlich. Daher bildet in diesen Gegenden die Wärme das Hauptmoment, und da die Temperatur einzelner Jahre die erheblichsten Unterschiede zeigt und jede Pflanze zu ihrer Entwickelung einer bestimmten Wärme und einer bestimmten Feuchtigkeit bedarf, so wird ihr Gedeihen, wenn dem einen Bedürfnis, wie in der gemäßigten Zone dem der Feuchtigkeit, in der Regel genügt wird, nur von dem veränderlichen Element, hier der Wärme, abhängen. Eine Vergleichung darüber, ob anomale Wärmeverhältnisse auch entsprechende Anomalien in der Entwickelung der Vegetation hervorrufen, hat sich im allgemeinen bestätigt gefunden; jedoch liegen für die wenigsten Orte phänologische Beobachtungen für eine hinreichend große Anzahl von Jahren vor, um die Zeit für das Eintreten bestimmter Entwickelungsphasen bestimmen zu können. Ebenso wie die abweichenden Temperaturverhältnisse nicht auf kleine Gebiete beschränkt sind, finden sich auch die Abweichungen der Vegetationserscheinungen, weil sie von jenen abhängen, nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt, sondern zeigen über ein größeres Gebiet eine allgemeine Verbreitung.

Der Einfluß, welchen die klimatologischen Verhältnisse auf das Gedeihen der Pflanzen ausüben, spielt eine Hauptrolle bei allen Fragen, welche sich auf die Akklimatisation der Pflanzen beziehen. Im allgemeinen geht die Fähigkeit, die verschiedenen Stadien der Entwickelung der dem Standort zukommenden Wärmesumme anzupassen, von der Pflanze auf den Samen über, und daher werden im Norden oder in Gebirgen, überhaupt in kältern Gegenden erzeugte Pflanzen, nach Süden oder in die Ebene, d. h. in wärmere Gegenden, verpflanzt, den hier erzeugten voreilen und umgekehrt. Jede Pflanzenart hat für ihre Verbreitung eine nördliche und eine südliche Grenze, und diese beiden bestimmen die obere und untere Wärmesumme, der die betreffende Pflanzenart ihren Organismus noch anzupassen im stande ist. Ähnliche Verhältnisse treten auch in Bezug auf die Feuchtigkeit auf, und daher wird da, wo von den beiden Hauptfaktoren für das Gedeihen der Pflanzen, der Wärme und der Feuchtigkeit, es die Wärme ist, deren periodische Gewähr zur Sparsamkeit mahnt, sich das ganze Leben der Pflanze dem Verlauf der Wärme anpassen, wie im Norden und im gemäßigten Klima; wo es aber die Feuchtigkeit ist und die Frage nach Wärme wegen ununterbrochener Gewährung derselben zurücktritt, wird es sich an die Periode der Feuchtigkeit anlehnen, und wo endlich das Klima mit beiden zugleich Sparsamkeit erfordert, wird die Pflanze im Lauf der Jahresperiode beiden Anforderungen möglichst entsprechend zu vegetieren suchen, wie z. B. in den Steppen Südrußlands. Die Resultate der phänologischen Beobachtungen sind von Hoffmann und Ihne mehrfach kartographisch dargestellt. Entweder ist auf der Karte das Eintreffen einer bestimmten Jahreszeit, wie z. B. des Frühjahrs, in der Weise angegeben, daß ersichtlich gemacht ist, wieviel Tage die betreffenden Blüten an den verschiedenen Orten früher oder später als die Aprilblüten in Gießen auftreten, oder es ist angegeben, zu welcher Zeit das Aufblühen einer bestimmten Frühlingspflanze, wie z. B. von Syringa vulgaris, eintritt. Außerdem ist auch für einzelne Pflanzen, für welche die Beobachtungen schon zahlreich genug vorlagen, auf der Karte aufgezeichnet, um wieviel Tage dieselben früher oder später aufblühen als in Gießen. Derartige Karten sind entworfen für Prunus spinosa (Schlehe), Prunus Padus (Traubenkirsche), Pirus Malus (Apfelbaum) und Pirus communis (Birnbaum).

Endlich ist noch zu erwähnen, daß die phänologischen Beobachtungen auch auf einige periodisch wiederkehrende Erscheinungen im Tierleben ausgedehnt [984] werden. So ist der Durchzug der Zugvogel, die Rückkehr des Storchs und der Hausschwalbe, der erste Gesang der Lerche, der Nachtigall, der erste Ruf des Kuckucks etc. abhängig von den klimatischen Verhältnissen. Vgl. Hoffmann, Vergleichende phänologische Karte von Mitteleuropa (in „Petermanns Mitteilungen“ 1881); Derselbe, Resultate der wichtigsten pflanzenphänologischen Beobachtungen (Leipz. 1885).