Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Musikwerke“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 17 (Supplement, 1890), Seite 594595
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Musikwerke. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 17, Seite 594–595. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Musikwerke (Version vom 27.08.2023)

[594]  Musikwerke (mechanische, automatische) sind Apparate, welche nur unter Anwendung mechanischer Mittel (Drehen einer Kurbel, Aufziehen einer Feder), also ohne seitens des Spielers Musikbildung vorauszusetzen, Tonstücke mehr oder minder vollkommen vorzutragen ermöglichen. Apparate solcher Art sind erst in den letzten hundert Jahren zu größerer Verbreitung und Beliebtheit gelangt; doch reicht ihre Erfindung und vereinzelte Herstellung viel weiter zurück. Einzelne Wunderwerke der Mechanik, die hierher gehören, sind im Artikel „Automat“ (Bd. 2) namhaft gemacht. Von den bis ins Altertum zurückreichenden singenden Vögeln bis zu Vaucansons automatischem Flötenspieler sind die ältern mechanischen M. durchaus Raritäten, die mit großem Aufwand von Zeit hergestellt und teuer bezahlt wurden. Dagegen sind die heutigen M. ein billiger Ersatz für eine durch geschulte Musiker hervorgebrachte Musik. Es scheint, daß der Ursprung solcher M. in der Kirche zu suchen ist und zwar zuerst in der Form von mit der Turmuhr verbundenen Glockenspielen einerseits und in der Form mechanisch gespielter Orgeln anderseits. Erstere mögen im 17. oder gar 16. Jahrh. zuerst gebaut worden sein, letztere nicht vor Anfang des 18. Jahrh. Die Kirchenuhren mit Glockenspiel führten ebenso geradeswegs zu den heutigen Spieluhren, wie die vielleicht zuerst von Wright um die Mitte des vorigen Jahrhunderts für eine Londoner Kirche gebaute selbstspielende Orgel den Ausgangspunkt für die Entwickelung der Drehorgeln und Orchestrions bildet.

Nach der Art, wie die M. in Bewegung gesetzt werden, hat man zu unterscheiden a) solche mit Federkraft oder Gewichten (wie die Uhren) und b) solche mit Kurbel zum Drehen, also wie Spieluhren und Leierkasten. Dazu sei aber gleich bemerkt, daß die frühmittelalterliche Drehleier (s. o., Bd. 5) kein eigentliches mechanisches Musikwerk war, sondern vielmehr ein mittels einer Klaviatur gespieltes Streichinstrument, dessen Saiten mittels eines durch eine Kurbel gedrehten Rades gestrichen wurden. Unterscheidet man die M. nach den tongebenden Mitteln, so sind zu unterscheiden c) solche mit abgestimmten Glocken, Glöckchen, Stahlstäben oder Saiten (Schlaginstrumente) und d) solche mit Flöten- oder Zungenpfeifen (Blasinstrumente). Eine allen ältern Musikwerken gemeinsame Einrichtung, die man daher für deren eigentliches Charalteristikum halten muß, ist die mit Stiften besetzte Walze, mag diese durch ein Uhrwerk getrieben oder durch eine Kurbel gedreht werden, mag sie Glocken, Stahlstäbe, Saiten oder Pfeifen zum Klingen bringen. Erst in allerneuester Zeit ist die Walze aus ihrer Alleinherrschaft verdrängt worden durch eine sozusagen gegenteilige Einrichtung, nämlich die der durchlöcherten Scheiben, so daß wir eine dritte Zweiteilung der mechanischen M. haben: e) mit Walzen und Stiften und f) mit durchlöcherten Scheiben (sogen. Notenblättern). Die in die Walze eingelassenen Stifte bringen bei den Glockenspielen die Töne durch Anheben der Hämmer hervor, welche die Glocken schlagen; erst in allerneuester Zeit hat die englische Firma Gillett u. Bland in Croydon den Mechanismus der Glockenspiele dahin verändert, daß die Stifte nicht anzuheben, sondern nur auszulösen haben. Bei den kleinern Spieldosen oder Spieluhren reißen die Stifte die verschieden abgestimmten Zähne eines Metallkammes an, der als der Komplex einer Reihe von Metallstäben (statt Glocken) definiert werden muß. Bei den Drehorgeln (mechanischen Orgeln, engl. Barrel-organs) öffnen die Stifte die Ventile der einzelnen Pfeifen; da nun aber nach dem Passieren des Stifts das Ventil sich sofort wieder schließen würde, also nur ein ganz kurzer Ton entstehen könnte, so treten an Stelle der Stifte bei den Drehorgeln zweimal rechtwinkelig gebogene, mit beiden Enden eingelassene Drähte nach unten offenes Rechteck, welche die Ventile so lange offen halten, bis jene ihrer ganzen Länge nach passiert sind. Die durchlöcherten Scheiben nun setzen ebenso wie die neuere Mechanik der Carillons an Stelle der Überwindung eine Federkraft, an Stelle des Anhebens oder Freigebens eine Feder, das Auslösen, mag nun dadurch ein Ventil geöffnet oder ein Hämmerchen gegen eine Saite geworfen oder ein Zinken eines Metallkammes ergriffen werden.

Nach dieser allgemeinen Klassifikation sind alle die vielnamigen neuern M. leicht zu verstehen. Sie alle setzen einerseits eine Skala verschieden abgestimmter klangfähiger Körper (Glocken, Metallstäbe, Saiten, Pfeifen, Zungen) und anderseits eine genau berechnete Einstellung der dieselben regierenden Stifte oder Balken, resp. der in die Scheiben geschnittenen Löcher voraus, so daß die Töne in der gewünschten Folge oder den gewünschten Zusammenklängen und in den gewünschten zeitlichen Abständen herauskommen. Jede einmalige Umdrehung der Walze bringt das Tonstück zu Ende; die Walze der Drehorgel dreht sich deshalb viel langsamer als die Kurbel, durch welche ja außerdem die beiden Schöpfbälge des Instruments abwechselnd aufgezogen werden. Spielt ein Musikwerk mit Walze mehrere Stücke, so muß die Walze für jedes derselben etwas anders gestellt werden; alsdann passieren die nicht zu dem gerade gespielten Stücke gehörigen Stifte zwischen den Ventilen frei durch. Auf die Instruments mit durchlöcherten Scheiben wird für jedes neue Stück eine neue Scheibe eingesetzt. Es ist das ein großer Fortschritt des Baues solcher M., da die „Notenblätter“ sehr billig sind, während bei den ältern Instrumenten eine neue Walze nicht viel weniger kostete als ein neues Instrument. Das Orchestrion (erfunden 1851 von Fr. Th. Kaufmann, eine Verbesserung des 1835 von seinem Vater konstruierten „Symphonions“) ist eine mechanische Orgel von ziemlicher Größe mit starken Flöten- und Zungenstimmen mit Räderwerk und Gewichten, die nur wieder aufgezogen zu werden brauchen, wenn sie abgelaufen sind, oder auch mit einer Kurbel. Bis jetzt hat man Orchestrions wohl nur mit Stiftwalzen. Dagegen sind [595] das Ariston (die kleinern Instrumente auch Aristonette genannt), Herophon und Manopan sich voneinander nur wenig unterscheidende „Salonorgeln“ mit durchlöcherten Scheiben; beim Ariston und Herophon sind dieselben von Pappe, kreisförmig, werden durch Federn aufgeklemmt und drehen sich um ihren Mittelpunkt; beim Manopan sind sie von Leder und in Gestalt breiter Bänder oder Streifen; alle drei Instrumente haben Zungenstimmen wie das Harmonium. Die Schweizer Spieldosen (mit Kurbel) oder Spieluhren (mit Uhrwerk), welche seit 100 Jahren, was Akkuratesse und Präzision anlangt, den Vorrang behaupten, haben Metallkämme und Stiftwalzen; die sogen. deutschen Spieldosen oder Symphonions haben statt der Walzen durchlöcherte kreisförmige Stahlblätter (Lachmanns Patent). Das Drehpiano (Orgelklavier) Orpheus ist eine von Paul Ehrlich (dem Erfinder der an Stelle der Walzen gesetzten Scheiben, Direktor der Fabrik Leipziger M.) bewerkstelligte Übertragung desselben Prinzips auf ein kleines Klavier, sofern gespannte Federn die Hämmerchen (Finger) gegen die Tasten werfen, sobald die Löcher der Pappscheibe sie auslösen. Nur Vergrößerungen und Verbesserungen dieser Instrumente sind P. Ehrlichs Klavierautomat, der an jedem Pianino angebracht werden kann (die Tasten werden durch den Apparat angeschlagen), sowie das mechanische Klavier von J. M. Hirt in Leipzig, an dem wie beim Manopan die durchlöcherten Notenblätter Bandform haben. Ariston, Herophon, Manopan, Orpheus, die „Klavierspieler“ und das „mechanische Klavier“ werden durch Drehen einer Kurbel gespielt.