Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Naturgefühl“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 1112
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Naturgefühl. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 11–12. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Naturgef%C3%BChl (Version vom 24.04.2023)

[11] Naturgefühl, die Empfänglichkeit für das Schöne, Erhabene und die verborgene Gesetzmäßigkeit der Natur, welche bei den einzelnen Völkerstämmen und in verschiedenen Zeitepochen den mannigfachsten Wandlungen und Kultureinflüssen unterliegt. Man hat in neuerer Zeit behauptet, daß das N. eine neuere Errungenschaft und ein Erbteil des germanischen Geistes sei, welches den Romanen und andern Stämmen mehr oder weniger abgehe; doch zeigt schon eine geringe Vertiefung in die Weltlitteratur, daß diese Ansichten unhaltbar sind, und wenn z. B. die Alpenlandschaft erst seit wenigen Jahrhunderte Besucher anzieht, so haben die verbesserten Wege und gewisse Kulturbedürfnisse ihren wesentlichen Anteil dabei. Bereits in der Dichtung Altindiens, namentlich aber bei Kalidasa, spricht sich ein überaus lebhaftes N. aus, das Buch Hiob bezeugt, daß dasselbe den Semiten nicht mangelte, die zu Delphi gesungenen Frühlingspäane und zahlreiche Schilderungen griechische Dichter und Prosaiker von Homer an lassen die Stärke desselben bei den Griechen erkennen, was ja auch bei dem engen Anschluß ihrer Religion an Naturkultus nicht anders erwartet werden kann. Im spätern Rom machte sich, wie in jeder sich verfeinernden Kultur, zunächst eine Abkehr von der Natur fühlbar, der im Gegensatz zu dem naiven N. der Naturvölker ein sentimentaler Rückschlag folgte, eine erkünstelte Übertragung des Naturgefühls, welche sich in der Vorliebe für bukolische Dichtungen, gekünstelte Gärten- und Villenanlagen kundgab, wie sie der jüngere Plinius in seinen Briefen schilderte und in Hadrians Villa (s. d.) zu Tivoli mit allem Raffinement (Tempethal) verwirklicht ward. Von den germanischen Stämmen hat man daher auch behauptet, ihr N. sei noch frischer, weil sie nicht durch eine so alte Kultur hindurchgegangen wären. Das aufsteigende Christentum wirkte in gewisser Weise auf Ertötung des Naturgefühls hin, sofern seine Verkünder die Natur als mit dem Fluch behaftet und die Freude selbst nur am Nachtigallgesang als Sünde und Ableitung von der notwendigen Buße hinstellten und die Schönheit des Paradieses auf Kosten des irdischen Jammerthals erhoben. Das Jahrhundert der Entdeckungen belebte dann das N. durch die Schilderungen der Üppigkeit fremder Zonen, die schon Kolumbus, der mehrmals das irdische Paradies entdeckt zu haben glaubte, begeistert pries. Es begann eine Zeit der romantischen Naturbegeisterung, die sich namentlich in den farbenprächtigen Schilderungen des Calderon und in den „Lusiaden“ des Camoens ausprägte. Die Erhebung der Landschaftsmalerei (s. d.) zur selbständigen Kunst im 16. und 17. Jahrh. darf als äußeres Zeichen der damaligen gesunden [12] Wandlung des Naturgefühls betrachtet werden; sie lenkte aber mit den Poussins und Claude Lorrain wieder in eine idealisierende und schließlich sentimentale Richtung ein. Die Befreiung von dem „falschen Regelzwang“ ging diesmal thatsächlich von den germanischen Stämmen aus, namentlich von England, wo Shakespeare als Bahnbrecher gewirkt und der neue Geist besonders in der Gartenkunst zum Durchbruch kam. Inzwischen hatte das N. eine beständige Vertiefung durch die steigende Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens gewonnen: Kopernikus, Kepler, Newton und Herschel hatten die Wirksamkeit der irdischen Naturgesetze bis in die fernsten Himmelsräume dargethan; ein innerer Zusammenhang zwischen Bodenbildung, Klima, Pflanzen-, Tier- und Menschenleben drängte sich ins Bewußtsein, und wenn auch die romantische Schule nochmals eine märchenhafte, unheimliche Naturbelebung heraufbeschwor, die in der zeitgenössischen Philosophie ihren Widerhall weckte, so wurde diesen Auswüchsen durch das Gewicht Goethes und A. v. Humboldts bald wieder der Boden entzogen, während durch Darwin die Erkenntnis des Zusammenhangs alles Lebens unter sich und mit der Umgebung angebahnt wurde. Vgl. Humboldt, Kosmos, Bd. 2; Biese, Die Entwickelung des Naturgefühls bei den Griechen und Römern (Kiel 1882–84, 2 Bde.); Derselbe, Die Entwickelung des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neuzeit (Leipz. 1888).