MKL1888:Nordpolarländer

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Nordpolarländer“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 225227
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Nordpolarländer. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 225–227. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Nordpolarl%C3%A4nder (Version vom 05.12.2024)

[225] Nordpolarländer (hierzu Karte „Nordpolarländer“), die innerhalb des Polarkreises gelegenen Länder, sowohl die den Festlandsmassen angehörigen als die von ihnen getrennten Inseln. Vom europäischen Festland gehören folglich dazu: Lappland und ein Teil Nordrußlands, vom asiatischen das ganze nördliche Sibirien, vom amerikanischen das ganze vom Arktischen Ozean bespülte Küstengebiet. Unter den Nordpolarinseln nimmt Grönland (s. d.) den ersten Rang ein. Zwar findet im Norden Grönlands den neuern Entdeckungen zufolge eine bedeutende Annäherung der Küsten statt, und nördlich von der Wrangellinsel wurden 1881: 731/2° nördl. Br. erreicht, ohne daß das geringste Anzeichen von Land bemerkt wurde; doch gaben einige Thatsachen der Vermutung Raum, daß sich im NW. der Parryinseln ein nicht unbedeutender Landkomplex befindet. Sollte dies sich bewahrheiten, so zerfiele der Arktische Ozean in zwei Becken, ein östliches, welches die Küsten von Europa und Asien bespült und durch die breite Meeresöffnung zwischen Norwegen und Grönland mit dem Atlantischen Ozean, und ein kleineres westliches Becken an der Nordküste Amerikas, welches durch die Beringsstraße mit dem Stillen Ozean, durch den Smithsund, Lancastersund und andre Meerengen mit der Baffinsbai in Verbindung steht. Bei der verhältnismäßigen Abgeschlossenheit desselben lassen sich die dort vorgefundenen Eismassen und die Schwierigkeit seiner Beschiffung wohl erklären; dringt doch nur ein wenig mächtiger Strom warmen Wassers durch die Beringsstraße in dasselbe ein, während in dem größern östlichen Becken der Einfluß des Golfstroms sich bis jenseit Spitzbergen und Nowaja Semlja fühlbar macht. Auch für die Abfuhr des während des Winters gebildeten Eises sind die Verhältnisse im östlichen Becken günstiger. Der zwischen Grönland und Spitzbergen nach S. gehende Meeresstrom dürfte nach einer sorgfältigen, von Dorst gemachten Berechnung jährlich über 3 Mill. qkm (55,000 QM.) Eis dem Atlantischen Ozean zutreiben, und mit Recht schließt dieser Forscher hieraus, daß zu Ende des Sommers im innern Polarmeer größere eisfreie Flächen entstehen müssen. Weit weniger günstig liegen die Verhältnisse im westlichen Becken. Dort staut sich das Eis, namentlich auch infolge der vorherrschenden Westwinde, in den engen Meeresstraßen auf; seine Abfuhr ist verhältnismäßig unbedeutend. Mit Einschluß von Island, aber ohne den Nordrand Europas, Asiens und Amerikas, berechnet man das Gesamtareal der N. auf 3,817,200 qkm (82,500 QM.). Die bedeutendern Inselgruppen im östlichen Polarbecken sind: 1) Spitzbergen, durch die Grönlandsee von Grönland getrennt; nördlich davon hat Parry 1827 die Breite von 82°45′ erreicht. 2) Nowaja Semlja, durch das Spitzbergen- oder Barentsmeer von Spitzbergen, durch die Karische Pforte von der Waigatschinsel und durch die Karasee von Sibirien getrennt. 3) Franz Joseph-Land, 1873 von der von Weyprecht und Payer geführten österreichischen Expedition entdeckt, ein vergletscherter Archipel, vom Austriasund durchschnitten; Payer erreichte hier eine nördliche Breite von 82°5′ u. sah dort Petermannland im Norden liegen. 4) Neusibirien, eine durch ein seichtes Meer vom Festland von Sibirien geschiedene Inselgruppe.

[Beilage]

[Ξ]

NORD-POLARLÄNDER
Maßstab 1 : 25 400 000

[226] 5) Wrangell-Land im Norden des Tschuktschenlandes, von dem es die Longstraße trennt, neuerdings als westöstlich gestreckte Insel erkannt. Teilweise sehr gründlich ist das im Norden Amerikas liegende, ohne Grönland etwa 1,150,000 qkm (21,100 QM.) große arktische Insellabyrinth untersucht worden. Abgesehen von Grönland, bilden diese Inseln vier Gruppen, von denen die zwei nördlichen von den südlichen durch eine Meerenge getrennt werden, welche fast ihrer ganzen Länge nach vom 74.° nördl. Br. durchschnitten wird und in ihren verschiedenen Teilen als Lancastersund, Barrowstraße, Melvillesund und Banksstraße bekannt ist. Die erste oder südwestliche Gruppe umfaßt Banksland (Baringinsel), Prinz Albert-, Wollaston- und Victorialand, welche eine einzige Insel bilden, und König Wilhelm-Land. Vom amerikanischen Festland werden diese drei Inseln durch eine Meerenge getrennt, welche an ihren engsten Stellen Dolphin- und Unionstraße, Deasestraße und Simpsonstraße genannt wird. Die Prinz Wales-Straße trennt Banksland von Prinz Albert-Land, die Victoriastraße das Victorialand vom König Wilhelm-Land und die James Roß-Straße letzteres von der Halbinsel Boothia Felix. Die Küsten dieser Inseln sind steil und stellenweise von tiefen Fjorden eingeschnitten. Grauwacke ist das vorherrschende Gestein, doch tritt auf Banksland die Kohlenformation in großer Ausdehnung auf, und auch tertiäre Bildungen kommen im äußersten Westen vor, wo versteinerte Bäume aufgefunden worden sind. Zahlreich finden sich Moschusochsen, Renntiere, Polarhasen und Vögel, und namentlich in der Nähe der Festlandsküste trifft man Eskimoniederlassungen. Die zweite Gruppe wird durch den Baffins-Archipel gebildet, welcher von der ersten Gruppe durch die Mac Clintockstraße, vom Parry-Archipel durch die Barrowstraße und den Lancastersund getrennt ist und östlich an die Baffinsbai und Davisstraße grenzt. Die westlichste dieser Inseln ist dem Prinzen von Wales zu Ehren benannt; östlich von ihr, jenseit Peelsund und Franklinstraße, liegt Nordsomerset, von der weit nach Norden vorspringenden Halbinsel Boothia durch die enge Bellotstraße getrennt. Prince Regent’s Inlet scheidet Nordsomerset von dem östlicher gelegenen eigentlichen Baffinsland, welches von zahlreichen, teilweise noch unerforschten Meeresarmen oder Fjorden (?) durchschnitten wird und in seinen verschiedenen Teilen Cockburnland, Nordayr, Nordgalloway, Cumberland, Foxland, Meta incognita etc. genannt wird. Die Fury- und Heklastraße trennt Baffinsland von der Melvillehalbinsel, der Foxkanal von der im nördlichen Teil der Hudsonbai gelegenen Insel Southampton. Die Küsten dieser Inselgebiete steigen schroff an; das Innere bildet eine Hochebene von 200 bis 250 m Meereshöhe, auf welcher sich Berge bis 670 m erheben. Fast das ganze Jahr hindurch bedecken Schnee und Eis das Land, und namentlich am Lancastersund reichen mächtige Gletscher bis ins Meer. Grauwacke und kristallinische Gesteine herrschen vor und sind stellenweise reich an Edelsteinen. Steinkohlen und Graphit gibt es auf Cumberland. Der Pflanzenwuchs besteht vorzugsweise aus Flechten, Moosen und Algen; unter den Phanerogamen sind Weiden häufig. Die Tierwelt ist vertreten durch das Renntier, den Moschusochsen, Eisbären, das Wolverene, den Wolf, Fuchs, das Hermelin, den Lemming, Polarhasen und zahlreiche Vögel. Das Meer ist reich an Walfischen und Seehunden, in deren Verfolgung die Walfischfahrer jetzt regelmäßig bis zu den Küsten Nordsomersets vordringen. Einzelne Eskimoansiedelungen trifft man an der Baffinsbai und anderswo. Die dritte obiger Inselgruppen bildet der Parry-Archipel, der sich vom obern Ende der Baffinsbai aus in westlicher Richtung bis 124° westl. L. v. Gr. erstreckt, und dessen Hauptinseln Norddevon, Grinnell-Land, Cornwallis, Bathurst, Melville und Prinz Patrick heißen, welch letztere im Kap Landsend endet. Von Norden nach S. werden diese Inseln vom Wellingtonkanal, dem Byam Martin-Kanal und der Fitzwilliamstraße durchschnitten. Mit Ausnahme von Norddevon und Cornwallis, wo Grauwacke und kristallinische Gesteine vorherrschen, gehören diese sämtlichen Inseln der Steinkohlenformation an; doch tritt vereinzelt auch die Juraformation auf. Einige der Berge steigen bis 600 m an. Das Land ist im allgemeinen öde, doch kommen auch fruchtbarere Bezirke vor, wo die Tierwelt zahlreich vertreten ist. Die vierte Gruppe endlich wird gebildet durch die westlich vom Smithsund gelegene Ländermasse (Nordlincoln, Ellesmere-, Grinnell- und Grantland). Ob wir es hier mit einer einzigen großen Insel oder mit einem von engen Meeresstraßen durchschnittenen Inselkomplex zu thun haben, ist noch festzustellen. Nur so viel weiß man, daß Kap Columbia (83°5′ nördl. Br.) den nördlichsten Punkt dieser Länder und somit (mit Ausschluß Grönlands) von ganz Amerika bildet. Markham, der 1876 auf dem Eis bis 83°20′26″ nördl. Br. vordrang, sah kein Anzeichen von Land im Norden. Im Innern dieses Landes erheben sich hohe Gebirge, und ungeheure Gletscher ergießen sich von ihnen aus ins Meer; an der Nordküste aber sind keine Gletscher entdeckt worden, und der Schneefall ist dort so gering, daß im Winter oft weite Strecken schneefrei sind. In der Nähe der englischen Winterquartiere (1875–76) sind Bisamstiere, Wölfe, Füchse, Hasen, Hermeline, Gänse, Eidervögel und Enten angetroffen worden. Auch den Schädel eines Eisbären hat man gefunden; doch scheint das Tierleben in dieser hohen Breite, wenigstens am Orte der Beobachtung, schon ziemlich spärlich zu sein. Die letzten Spuren von Eskimo fand man unter fast 82° nördl. Br.

Für Handel und Ackerbau sind diese arktischen Länder ohne alle Bedeutung; wohl aber bieten ihre Küsten den Walfischfängern und Robbenjägern eine reiche Beute, und bei fortgesetztem Studium ihrer Eisverhältnisse dürfte es gelingen, immer tiefer in dieselben einzudringen. Schon jetzt wagen sich die Walfischfänger jährlich in Gegenden, die noch vor wenigen Jahren für geradezu unzugänglich galten. Über die Temperaturverhältnisse bieten die folgenden Sommer- u. Wintertemperaturen einigen Aufschluß: Port Kennedy (Bellotstraße, 72°1′ nördl. Br.) +3,2 und −37,4° C., Port Foulke (Smithsund, 78°18′ nördl. Br.) +2,7 und −29,6° C., Floeberg Beach (Robesonkanal, 82°27′ nördl. Br.) +1,25 und −35° C., Mosselbai (Nordspitzbergen, 79°53′ nördl. Br.) +2,8 und −15,7° C., Werchojansk (Nordsibirien, 67°34′ nördl. Br.) +13,6° u. −47,3° C. Es geht aus diesen Angaben hervor, daß die größere oder geringere Polnähe in Bezug auf das Klima der einzelnen Örtlichkeiten nicht allein maßgebend ist, daß vielmehr der Unterschied zwischen ozeanischen und kontinentalen Klimazuständen sich bis in die unmittelbar Umgebung des Nordpols erstreckt. Die meteorologischen und magnetischen Verhältnisse der Polargegenden werden von den 1882 zum erstenmal in Thätigkeit getretenen internationalen Beobachtungsexpeditionen auf das sorgfältigste untersucht. Vgl. Müller, Die Polarwelt (Sondersh. 1858); Richardson, [227] The Polar regions (Edinb. 1861); Blake, Arctic experiences (Lond. 1874); Hayes, Das offene Polarmeer (a. d. Engl., Jena 1868).