MKL1888:Pflanzenwachstum

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Pflanzenwachstum“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 966969
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Pflanzenwachstum. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 966–969. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Pflanzenwachstum (Version vom 07.04.2024)

[966] Pflanzenwachstum. Unter Wachstum eines Organismus ist eine durch Stoffzunahme bedingte, von innen heraus erfolgende Volumvergrößerung zu verstehen, die sich in der Regel auch in Gestaltveränderung äußert. Ein Kristall wächst nur durch Auflagerung neuer Stoffteilchen an seiner Oberfläche und erreicht, solange die äußern Wachstumsbedingungen fortdauern, niemals eine bestimmte Grenze der Volumvergrößerung. Von dem sonst ähnlichen Wachstum der Tiere unterscheidet sich das der Pflanzen vorzugsweise dadurch, daß jene im ausgewachsenen Zustand nur fertig ausgebildet Organe besitzen, während letztere meist neben fertig ausgebildeten Teilen noch die Anfänge neuer Organe, die sogen. Vegetationspunkte, trägt, welche das Wachstum derselben Pflanze unter Umständen während sehr langer Zeiträume ermöglichen. Jedes wachsende Pflanzenorgan befindet sich anfangs in einem embryonalen Zustand, in welchem die notwendigen Baustoffe disponibel gemacht und vorzugsweise das Zellnetz angelegt wird; dann folgt eine Periode der Streckung, in welcher das Organ seine endgültige Größe und Gestalt annimmt, schließlich eine Phase der innern Ausbildung, während welcher seine Elemente in den Dauerzustand (Dauergewebe) übergehen.

Morphologische Beziehungen des Wachstums. Die Abhängigkeit des Wachstums von den Zellteilungen des embryonalen Gewebes ist keine absolute, da es auch einzellige Pflanzen, wie die Meeresalge Caulerpa, gibt, welche an einem kriechenden, an der Spitze fortwachsendem Hohlschlauch auf der Oberseite blattähnliche und auf der Unterseite wurzelähnliche Ausstülpungen hervorbringen. Das Wachstum der mehrzelligen Pflanzen dagegen [967] geschieht entweder in der Art, daß eine einzelne an der Spitze des ganzen Organismus oder des einzelnen Organs vorhandene Zelle (Scheitelzelle) sich fortgesetzt teilt und die Teilprodukte (Segmente) in gesetzmäßiger Weise die einzelnen Organe oder Organpartien zur Anlage bringen, wie bei sämtlichen Kryptogamen und in besondern Fällen auch bei Phanerogamen, oder dadurch, daß an der Spitze des Organs eine Gruppe ziemlich gleichartiger Zellen (Meristemzellen) nach bestimmten Teilungsgesetzen sich vermehrt. Als allgemeine Regel gilt dabei, daß die Richtung der Zellteilungen nur von der Wachstumsrichtung und der Gestalt des Organs, jedoch nicht von seiner morphologischen Natur abhängt, indem die neu auftretenden Teilungswände fast ausnahmslos senkrecht zu den schon vorhandenen auftreten. Aus diesem einfachen, zuerst von Sachs aufgestellten Prinzip lassen sich selbst die so kompliziert erscheinenden Zellnetze von Stengel- und Wurzelspitzen auf ein einfaches Schema zurückführen. Diejenigen Zellwandrichtungen, welche dem Umfang des Organs parallel sind, werden als Periklinen, diejenigen dagegen, welche nach dem Umfang hin gerichtet sind oder ihn schneiden, als Antiklinen bezeichnet; beide Richtungen bilden in den meisten Stamm- und Wurzelscheiteln zwei Systeme sich rechtwinkelig schneidender konfokaler Parabeln oder Hyperbeln. Die Vegetationspunkte der blattbildenden Sprosse und der Wurzeln sind insofern grundverschieden, als das Embryonalgewebe der letztern von einer Schutzschicht, der Wurzelhaube, bedeckt wird; neue Wurzelvegetationspunkte werden ferner immer nur innerhalb andrer Gewebe (endogen), nie an freien Vegetationspunkten (exogen), wie die Blätter und Sprosse, angelegt. Die spezielle Umrißform des Vegetationspunktes hängt von der Art des zu bildenden Organs ab; gewöhnlich hat er die Form eines parabolischen Kegels; soll ein flaches Organ sich bilden, so verflacht er sich zu einem Hügel oder einer Scheibe; nicht selten senkt sich der Vegetationspunkt auch napfförmig ein, wie besonders bei der Anlage von Blüten. Entweder kann sich ein ganzer Vegetationspunkt in ein Organ verwandeln, oder er besitzt unbegrenztes Wachstum und erzeugt unterhalb seines Scheitels fortgesetzt höckerartige Aussprossungen, deren jüngere jedesmal dem Scheitel näher stehen als die ältern (akropetale Entstehung). Die oberflächlichen Auswüchse sind entweder Blätter oder neue Sproßvegetationspunkte, durch welche die Verzweigung eingeleitet wird. Die Blattanlagen nehmen meist nur einen Teil des Scheitelumfangs ein, können jedoch auch eine volle Querzone desselben in Anspruch nehmen, wodurch eine die Sproßachse umfassende Scheide, wie am Blatte der Gräser, der Knötericharten und vieler Aroideen, entsteht. Die Verzweigung wird dadurch, daß die Sproßanlagen in der Achsel von Blatthöckern auftreten, zu einer axillären; es können jedoch auch, wie bei den Blütenständen der Kruciferen und bei vielen Gefäßkryptogamen, Sprosse außerhalb von Blattachseln auftreten; andernfalls kann sich ein Vegetationspunkt in zwei gleichwertige neue teilen, wie an den Sprossen der Lykopodien (Dichotomie). Die endogene Entstehung von Sproßanlagen ist in allen genau untersuchten Fällen nur eine scheinbare, indem die exogen entstandenen Vegetationspunkte nachträglich von dem Gewebe des Hauptsprosses eingehüllt werden. Außer dem embryonalen Gewebe am Stamm- und Wurzelscheitel verharren bei den mit Dickenwachstum begabten Pflanzen auch weiter rückwärts gelegene Schichten (Kambium) in teilungsfähigem Zustand, durch welche ein sekundärer Zuwachs in der Querrichtung vermittelt wird. Gleichzeitig finden in diesen Schichten auch die endogen entstehenden Nebenwurzeln ihren Ursprung. Schließlich können neue Vegetationspunkte auch aus Dauergewebe an beliebigen Stellen der Pflanze hervorgehen (Adventivbildungen), indem gewisse Zellen desselben von neuem Teilungsprozesse einleiten; es findet dies besonders bei der Wurzelbildung aus Blättern oder beliebigen Sproßachsen, ferner bei der Bildung der sogen. Brutknospen, z. B. an Blättern von Cardamine, Bryophyllum calycinum und von Farnen, statt.

Stellungs- und Symmetrieverhältnisse wachsender Organe. Wachsende Pflanzenorgane zeigen in der Regel einen Gegensatz zwischen der Basis, mit welcher sie aus ihrem Träger entspringen, und einem frei beweglichen Scheitel; verbindet man die organischen Mittelpunkte aufeinander folgender Querschnitte eines Organs durch eine Linie, so erhält man die Wachstumsachse. Längs derselben können sich dieselben Organbildungen als Folgeglieder (Metameren) wiederholen, wie z. B. an blattbildenden Sprossen die Internodien. Nach dem Bauplan der Querschnittsfläche eines Organs lassen sich drei verschiedene Typen unterscheiden. Radiär gebaut sind diejenigen Organe, bei welchen auf dem Querschnitt 3, 4 oder mehr Radialrichtungen die gleiche Organisation aufweisen wie die Hauptwurzeln und senkrecht wachsenden Sproßachsen. Bilateral sind solche, bei denen zwei zu einander symmetrische Hälften vorhanden sind, wie z. B. bei einem mit zwei gegenüberliegenden Blattreihen besetzten Sproß. Bei dem dorsiventralen Typus endlich tritt quer zur Wachstumsachse ein scharfer Gegensatz zwischen Ober- und Unterseite auf; diesem Typus gehören viele horizontal kriechende Sprosse an, welche oberseits Blätter und Seitenachsen, unterseits Wurzeln erzeugen, ferner die meisten Blätter, auch einige Blütenstände, wie die Wickel der Borragineen, die zu den Wasserfarnen gehörige Pilularia u. a. Mit dem radiären oder dorsiventralen Bau hängt aufs engste die Art und Weise zusammen, mit der sich unter Einwirkung äußerer Kräfte, wie Schwerkraft, Licht etc., das Organ gegen den Horizont richtet (s. unten). Ferner wird aber auch die Anordnung der Blätter und Seitensprosse durch diese verschiedenen Typen bestimmt. So erzeugen radiäre Organe quirlig oder spiralig gestellte Blätter, während sich die ein- oder zweireihige Blattanordnung an dorsiventralen Sprossen nicht auf spiralige Anordnung zurückführt läßt. Die Anschauungen der ältern morphologischen Schule über die Bedeutung der Spiralstellung sind überhaupt als zu idealistisch zu betrachten, da die sogen. Divergenz (s. Blatt, S. 1012 f.) durch mechanische Ursachen, besonders durch den Druck der jüngern Blattorgane und des Mutterorgans, zu stande kommt.

Allgemeine Ursachen des Wachstums. Die Form eines wachsenden Pflanzenorgans wird von der neuern Botanik nicht als bloß thatsächlich gegeben, sondern als ursachlich bedingt betrachtet; nur hat es große Schwierigkeiten, diese Ursachen im speziellen aufzufinden. Der Nachweis, daß das Wachstum eines Organs mit dem eines zweiten ursachlich verknüpft ist, läßt sich bisweilen leicht führen. Schneidet man z. B. an einer wachsenden Kartoffelpflanze vor Beginn der Knollenbildung die oberirdischen Teile fort, so verwandeln sich die Endknospen der unterirdischen fadenförmigen Ausläufer, statt in Knollen, in Laubsprosse, welche sich aufrichten [968] und über die Erde treten. Hieraus darf man schließen, daß in dem Wachstum der oberirdischen Laubsprosse eine korrelate Ursache für das Auftreten unterirdischer Knollen liegt. Ebenso wird eine Korrelation zwischen Haupt- und Seitensproß dadurch deutlich, daß bei Entfernung des Gipfeltriebes, z. B. an einer Edeltanne, einer der ursprünglich horizontal gerichteten und bilateral gebauten Seitensprosse sich zuletzt vertikal stellt und radiär wird. Entlaubt man junge, im Austreiben begriffene Zweige des Faulbaums und entfernt gleichzeitig die Gipfelknospe, so wachsen die im normalen Zustand erst zur Entfaltung im nächsten Frühjahr bestimmten Achselknospen zu Laubsprossen aus, und die sonst zu Knospenschuppen reduzieren Blattanlagen werden normale Blätter. Die gegenseitig Korrelation der Pflanzenorgane zeigt sich auch in der Art, wie die Pflanze ihre gesamten Organisationsverhältnisse nach ihrem Assimilationsapparat, d. h. nach den Eigenschaften des Chlorophylls (s. d.), einrichtet, indem die Gesamtform der höhern Pflanzen von dem Prinzip beherrscht wird, an relativ dünnen Trägern möglichst zahlreiche, dünne und große Flächenorgane (Blätter) zu entwickeln, um eine möglichst günstige Ausnutzung der Lichtstrahlen zu erreichen; die Assimilationsarbeit bedingt dann in weiterer Folge behufs Leitung von Wasser und Nährstoffen die Entwickelung von Holz und von Wurzeln. Auf die erblich gegebenen Eigenschaften der Pflanzenorgane wirken beständig äußere Kräfte ein, welche ihre Gestaltung beeinflussen. Bekannte Beispiele dafür liefert die Wurzelbildung an Epheusprossen an deren Schattenseite, wenn die Zweige auf ihrer bisher nicht beleuchteten Seite dem Licht ausgesetzt werden. Die dorsiventral gebauten Vorkeime der Farne erzeugen normal ihre Wurzelhaare und Geschlechtsorgane nur auf der Unterseite; wendet man dieselben aber um, so bilden sich die letztern auf der neuen Schattenseite.

Auch in den flachen Sprossen der Marchantia wird der dorsiventrale Bau durch Beleuchtung erzeugt; zieht man dieselben aus Brutknospen und läßt auf diese das Licht von untenher fallen, so entstehen Wurzelhaare auf der vom Licht abgewendeten Oberseite und Spaltöffnungen an der Unterseite, während sich die normal beleuchteten Flachsprosse umgekehrt verhalten. Auch das Etiolieren der Stengel und Blätter bei Lichtmangel zeigt deutlich den Einfluß äußerer Kräfte auf die Organgestaltung (s. Etiolement).

Wachstumsgeschwindigkeit. Die Längenzunahme eines wachsenden Pflanzentriebes erfolgt in der Art, daß jede kurze Querscheibe desselben zuerst langsam, dann schneller wächst und darauf ein Maximum der Geschwindigkeit eintritt, worauf letztere sich wieder verlangsamt und zu Null herabsinkt (große Wachstumsperiode). Die am stärksten wachsende Region einer Wurzel oder Sproßspitze liegt immer in einem gewissen Abstand vom Vegetationspunkt. Derselbe beträgt z. B. an Keimwurzeln von Vicia Faba 2–3 mm. Die Länge der überhaupt im Wachstum begriffenen Partie ist je nach den verschiedenen Fällen äußerst ungleich und schwankt zwischen einigen Millimetern bei Wurzeln und 50 cm oder mehr an langen Blütenschäften. Die wachsenden Wurzel- und Stengelspitzen werden mechanisch von den tiefern, im Wachstum begriffenen Querzonen vorwärts gestoßen. Wächst ein Organ auf einer Seite rascher als auf der andern, so entstehen Krümmungsbewegungen (Nutationen), welche unter anderm bei der Entfaltung der Blätter aus den Knospen sehr auffallend sind. Welchen Einfluß der Wechsel von Tag und Nacht auf das P. hat, ist keine eigentlich physiologische Frage, da während dieser Perioden die physikalischen Faktoren sich unregelmäßig verändern. Durch zahlreiche Versuche mit besondern Meßapparaten (Auxanometern) wurde ermittelt, daß in den wachsenden Pflanzenteilen, unabhängig von Temperatur- und Lichtschwankungen, periodische Änderungen von verschieden langer Dauer stattfinden. Im allgemeinen bewirkt ferner Beleuchtung eine verzögernde, Verdunkelung eine beschleunigende Wirkung auf das Wachstum; die stark brechbaren Strahlen des Spektrums sind, wie auch bei heliotropisch stark reizbaren Organen (s. Pflanzenbewegungen), die wirksamsten.

Wirkungen des Wachstums. Mit zunehmendem Wachstum einer Pflanzenzelle nimmt zugleich ihr Wassergehalt und damit auch der Druck auf die elastische Zellhaut, der sogen. Zellturgor, zu; auch vielzellige Organe wachsen nur im turgeszenten Zustand und welken bei Wassermangel. Wachsen nun verschiedene neben- und übereinander liegende turgeszente Gewebe in ungleichem Maße, so entsteht zwischen ihnen ein Spannungsunterschied (Gewebespannung), welcher dadurch wahrnehmbar wird, daß sich die betreffenden Gewebe bei ihrer Isolierung entweder verkürzen, sofern sie vorher passiv gedehnt waren, oder verlängern, wenn sie früher an der Ausdehnung gehindert waren. Schneidet man aus einem kräftig wachsenden Sproß durch zwei parallele Längsschnitte eine Mittellamelle heraus, welche sämtliche Schichten von der Epidermis bis zum Mark enthält, und spaltet diese dann in der Weise in dünne Gewebestreifen, daß der erste die Epidermis, ein andrer das Rindengewebe, ein dritter das junge Holz etc. enthält, so krümmen sich diese Gewebestreifen sämtlich nach außen, weil die von außen nach innen aufeinander folgenden Schichten sämtlich auf der Außenseite längsgezerrt, auf der Innenseite dagegen an der Ausdehnung verhindert waren; die Epidermis ist demnach für alle innern Gewebe zu kurz. Ebenso findet im Innern der Pflanzenstengel auch eine Spannung in der Querrichtung statt. Die Gewebespannung bewirkt im Verein mit der Turgeszenz der Zellen die Steifheit und aufrechte Stellung vieler wachsender Organe.

Wachstumsrichtungen der Organe. Die Eigentümlichkeit der Pflanzenorgane, unter Einwirkung gleicher äußerer Kräfte ganz verschiedene Wachstumsrichtungen anzunehmen, wird als Anisotropie bezeichnet. Man unterscheidet in dieser Beziehung zweierlei Organe: die orthotropen Pflanzenteile wachsen senkrecht auf- oder abwärts, wie die Hauptsprosse und Hauptwurzeln der meisten Pflanzen; die plagiotropen Organe wachsen dagegen in horizontaler oder schräger Richtung und stellen ihre Flächen senkrecht zur Richtung des einfallenden Lichts, wie die horizontalen Sprosse, die meisten Blätter, die dem Boden dicht aufliegenden Thallusgebilde vieler Lebermoose und Flechten etc. In ihrem Bau zeigen die orthotropen Organe den radiären, die plagiotropen dagegen den dorsiventralen Typus; rollt sich dagegen ein plagiotropes Organ nach seiner Längsachse ein, so erscheint es radiär und reagiert auch als solches gegen die Wirkung des Lichts und der Schwerkraft. Die Frage, wie letztere beiden Kräfte in ihrer gegenseitigen Konkurrenz auf die Richtung der wachsenden Organe einwirken, gehört zu den interessantesten und schwierigsten Problemen der Pflanzenphysiologie. Gewisse Organe, z. B. Keimwurzeln, [969] können auch durch Feuchtigkeitsunterschiede in ihrer Richtung beeinflußt werden, was als Hydrotropismus bezeichnet wird. Mit den Wachstumsvorgängen hängen die Reizbewegungen der Pflanzen auf das engste zusammen (s. Pflanzenbewegungen).