MKL1888:Nation
[2] Nation (lat., Völkerschaft), ein nach Abstammung und Geburt, nach Sitte und Sprache zusammengehöriger Teil der Menschheit; Nationalität, die Zugehörigkeit zu diesem. Nach heutigem deutschen Sprachgebrauch decken sich die Begriffe N. und Volk keineswegs, man versteht vielmehr unter „Volk“ die unter einer gemeinsamen Regierung vereinigten Angehörigen eines bestimmten Staats. Wie sich aber die Bevölkerung eines solchen aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen kann, so können auch umgekehrt aus einer und derselben N. verschiedene Staatswesen gebildet werden. Denn manche Nationen, und so namentlich die deutsche, sind kräftig genug, um für mehrere Staatskörper Material zu liefern. Das Wort N. bezeichnet, wie Bluntschli sagt, einen Kulturbegriff, das Wort „Volk“ einen Staatsbegriff. Man kann also z. B. sehr wohl von einem österreichischen Volk, nicht aber von einer österreichischen N. sprechen. Zu beachten ist ferner, daß nach englischem und französischem Sprachgebrauch der Ausdruck N. gerade umgekehrt das Staatsvolk (die sogen. politische Nationalität) bezeichnet, während für die N. im deutschen Sinn des Wortes, für das Naturvolk (die sogen. natürliche Nationalität), die Worte Peuple (franz.) und People (engl.) gebräuchlich sind. In dem Begriff der N. liegt das Bewußtsein der gemeinsamen Abstammung und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit überhaupt: das Nationalgefühl. Ebendieses nationale Selbstbewußtsein ist es aber, welches zugleich den Gegensatz zwischen der einen und der andern N. hervortreten läßt. Kann zudem eine N. auf eine große Vergangenheit zurückblicken, oder nimmt sie unter den verschiedenen Nationen eine besonders hervorragende Stellung ein, so steigert sich das Nationalgefühl zum Nationalstolz, während sich jener Gegensatz zwischen verschiedenen Nationalitäten zuweilen bis zum Nationalhaß verschärft. Mit dem Nationalgefühl steht der nationale Selbsterhaltungstrieb im Zusammenhang; darum gilt jeder N. die Nationalfreiheit als höchstes Gut, und die Nationalehre verbietet ihr die freiwillige Unterwerfung unter eine andre N. Aus demselben Grund ist auch jede N. auf die Erhaltung ihrer nationalen Eigentümlichkeiten bedacht, vor allem auf die der Nationalsprache, denn auf dieser beruht zumeist das Wesen der N., und sie ist es, welche die Stammesgenossen am engsten verbindet. Dazu kommt bei den Kulturvölkerschaften eine gemeinsame Nationallitteratur, in welcher die Nationalsitte ihren besten Ausdruck findet. Denn wie die Ausdrucksweise jeder N., d. h. ihre Sprache, eine besondere ist, so pflegt es auch ihre Anschauungs- und Auffassungsweise auf dem sittlichen Gebiet, der Nationalcharakter, zu sein. Am leichtesten wird natürlich einer N. die Erhaltung ihrer Selbständigkeit dann werden, wenn sie allein ohne anderweite nationale Elemente einen Staat bildet, und ebendieser Staat wird sich durch besondere Stetigkeit und Festigkeit auszeichnen, weil er eine natürliche Grundlage hat. Jedenfalls ist es für einen Staat von großer Bedeutung, wenn eine Hauptnationalität die Basis desselben bildet. Sind aber in einem Staatswesen verschiedene Nationalitäten vereinigt, so können für die politische Behandlungsweise derselben folgende Systeme zur Anwendung kommen: 1) das System der Unterdrückung, welches z. B. von Rußland der polnischen N. gegenüber befolgt worden ist; 2) das System der Verschmelzung, das altrömische und das französische System; 3) das System der Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten, auch wohl das deutsche System genannt, welches aber auch in der Schweiz mit bestem Erfolg angewendet worden ist. Verwerflich war dagegen die Art und Weise, wie dieses System früher zum Zweck der Erhaltung der österreichischen Monarchie von österreichischen Staatsmännern, namentlich von Metternich, lange Zeit hindurch zur Anwendung gebracht worden ist, indem hier die einzelnen Nationalitäten gegeneinander aufgereizt und die eine durch die andre in Schach gehalten wurden. Das politische Leben der Neuzeit hat die Bildung nationaler Staaten besonders begünstigt. Dies zeigt sich nicht nur in dem erfolgreichen Streben der in verschiedene Staaten zersplitterten Nationen nach einem einheitlichen Staatswesen, wie dies namentlich in Italien und Deutschland der Fall war, sondern auch in den Bestrebungen verschiedener zu einem gemeinsamen Staatskörper vereinigter Nationalitäten nach politischer Selbständigkeit, wie in Österreich-Ungarn. Man hat es sogar geradezu als ein politisches Prinzip hingestellt, daß jede N. es als ihr Recht beanspruchen könne, einen besondern Staat zu bilden (Nationalitätsprinzip). Allein dieser Grundsatz kann in seiner radikalen Auffassung und Ausführung, wie ihn Napoleon III. zur Grundlage seiner Politik erhoben hatte, nicht gutgeheißen werden. Denn nicht jede N. hat die Kraft, einen lebensfähigen Staat zu bilden, und umgekehrt sind manche Nationen kräftig und vielseitig genug, um die Grundlage für verschiedene Staaten abgeben zu können. Daß übrigens Napoleon III. das Nationalitätsprinzip zumeist nur als Mittel zur Erreichung selbstsüchtiger Zwecke [3] benutzt hat, geht am besten aus seiner Handlungsweise Mexiko gegenüber sowie aus der Annexion von Savoyen und Nizza, welche zu diesem Prinzip im direkten Gegensatz standen, hervor. Immerhin muß aber die nationale Theorie, wonach der Staat auf wesentlich nationaler Grundlage beruhen soll, freilich mit der gehörigen historischen Einschränkung, dem einseitigen Festhalten an dem sogen. Legitimitätsprinzip[WS 1] (s. d.) und der Gleichgewichtstheorie des Wiener Kongresses gegenüber als ein wichtiger Fortschritt in der Entwickelung des politischen Völkerlebens bezeichnet werden. Vgl. v. Kremer, Die Nationalitätsidee und der Staat (Wien 1885).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Dieses Stichwort ist nicht vorhanden, siehe statt dessen den Artikel Legitimität (Band 10).