Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Naturforschung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 11
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Naturforschung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 11. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Naturforschung (Version vom 24.02.2022)

[11] Naturforschung, im allgemeinen jede Beschäftigung, welche den Zweck hat, unser Wissen von der Natur zu vermehren, im höhern Sinn aber besonders die Erforschung der Gesetze, nach denen die Veränderungen in der Natur stattfinden, der Naturgesetze. Sind solche Gesetze vollständig bekannt, so verlangen sie einen mathematischen Ausdruck; man kann daher die Mathematik die Gesetzgeberin der Natur nennen. Die Naturwissenschaften sind aber noch keineswegs überall im stande, die mathematischen Naturgesetze aufzustellen. Am vollständigsten ist das der Fall in der Astronomie seit den Entdeckungen von Kepler und Newton. Auch die Mechanik gründet sich auf Mathematik, ebenso ein Teil der Physik, Chemie und Physiologie, und die Darwinschen Untersuchungen haben einen nachhaltigen Anstoß gegeben, um auch bei der Betrachtung des organischen Lebens mechanische Prinzipien in Anwendung zu bringen. Freilich liegen hier die Verhältnisse so verwickelt, daß ihre Ergründung und Zurückführung auf einfache Zahlenwerte ungleich schwieriger sein müssen. Während nämlich bei der Bewegung der Himmelskörper zunächst eine Naturkraft, die Schwerkraft oder Gravitation, so in den Vordergrund tritt, daß wir ohne wesentlichen Fehler von den übrigen Naturkräften absehen können, sind bei den tellurischen Vorgängen, wie z. B. im Leben der Organismen, der ganze Komplex der Naturkräfte, wie Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, die chemischen Affinitäten und physikalischen Molekularkräfte, zugleich thätig und zwar so, daß wir keine dieser Kräfte in ihrer Wirkung unbeachtet lassen dürfen. Dazu kommt noch, daß wir die letztern, bei Berührung der Teilchen zur Wirkung kommenden Kräfte noch nicht mathematisch ableiten können. Alles, was sich nach mathematischen Formeln ableiten läßt, was also naturwissenschaftlich erklärbar ist, besteht in Raumveränderungen, d. h. Bewegungen. Einer der ersten und unabweislich notwendigen Grundsätze unsrer Vernunft, ohne den wir nicht den geringsten Gedanken zu fassen vermögen, ist der Grundsatz der Kausalität, d. h. die notwendige Voraussetzung, daß jede Veränderung ihre Ursache haben müsse. Damit hängt innig zusammen der Grundsatz der Beharrlichkeit von Masse und Kraft, d. h. die Vorstellung, daß jedes Ding so lange genau in demselben Zustand der Ruhe oder der Bewegung verharrt, bis eine neue Ursache hinzutritt, und daß von der vorhandenen Masse und Kraft nichts verloren geht, daß aber auch nichts hinzukommt. Sehen wir also eine Veränderung des Zustandes der Körper, so kommen wir auf die Vorstellung der Ursache dieser Veränderung. Die nach mathematischen Gesetzen wirkenden Ursachen nennen wir Naturkräfte (s. d.). Wo die elementaren Naturkräfte alsdann in psychische übergehen, also in der Psychologie, hat man der N. eine letzte Grenze stecken und ein „ignorabimus!“ aussprechen wollen, welches jedoch auf lebhaften Widerspruch gestoßen ist; ebenso ist die auf einer der letzten Naturforscherversammlungen ausgesprochene Forderung einer Selbstbeschränkung der Forschung, gegenüber gewissen kühnen Folgerungen der Neuzeit, mit einer energischen Betonung der Freiheit der Forschung und ihrer Lehre beantwortet worden. Vgl. Du Bois-Reymond, „Über die Grenzen des Naturerkennens“ und „Die sieben Welträtsel“, zwei Vorträge (neue Ausg., Leipz. 1884); Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat (Berl. 1877); Häckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre (Stuttg. 1878).