Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Ostrumelien“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 554555
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Ostrumelien. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 554–555. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Ostrumelien (Version vom 29.10.2022)

[554] Ostrumelien, rechtlich eine Provinz des türk. Reichs (s. Karte „Türkisches Reich“) mit administrativer Autonomie, welche nach Art. 13–22 des Berliner Vertrags vom 13. Juli 1878 neu gebildet wurde und unter der direkten politischen und militärischen Autorität des Sultans, jedoch unter Verwaltung eines christlichen Generalgouverneurs stehen soll, faktisch aber seit dem Staatsstreich vom 18. Sept. 1885 mit Bulgarien vereinigt ist. O. umfaßt das Gebiet der obern Maritza und Tundscha, wird im N. vom Balkan, im Osten vom Schwarzen Meer, im W. von der Wasserscheide zwischen Maritza und Isker und im S. vom Despoto Planina, der Arda und weiter östlich von einer gebogenen, zu beiden Seiten des 42. Breitengrades verlaufenden Linie begrenzt. Nach dem oben erwähnten Abkommen erhält indessen die Türkei, solange die Verwaltung Bulgariens und Ostrumeliens von Einer Person geführt wird, die beiden an der Südgrenze liegenden, von einer technischen Kommission zu umgrenzenden Bezirke Kerdschalü (etwa 850 qkm groß mit 18–22,000 Einw.) und Rubdschuz (1150 qkm mit 10–12,000 Einw.) zurück, wodurch sich die türkische Grenze der Hauptstadt Philippopel bis auf 22 km nähert und das Areal Ostrumeliens von 35,901 auf 33,900 qkm, seine Bevölkerung von (1885) 975,030 auf ca. 940,000 Seelen sinkt. O. ist zum größten Teil eine von Gebirgen (Balkan, Sredna Gora und Tscherna Gora, welche dem Balkan parallel ziehen, und Despoto Planina) eingeschlossene Thalebene, an welche sich östlich Hügelland anschließt. Hauptflüsse sind Maritza mit Topolnitza, Giopsa, Tundscha und Arda. Das Klima ist gesund trotz der starken Kälte im Winter, der heißen Sommer und der nebeligen Herbste. Offiziell wird die Bevölkerung für 1885 zu 975,030 Personen (1880: 815,946, davon 411,601 männlichen und 404,345 weiblichen Geschlechts) angegeben. Die Dichtigkeit der Bevölkerung betrug 27 auf 1 qkm. Darunter waren 1885: 681,734 christliche Bulgaren, 200,498 Türken und mohammedanische Bulgaren, 53,028 Griechen, 27,190 Zigeuner, 6982 Juden, 1865 Armenier und 3733 Fremde. Nur bei den Juden übersteigt die Anzahl der Frauen diejenige der Männer; bei den andern bleibt sie hinter derselben, wenn auch nicht bedeutend, zurück. Das Schulwesen Ostrumeliens war bereits unter der Türkenherrschaft ziemlich entwickelt, hat aber nach Einrichtung der Autonomie einen großen Aufschwung genommen. 1881 besuchten schon zwei Drittel der schulpflichtigen Kinder den Unterricht, und es gab 1412 Elementarschulen mit 80,591 Schülern (davon 23,789 Mädchen), 21 Bürgerschulen, 2 Realschulen und 2 höhere Mädchenschulen. Die Thalebene ist ungemein fruchtbar und produziert Weizen, Hafer, Gerste, Hirse, Mais, Reis und Tabak (1883: 472,000 kg) in Fülle und guter Qualität, ferner Wein (1883: 290,000 hl) und Nüsse; doch ist ein beträchtlicher Teil des Landes noch unangebaut. Immerhin leisten die Bewohner Treffliches in Ackerbau, Rosenölbereitung und Gärtnerei. Die Seidenwürmerzucht ist gegen früher zurückgegangen, und allgemein wird über Verfall von Industrie und Handwerk geklagt. Reich ist O. dagegen an Wald. Der Handel ist meist in den Händen von Ausländern. Der Abbau der Mineralschätze (Kohle, Eisen etc.) hat noch nicht einmal begonnen. Rascher wird sich O. erst entwickeln, wenn es nach N. und W. Eisenbahnanschlüsse erhält; die beiden vorhandenen Linien Adrianopel-Sarambei und Tirnowa-Jamboli sind vorderhand nur Sackbahnen. Die Rechte des Sultans in O., wie Ernennung des Generalgouverneurs, das Halten von Truppen und Errichten von Befestigungen, Ernennung der Offiziere der Gendarmerie und Lokalmiliz, welcher die Aufrechterhaltung der innern Ordnung obliegt, stehen lediglich auf dem Papier. Ebenso ist der auf 240,000 türk. Pfund festgesetzte Tribut Ostrumeliens seit dem Bestehen der autonomen Provinz nie vollständig bezahlt worden.

O. ist in sechs Departements (Philippopel, Eski Zagra, Chasköi, Sliwen, Tatar-Bazardschik und Burgas) geteilt, welche wieder in 28 Kantone zerfallen; das größte Departement ist Philippopel mit ca. 187,000 Einw., das kleinste Burgas mit ca. 88,000. Den verschiedenen Verwaltungszweigen stehen sechs Direktoren vor, je einer für das Innere, die Justiz, die Finanzen, für Ackerbau, Handel und öffentliche Arbeiten und der Generalkommandant der Miliz und Gendarmerie. Die Provinzialversammlung bestand früher aus 56 Deputierten, deren Zahl nach dem bulgarischen Wahlgesetz (ein Deputierter auf je 10,000 Einw.) beträchtlich erhöht wird; sie soll jährlich zwei Monate in regelmäßiger Session tagen. Ebenso sind bereits in O. oder, wie es jetzt genannt wird, Südbulgarien fast alle Gesetze und Reglements des Fürstentums Bulgarien eingeführt; Gerichte, Militär und dessen Uniformen, Verwaltung sind hier wie dort gleich; zahlreiche Beamte und Offiziere sind aus O. nach Bulgarien und umgekehrt versetzt worden. Auch ist das Budget Ostrumeliens seit Februar 1886 mit dem Bulgariens in eins verschmolzen, das Geld ist in beiden Ländern jetzt das gleiche. Die Jahresabschlüsse des ostrumelischen Staatshaushalts ergaben meist einen kleinen Überschuß, der aber nur dadurch zu stande kam, daß der türkische Tribut nur teilweise bezahlt wurde. O. stellt nach den Bestimmungen von Anfang 1886 zwei von je einem Obersten befehligte Brigaden zu je zwei Infanterieregimentern (zu je 4000 Mann), einem Kavallerie- und einem Artillerieregiment, welche als 5. und 6. Infanteriebrigade bezeichnet werden. Die bis dahin bestehende Sappeurkompanie, die Kavallerieschwadron und die halbe Batterie Artillerie sollten gleichfalls bulgarischen Truppenkörpern einverleibt werden, und die Einrichtung eines regelmäßigen Traindienstes wurde beabsichtigt. Hauptstadt des Landes ist Philippopel.

[Geschichte.] Die Provinz O. wurde durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 geschaffen; durch diese Schöpfung sollte der südliche Teil Bulgariens, das Rußland im Frieden von San Stefano ganz als selbständigen [555] Staat beansprucht hatte, der Türkei erhalten und dem russischen Machtbereich entzogen bleiben. Doch zog sich die Organisation der neuen Provinz lange hin, da die Russen O. erst im Juli 1879 völlig räumten. Schon vorher aber war von einer europäischen Kommission ein organisches Verfassungsstatut für O. ausgearbeitet und von der Pforte genehmigt worden, die nun den Fürsten Vogorides als Aleko Pascha auf fünf Jahre zum Generalgouverneur ernannte; derselbe hielt 28. Mai 1879 seinen Einzug in Philippopel, ernannte fast nur Bulgaren zu Generalsekretären (Ministern) und Präfekten und regierte im Einverständnis mit Rußland ganz nach den Wünschen der bulgarischen Bevölkerung. Die erste Provinzialversammlung (Narodny Sobranje, aus 56 Deputierten bestehend) ward 3. Nov. 1879 eröffnet und verhielt sich gemäßigt. Dagegen betrieben die Turnvereine und die Milizen ganz ungescheut eine großbulgarische Agitation, deren Ziele die Vereinigung mit Bulgarien und die Erregung eines Aufstandes der Bulgaren in Makedonien waren. Dieselbe ward von den russischen Generalkonsuln Tscheretlew und Krebel begünstigt, vom türkischen Befehlshaber der Miliz, Strecker Pascha, vergeblich bekämpft. Aleko Pascha sah sich endlich auch genötigt, den Umtrieben der Russen entgegenzutreten und 1882 den persönlichen Verkehr mit dem Generalkonsul v. Krebel abzubrechen. Deshalb erhob Rußland 1884 gegen seine Wiederernennung Einspruch, worauf die Pforte den bisherigen Leiter des Justizdepartements in O., Chrestovitsch, als Gavril Pascha auf fünf Jahre zum Generalgouverneur ernannte. Derselbe, obwohl Bulgare und ein wohlwollender Mann, vermochte die Schwierigkeiten seiner Stellung nicht zu überwinden. Einerseits war er als türkischer Beamter der Pforte Gehorsam schuldig und durfte die Ausschreitungen der Bulgaren gegen die Türken nicht ungestraft lassen; auch verlangte die Pforte endlich Zahlung des schuldigen, aber nie gezahlten Tributs (240,000 Pfd.). Anderseits machte er sich durch sein Streben, seine Pflicht zu erfüllen, bei den Bulgaren unbeliebt und besaß nicht die Energie, sich Respekt zu verschaffen. Er wurde daher durch eine unblutige Revolution der Milizen 17. Sept. 1885 gestürzt; man verhaftete ihn und schaffte ihn über die Grenze, während gleichzeitig eine provisorische Regierung unter Stranski eingesetzt wurde. Diese proklamierte die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien, und Fürst Alexander erkannte dieselbe durch Erlaß vom 20. Sept. an; er nannte sich Fürst von Nord- und Südbulgarien. Die Pforte protestierte, schritt aber nicht mit Gewalt ein und ließ es geschehen, daß der Fürst sich in O. huldigen ließ, und daß ostrumelische Truppen am Krieg Bulgariens gegen Serbien teilnahmen. Sie übertrug die Regelung der Sache den Mächten, deren Gesandte in Konstantinopel zu diesem Zweck zusammentraten. Die Mächte würden die Union wohl gebilligt und die Verschmelzung der beiden Länder gestattet haben, wenn nicht Rußland aus Haß gegen den Fürsten Alexander Hindernisse in den Weg gelegt hätte. Das türkisch-bulgarische Abkommen vom April 1886 bestimmte daher bloß, daß Alexander auf fünf Jahre zum Generalgouverneur von O. ernannt, die Revision des organischen Statuts durch eine türkisch-bulgarische Kommission erfolgen und bis dahin die Verwaltung Ostrumeliens der Weisheit und Treue des Fürsten überlassen werden solle. Noch vor der Revision berief Alexander 14. Juni eine bulgarische Nationalversammlung nach Sofia und schickte sich an, mit derselben die völlige Union durchzuführen, als er selbst 21. Aug. gestürzt wurde und nach seiner Rückkehr abdankte. Die ostrumelischen Deputierten nahmen zwar an der im Herbst 1886 in Tirnowa zusammentretenden bulgarischen Sobranje u. der Wahl des Fürsten Ferdinand 1887 teil, u. die Union blieb thatsächlich bestehen, wie denn der Regent und Ministerpräsident Stambulow und andre bedeutende Beamte u. Offiziere in Bulgarien aus O. stammten. Doch ward die Union weder von der Pforte noch von den Mächten anerkannt. Vgl. Gopčević, Bulgarien u. O. (Lpz. 1886).