MKL1888:Musikalische Litteratur

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Musikalische Litteratur“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 18 (Supplement, 1891), Seite 628632
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Musikalische Litteratur. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 18, Seite 628–632. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Musikalische_Litteratur (Version vom 28.08.2023)

[628] Musikalische Litteratur. Nachstehende Übersicht der Musiklitteratur der letzten Jahre beschränkt sich im wesentlichen auf die wichtigsten Erscheinungen auf dem Gebiete der Musikgeschichte und Biographie, Ästhetik der Musik und musikalischen Belletristik, von denen freilich die letztere schwer gegenüber den beiden andern abzuscheiden ist, so daß wir nur eine Zweiteilung in historische und ästhetische Litteratur durchzuführen vermögen. Die theoretisch-musikalische Litteratur wird Gegenstand eines besondern Artikels im nächsten „Jahres-Supplementband“ sein.

Geschichte und Biographien.

Erfreulich ist der Zuwachs, den die historische Litteratur in den letzten Jahren erfahren hat. Zunächst müssen wir der Weiterführung von Ambros’ „Geschichte der Musik“ gedenken. Das leider von dem Verfasser unvollendet (nur bis zu Palestrina reichend) hinterlassene Werk erhielt zunächst (1878) einen vierten Band, den G. Nottebohm aus Skizzen des Verfassers zusammenstellte, ohne ihn vollständig durchzuarbeiten („Geschichte der Musik im Zeitalter der Renaissance von Palestrina an“, nur die Zeit der nuove musiche, d. h. die Entstehung des begleiteten Stils und der Instrumentalmusik 1600–1650 behandelnd). Einen äußerst wertvollen fünften Band: „Ausgewählte Tonwerke der berühmtesten Meister des 15. und 16. Jahrhunderts“ (eine Beispielsammlung zum 3. Bande, aus Ambros’ hinterlassenen Sammlungen ausgewählt, mit vielen weitern Zuthaten und einleitenden Betrachtungen, nebst einem fleißig gearbeiteten Namen- u. Sachregister zum 1.–4. Band), gab 1882 Otto Kade heraus. Der Band enthält, übertragen in moderne Partiturnotierung, aber in den alten Schlüsseln u. Werten, Tonsätze von Ockenheim, Hobrecht, Josquin, de la Rue, Brumel, Al. Agricola, Gaspar (van Verbeke), Compère, Ghiselin, de Orto, Layolle, A. Fevin, Carpentras, Gombert, Ducis, Heinr. Finck, Th. Stoltzer, P. Hoffheymer, H. Isaak, M. Greiter, D. Köler, A. de Bruck, L. Senfl, J. Walther, M. Le Maistre, A. Scandellus, R. Michael, L. Schröter, Jac. Gallus, Bart. Escobedo, Chr. Morales, stellt also die deutschen Kontrapunktisten mehr, als vordem üblich, in den Vordergrund. Der Band ist nicht nur für Studienzwecke, sondern auch behufs Wiederbelebung alter Tonwerke durch Gesangsaufführungen [629] aufs wärmste zu empfehlen. Eine Fortsetzung andrer Art erfuhr Ambros’ Werk durch W. Langhans, „Die Geschichte der Musik des 17., 18. und 19. Jahrhunderts“ (1882–87, 2 Bde.). Langhans’ Werk schießt laut Titel chronologisch an Ambros’ vierten Band an, doch lehnt der Verfasser den Anspruch, als Fortsetzer der Arbeit Ambros’ gelten zu wollen, bestimmt ab und gibt daher auch in einer längern Einleitung einen Überblick über die mittelalterliche Musikgeschichte. Langhans’ Darstellung ist anziehend, die Originalstudienarbeiten sind fleißig benutzt, und mancher selbständige Beitrag ist sehr dankenswert. Besonders eingehend berücksichtigt Langhans die Entwickelung der Oper in Frankreich; leider ist Langhans’ Stellung zur neuesten Phase der Musikgeschichte eine etwas parteiische, so daß seine Würdigung Schumanns, Brahms’ und andrer neuer Meister als nicht genügend bezeichnet werden muß, während Berlioz und Liszt wohl als Komponisten überschätzt sind. Nur mit einem energischen Protest zu erwähnen ist die Umarbeitung des ersten Bandes von Ambros’ „Musikgeschichte“ durch B. v. Sokolovski (1887), eine Schülerin Rudolf Westphals, welche Ambros’ Darstellung der griechischen Musik vollständig „westphalisiert“ zu haben selbst gesteht. Ambros ist auch heute noch der beste Musikhistoriker im großen Stile, d. h. Bearbeiter des ganzen weiten Gebiets der Musikgeschichte auf Grund selbständiger Forschungen. Von Arbeiten aus zweiter Hand sind noch zu nennen: L. Nohls „Allgemeine Musikgeschichte“, populär dargestellt (1882, Reclams Bibliothek), Em. Naumanns „Illustrierte Musikgeschichte“ (1880–85, 2 Bde.), F. Cléments ebenfalls illustrierte „Histoire de la musique“ (1882), A. Macfarrens „Musical history“ (1885), W. S. Rockstros „General history of music“ (1886) und H. Riemanns „Katechismus der Musikgeschichte“ (1889, engl. 1891).

Viel reicher ist die Ausbeute von Spezialwerken über einzelne Epochen der Musikgeschichte und von Biographien einzelner Tonkünstler. Unter den Studien über die antike Musik steht zur Zeit obenan F. Aug. Gevaërts „Histoire et théorie de la musique de l’antiquité“ (1875–81, 2 Bde.), ein gelehrtes gründliches Buch, das auch für die mittelalterliche Musikgeschichte wichtige Beiträge enthält und sich trotz Übereinstimmung in gewissen Kardinalpunkten (Annahme der Mehrstimmigkeit für die antike Musik) vorteilhaft gegen Rud. Westphals kühne Konjektural-Geschichtsmacherei („Die Musik des griechischen Altertums“, 1883) abhebt. Kleinere Spezialarbeiten über antike Musik gab K. v. Jan, über byzantinische Musik W. Christ, Papastomatopulos, Paranikas, H. Reimann und H. Riemann. Speziell mit der Geschichte der Notenschrift beschäftigten sich H. Riemann („Studien zur Geschichte der Notenschrift“, 1878) und seine Plagianten M. Lussy und Ern. David („Histoire de la notation musicale“, 1882). Das Studium der mittelalterlichen Musikgeschichte, zuerst angeregt durch Fürstabt Martin Gerbert, wurde in größerm Maßstab wieder aufgenommen durch Ed. de Coussemaker, dessen Fortsetzung der Gerbertschen Sammlung mittelalterlicher Musikschriftsteller in neuer Ausgabe („Scriptorum de musica medii aevi nova series“, 1866–76, 4 Bde.) jedermann die Quellen leicht zugänglich machte, während eine Anzahl Spezialarbeiten direkt zur Nachfolge anregte (über Hucbald, „Geschichte der mehrstimmigen Musik im Mittelalter“, über Adam de la Halle, über die Musikinstrumente des Mittelalters etc.). Die Geschichte des Gregorianischen Gesangs, die Enträtselung der alten Neumenschrift wurde durch P. Lambillotte („L’antiphonaire de St. Grégoire“, 1851), besonders aber durch Don Joseph Pothier in Angriff genommen („Les mélodies grégoriennes“, 1880), welch letzterer auch ein vollständiges Graduale mit Wiederherstellung des Urtextes der Melodien herausgab und zur Zeit die Veröffentlichung einer großartigen Sammlung heliographischer Vervielfältigung alter liturgischer Manuskripte („Paléographie musicale“) leitet (mit umfassenden Erläuterungen). In ein ganz neues Stadium tritt aber die „Gregorianische Frage“ durch Fr. Aug. Gevaërts „Origines du chant liturgique de l’Église latine“ (1889; deutsch von H. Riemann, 1891). Gevaërt stellt die Verdienste Papst Gregors I. um den Kirchengesang durchaus in Abrede und belegt seine Ansicht mit gewichtigen Gründen, welche vielmehr Sergius I. in den Vordergrund rücken.

Speziell mit der Geschichte der mittelalterlichen Musiktheorie und den Anfängen der Mensuralmusik befassen sich die Schriften von W. Brambach (über Berner von Reichenau, Hermannus Contractus u. a.), Hans Müller („Hucbalds echte und unechte Schriften“, „Wilhelm von Hirschau“ u. a.), Robert Hirschfeld (über Johannes de Muris), Guido Adler (über den Faux-Bourdon), M. Falchi („Studi su Guidone monaco“ [Guido von Arezzo]). Eine Fülle wichtiger Beiträge zur mittelalterlichen Musikgeschichte enthalten die von Robert Eitner redigierten „Monatshefte für Musikgeschichte“ (seit 1869) sowie die von G. Adler, Spitta und Chrysander herausgegebene „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“ (seit 1884) und Fr. X. Haberls „Kirchenmusikalische Jahrbücher“. Für die Epoche der Blüte des Kontrapunktes ist besonders Edm. van der Straetens „Histoire de la musique aux Pays-Bas“ (seit 1867, 7 Bde.) eine wahre Fundgrube historischer Einzelnotizen, nicht aber eine wirkliche zusammenhängende „Geschichte“. Ähnlich angelegt, aber noch aphoristischer sind die historischen Schriften Ed. Grégoirs („Documents historiques“, 1872–76, 4 Bde.; „Bibliothèque musicale populaire“, 1877–79, 3 Bde.; „Panthéon musical“, 6 Bde., etc.). Fr. X. Haberls „Bausteine für Musikgeschichte“ brachten Monographien über G. Dufay, über die römische Sängerschule und einen Katalog der päpstlichen Kapellbibliothek; auch Ed. Schelles Schrift über die Sixtinische Kapelle (1872) sei nicht vergessen, die sich an Anselm Schubigers verdienstliche Arbeiten würdig anreiht („Die Sängerschule von St. Gallen“, „Musikalische Spicilegien“ etc.). Große Verdienste um die Durchforschung der Schätze des 15.–17. Jahrh. hat Emil Bohn, dessen historische Konzerte in Breslau auch der praktischen Wiederbelebung derselben gelten (Kataloge der Musikdruckwerke [1883] und der Musikhandschriften [1889] der Breslauer Bibliotheken; in Vorbereitung: eine große Sammlung weltlicher mehrstimmiger Gesänge jener Zeit). Von Monographien über einzelne Komponisten dieser Epoche sind zu nennen Clément Lyons „Jean Guyot de Chatelet“ (1881), Otto Kades „Heinrich Isaak“ (1882) sowie eine ganze Reihe in den „Monatsheften für Musikgeschichte“ enthaltene. Die ältere Geschichte der Instrumente machten sich zum Gegenstand ihres Studiums: J. Rühlmann, „Geschichte der Bogeninstrumente“ (1882, mit Bilderatlas), L. A. Vidal, „Les instruments à archet“ (1876–78, 3 große Quartbände mit Abbildungen), J. v. Wasielewski („Geschichte der Instrumentalmusik im 16. Jahrhundert“, 1878; „Die Violine und ihre Meister“, 2. Aufl. 1883; „Das Violoncell und seine Geschichte“, 1888; „Die Violine im 17. Jahrhundert“, 1874), J. Eichborn („Die [630] Trompete alter und neuer Zeit“, 1881; „Zur Geschichte der Instrumentalmusik“, 1885), K. Stiehl („Zur Geschichte der Instrumentalmusik in Lübeck“, 1885, und „Die Abendmusiken zu Lübeck“, 1886), Karl Engel („A descriptive catalogue of the musical instruments in the South Kensington Museum“, 1874, und „Catalogue of the special exhibition of ancient musical instruments“, 2. Aufl. 1873) und A. J. Hipkins („Musical instruments, historic, rare and unique“, 1883). Über Lautentabulaturen schrieb W. Tappert, von dem aber ein erwartetes umfassendes Werk noch aussteht. Hier können wir gleich anschließen J. P. N. Lands „De gamelan te Jogjåkartå“ (über javanische Musik, 1890), Th. Bakers „Über die Musik der nordamerikarischen Wilden“ (1882) und S. M. Tagores „Hindo music“ (1875–82).

Wenden wir uns nun der neuern Zeit zu, so stehen wir vor einer überwältigenden Fülle von Publikationen über einzelne Tonkünstler und ganze Zweige der Musik. Gedenken wir zuerst der letztern, so haben wir einige zu nennen, die noch bis ins Mittelalter zurückreichen, nämlich Fr. Magnus Böhmes „Altdeutsches Liederbuch“ (1877, Sammlung von Gedichten mit den Melodien) und „Geschichte des Tanzes in Deutschland“ (1886) sowie Aug. Hartmanns „Volkslieder“ aus Bayern, Tirol und Salzburg (1. Bd.: „Volkstümliche Weihnachtslieder“, 1884), sodann wieder weit zurückgehend O. Wangemanns „Geschichte des Oratoriums“ (1880), H. Riemanns „Opernhandbuch“ (1887), L. Nohls „Geschichtliche Entwickelung der Kammermusik“ (1885), A. Reißmanns „Illustrierte Geschichte der deutschen Musik“ (1881) und Hermann Kretzschmars „Führer durch den Konzertsaal“ (1. Bd.: „Symphonie und Suite“, 1887; 2. Bd.: „Kirchliche Werke“, 1888; 3. Band: „Oratorien und weltliche Chorwerke“, 1890). Letzteres Werk ist eine der bedeutsamsten Erscheinungen der letzten Jahre, sozusagen eine Geschichte von Fall zu Fall, eine Analyse und Charakteristik der einzelnen Werke des heutigen Konzertprogramms mit historischen Notizen und allgemeinen Orientierungen, ein Buch, das für weiteste Kreise bildend und belehrend wirken muß. Ein Gegenstück dazu soll Otto Neitzels „Führer durch die Oper des Theaters der Gegenwart“ (1. Bd., 1890) sein, scheint aber vorläufig weit hinter seinem Vorbild zurückzubleiben. Dagegen steht aus Kretzschmars Feder eine umfassende „Geschichte der Oper“ in Aussicht, der mit Spannung entgegengesehen werden darf. Hierzu dürfen wir gleich Ed. Hanslicks im Titel ähnliche, aber nur aus gelegentlichen Feuilletons zusammengesetzte Bücher nennen: „Aus dem Konzertsaal“ (1870), „Die moderne Oper“ (8. Aufl. 1885), „Musikalische Stationen“ (1880), „Aus dem Opernleben der Gegenwart“ (3. Aufl. 1885) und „Suite“ (Aufsätze über Musik und Musiker, 1885). Bedeutsamer ist desselben „Geschichte des Konzertwesens in Wien“ (1869), die J. Sittard mit seiner nur leider nicht unparteiischen „Geschichte des Konzertwesens in Hamburg“ (1889) nachahmte; letzterer stellte ältere kleine Aufsätze zusammen in seinen „Studien und Charakteristiken“ (1889, 3 Bde.); seine „Geschichte der Musik am Hofe zu Stuttgart“ (1. Bd., 1890) beruht dagegen auf selbständigen archivalischen musikalischen Forschungen.

Neue große Biographien erschienen zwar in den letzten Jahren nicht; doch gibt H. Deiters O. Jahns große Mozart-Biographie in neuer Überarbeitung heraus (1. Bd. 1889), und desselben Übersetzung der englisch noch nicht gedruckten Beethoven-Biographie A. W. Thayers ist bis zum 3. Bande fortgeschritten. K. F. Pohls Haydn-Biographie ist unvollendet hinterlassen (bis 1790 reichend) und soll von Pohls Nachfolger E. Mandyczewski zu Ende geführt werden. Wichtige Bausteine zur Beethoven-Biographie sind die beiden Schriften Th. Frimmels: „Neue Beethoveniana“ (1887) und „Goethe und Beethoven“ (1887), sowie Nottebohms „Beethoveniana II“ (1887). Zur Biographie Webers erschienen neue Beiträge von seinem Sohne M. M. v. Weber: „Reisebriefe Webers an seine Frau“ (1886). Dem Lehrer Webers, Abt Vogler, setzte K. v. Schafhäutl ein biographisches Denkmal (1888); von demselben insbesondere auf dem Gebiete der Akustik eifrig thätigen Gelehrten ist noch anzuführen „Ein Spaziergang durch die liturgische Musikgeschichte“ (1887, Erweiterung seiner 1869 erschienenen Schrift: „Der echte Gregorianische Choral“). Die Mendelssohn-Litteratur bereicherte Lampadius: „Felix Mendelssohn-Bartholdy, ein Gesamtbild seines Lebens und Schaffens“ (1886), F. Moscheles: „Briefe Mendelssohns an Moscheles und Frau“ (1888), und J. Eckhardt: „Ferdinand David und die Familie Mendelssohn“ (1888). Auch Schumanns Leben wurde mehrfach neu beschrieben: Heinr. Reimann, „Robert Schumanns Werke“ (1887), H. Erler, „R. Schumanns Leben, aus seinen Briefen“ (1887), B. Vogel, „R. Schumanns Klaviertonpoesie“ (1887), Gustav Jansen, „Die Davidsbündler“ (1883), J. v. Wasielewski, „Schumanniana“ (1883, polemisch gegen die vorgenannte Schrift); Briefe Schumanns gaben heraus G. Jansen (1886) und Klara Schumann (Jugendbriefe Schumanns, 1885). Der 100jährige Geburtstag Kuhlaus brachte ein Lebensbild dieses Romantikers der Dänen (von C. Thrane, 1886). Eine weitschichtige, prachtvoll ausgestattete Biographie erhielt der nicht entsprechend berühmte Joh. Georg Kastner (gest. 1867) durch Hermann Ludwig [von Jan] (1886, 3 Bde.). Bedeutsamere Erscheinungen sind dagegen die von Ad. Jullien verfaßten, in stattlichster Gewandung erschienenen beiden Lebensbilder: „R. Wagner, sa vie et ses œuvres“ (1886) und „Hector Berlioz, sa vie et ses œuvres“ (1888), die eine Fülle neuer Details enthalten und mit zahlreichen Porträten und Zeichnungen geschmückt sind. Von Wagners Werken selbst erschien der 10. Band (1883), hauptsächlich Aufsätze Wagners für die „Bayreuther Blätter“ enthaltend, und aus nachgelassenen Papieren ein Band „Entwürfe, Gedanken, Fragmente“ (1885); ferner wurde veröffentlicht der „Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt“ (1887) und „Wagners Briefe an Uhlig, Fischer und Heine“ (1888). Berlioz erhielt ein weiteres litterarisches Denkmal durch R. Pohl (1886), Liszt wurde speziell als Psalmensänger gefeiert von seiner Biographin, der Übersetzerin seiner französischen Schriften, Lina Ramann (1886). Schließen wir den drei Freunden Liszt, Berlioz, Wagner gleich den vierten an: Chopin, so müssen wir der Biographie desselben von Friedrich Niecks gedenken, von welcher W. Langhans eine treffliche deutsche Übersetzung herausgab (1889). Damit wäre auch das Gebiet der Biographie begangen, und wir haben nur noch einige Reißmannsche Lebensbilder (Gluck, Weber, 1882), eines von Meinardus („Mozart, ein Künstlerleben“, 1882) und eines von J. v. Wasielewski („Beethoven“, 1887) nachzutragen, die auf Forschungswert keinen Anspruch machen; auch die Biographien von Arthur Pougin, der immer einige neue auf den Markt bringt (1886: Verdi, 1888: Viotti), und Ernest David (Joh. Seb. Bach, 1882; Händel, 1884) gehören in diese Kategorie. Eine Nachlese auf dem allgemeinen [631] Gebiete der Musikgeschichte bringt uns noch eine „Geschichte des Klaviers und des Klavierspiels“ von Ad. Ruthardt (1888), eine englische „History of pianoforte-music“ von J. C. Fillmore (1883), ferner R. Pohls „Höhenzüge der musikalischen Entwickelung“ (1887) und W. Bäumkers „Das katholische deutsche Kirchenlied“ (1883–86, 2 Bde.). Wir schließen den Überblick über die neueste historische Litteratur mit dem Hinweis auf das an selbständigen Untersuchungen reiche neueste lexikalische Werk von Sir George Grove: „Dictionary of music“, dessen erster Band 1880 erschien und das mit dem kürzlich (1890) erschienenen Register zu Band 1–4 endlich seinen Abschluß gefunden hat. Das Werk berücksichtigt zwar nur die neuere Zeit seit 1450 und ist auch für diese keineswegs erschöpfend (besonders sehr karg in der Auswahl von Biographien), aber in einzelnen historischen Abhandlungen und einigen Biographien (z. B. Mendelssohn und Schubert) sehr inhaltsvoll und selbständig.

Ästhetik.

Durch die neueste Litteratur der musikalischen Ästhetik weht ein frischerer Hauch; die Gegensätze, welche Hanslicks Schrift „Vom Musikalisch-Schönen“ gegeneinander in Bewegung gesetzt, sind auf bestem Wege, sich friedlich auszugleichen, indem sie in einer höhern Dritten aufgehen. Bekanntlich spitzte sich der Gegensatz der Anschauungen zu der Frage zu, ob die Musik Beruf und Fähigkeit habe, etwas darzustellen? Hanslick und die übrigen Formalisten in der Ästhetik verneinen die Frage und sehen im Formalen der Musik deren einzigen Inhalt, während die Gegner, ausnahmslos Anhänger der neudeutschen Richtung in der Musik, d. h. Wagners und Liszts, begeisterte Adepten der Lehre vom Gesamtkunstwerk und der Programmmusik, dazu neigen, alle Musik gering zu schätzen, die nicht darstellen will. Beiden fehlte offenbar nur das rechte Wort für das, was sie meinten; weder glaubten Hanslick und seine Freunde ernstlich an eine Inhaltslosigkeit der Musik, noch glaubten die neudeutschen Ästhetiker ernstlich daran, daß Beethoven und Mozart Programmmusik geschrieben haben oder gar, daß ihre Schöpfungen vor einer neuen Sonne der Erkenntnis verblassen müßten. Von verschiedenen Seiten her sind nun die Ästhetiker zum Verständnis derjenigen Begriffe vorgedrungen, die sie zu einigen geeignet und bestimmt sind. Hermann Lotze in seiner „Geschichte der Ästhetik in Deutschland“ (1868) fand zuerst eine Formel, aus welcher die neuesten Definitionen sich mühelos herleiten lassen; er las dieselbe aus Herders „Kalligone“ heraus oder in dieselbe hinein, nämlich daß unser ästhetisches Genießen nicht ein passives, sondern ein aktives ist (a. a. O., S. 79), nicht ein bloßes Konstatieren sinnlich wahrnehmbarer Verhältnisse und Veränderungen, sondern Miterleben derselben, ein uns Hineinversetzen, ein Mitthun mit dem eignen Willen. Daß dieser Gedanke Früchte tragen mußte, ist selbstverständlich bei dem hohen Ansehen und der Verbreitung des Lotzeschen Werkes. Es findet zuerst seine volle Nutzanwendung in Heinrich Wölfflins Dissertation „Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur“ (1886), zunächst um das Verständnis für die Wirkungen der architektonischen Formen zu erschließen, aber auch bereits mit Hinweis auf seine Bedeutung für die Ästhetik der Musik. Von andrer Seite her fand Friedrich v. Hausegger („Musik als Ausdruck“, 1885) den Weg zur Aufdeckung des ästhetischen Prinzips der musikalischen Wirkungen. Ausgehend von Wagners Idee der Zusammengehörigkeit von Wort und Ton, sieht er den Beruf der Musik einzig darin, Empfindung direkt auszudrücken, also, wie Fr. Nietzsche es einmal formulierte, Gebärde des Affekts zu sein; die Wirkung auf den Hörer aber basiert darauf, daß dieser sich mit dem Singenden identifiziert, also in der Illusion selbst die Töne und Melodien hervorbringt, welche er hört. Arthur Seidl in seiner Dissertation „Vom Musikalisch-Erhabenen“ (1887) folgert richtig weiter, daß in der Architektur wie in der Musik die Wirkung des Erhabenen entsteht, wenn die Grenzen des dem Menschen Mitempfindbaren oder Nachbildbaren überschritten werden. H. Riemanns „Wie hören wir Musik“ (1888) ergänzt diese Ideen dahin weiter, daß der Musik zunächst elementare Wirkungen eignen, denen sich der Mensch nicht entziehen kann, die zum Miterleben, Mitwollen zwingen (die Veränderungen der Tonhöhe, Tonstärke und Bewegungsart), daß in diesem Elementaren die eigentliche Wirkung wie der eigentliche Inhalt der Musik liege, daß das formale Element (harmonische Regelung der Tonhöhen, taktmäßige Ordnung der Tonwerte) erst als ein zweites hinzukomme, wodurch Musik erst Kunst wird, und daß endlich erst in dritter Linie eine Musik möglich sei, welche etwas ausdrücken wolle als Willensemanation eines vorgestellten Objekts. Die Bedeutung der elementaren Wirkungen der Darstellungsmittel der Kunst wurde wohl zuerst nachdrücklich betont von G. Th. Fechner („Vorschule der Ästhetik“, 1876). Ausgehend von diesen grundlegenden Gedanken, ist eine ausgeführte Ästhetik der Musik sehr wohl möglich, welche die spezialen Darstellungsmittel (Melodik, Rhythmik, Harmonik, Dynamik, Agogik) in ihren Einzelwirkungen und mancherlei Mischungen eingehend erörtert. Doch ist diese ausführliche Ästhetik noch eine Hoffnung für die Zukunft. Die gegenwärtigen Handbücher der Musikästhetik sind daher mehr nur Geschichten der Musikästhetik und Kritiken der Aufstellungen der bisherigen Musikästhetiker und Philosophen, ersteres vor allen H. Ehrlichs „Musikästhetik von Kant bis auf die Gegenwart“ (1881), die zu eignen fruchtbaren Gedanken nicht vordringt, letzteres R. Wallascheks „Ästhetik der Tonkunst“ (1886). Auch Ed. v. Hartmann (der Philosoph des „Unbewußten“) bleibt bei der Abhandlung allgemeiner ästhetischer Begriffe und der Kritik der Definitionen andrer Ästhetiker stehen, anstatt bei einer Musikästhetik direkt von musikalischen Elementen auszugehen. Dagegen steht Gustav Engel („Ästhetik der Tonkunst“, 1884) ganz auf dem Boden der Musik und sucht von diesem aus den Konnex mit den Systemen der Philosophen. Sein Fundamentalsatz (S. 5): Musik ist die Durchdringung des bloß sinnlichen Elements des Hörbaren mit dem rein geistigen Triebe, das Mannigfaltige einheitlich zu begreifen, stellt sich zwar mit scharfer Betonung auf die Seite der formalistischen Ästhetiker, doch bleibt Engel bei ihm nicht als dem einzigen Prinzip stehen. Er bemerkt wohl (S. 21), daß Steigen und Fallen des Tones so sehr dem Auf- und Abwogen des Gefühls entsprechen, daß sogar das Abweichen von der starren Regelmäßigkeit zu einer Tugend werden kann, womit er die absolute Gültigkeit des formalen Prinzips in Frage stellt und sogar so weit geht, unreine Intonationen als ästhetisch zulässig zu motivieren. Er ahnt dabei, was bereits Schopenhauer (1818) mit wünschenswertester Klarheit formuliert hat („Welt als Wille und Vorstellung“, Bd. 1, S. 304), daß die Musik keineswegs gleich den andern Künsten das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst ist. Wenn Schopenhauer die Musik als unmittelbare Objektivation des [632] Willens selbst hinstellt, so ist das doch gewiß nichts andres als das, was unsre jüngsten Ästhetiker schüchtern und zaghaft mit andern Worten zu formulieren versuchen: Musik als Ausdruck! Wahrscheinlich ist die ungeheuere Größe des Schopenhauerschen Gedankens: die Zurückführung des ganzen Seins auf die beiden Begriffe des Willens (natura naturans) und der Vorstellung (natura naturata), der Grund dafür, daß seine Definition in diesem Sonderfall nicht gleich ihrer ganzen Tragweite nach gewürdigt wurde. Freilich laufen in Schopenhauers der Musik gewidmeten Kapiteln sonderbare Verirrungen mit unter, so die Vergleichung des Grundtons mit dem Mineralreich, der Terz mit den Pflanzen, der Quinte mit den Tieren, der Oktave (Melodiestimme) mit dem Menschen, ferner die Annahme der feingegliederten Beweglichkeit nur für die Oberstimmen, als wenn es keine Polyphonie gäbe! Der Gedanke selbst aber steht bei Schopenhauer wie in Stein gehauen da, und Hanslick selbst wie seine Parteigänger (von denen einer der bedeutendsten Ottokar Hostinsky ist: „Das Musikalisch-Schöne“, 1877) und Gegner (Ad. Kullak: „Das Musikalisch-Schöne“, 1858; Graf P. Laurencin: „Hanslicks Lehre vom Musikalisch-Schönen“; Fr. Stade: „Vom Musikalisch-Schönen“; A. W. Ambros: „Die Grenzen der Musik und Poesie“, 1855) hätten nichts Besseres thun können, als denselben aus seiner harten Schale herauszulösen und in fruchtbaren Boden zu pflanzen. Merkwürdigerweise hat das auch Karl Fuchs in seiner Dissertation „Präliminarien zu einer Kritik der Tonkunst“ (1871) übersehen, obgleich diese Schrift speziell von Schopenhauer ausgeht. Schopenhauer bezeichnet ausdrücklich (Bd. 1, S. 312) die Fähigkeit der Musik, alle Regungen unsres innersten Wesens wiederzugeben, „aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual“, und führt darauf das unaussprechlich Innige der Musik zurück; er erklärt auch vollständig befriedigend, warum das Lächerliche vom Gebiet der Musik völlig ausgeschlossen ist, weil nämlich ihr Objekt nicht die Vorstellung ist, in Hinsicht auf welche Täuschung und Lächerlichkeit allein möglich sind (S. 309). Die Musik ist demnach eine im höchsten Grade allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs wie jene leere Allgemeinheit der Abstraktion etc. Schopenhauers Auffassung des Verhältnisses von Ton und Wort stimmt ganz und gar nicht zu der der Wagnerianer, die sich so gern auf Schopenhauer berufen. Er weiß nichts von einem Bedürfnis der Musik, sich dem Worte zu vermählen, ist im Gegenteil der Meinung, daß solche einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, nie mit durchgängiger Notwendigkeit ihr verbunden sind (Bd. 1, S. 310), und (S. 309) daß der Text die untergeordnete Stellung nie verlassen sollte, um sich zur Hauptsache und die Musik zum bloßen Mittel des Ausdrucks zu machen, „als welches ein großer Mißgriff und eine arge Verkehrtheit ist“. Welcher Kontrast dieser Auffassung der hohen Bedeutung der absoluten Musik und der Ed. Grells, dessen „Aufsätze und Gutachten“ Heinr. Bellermann herausgab (1887): Zu einem musikalischen Gedanken gehören drei Dinge: 1) Wort, 2) Harmonie und 3) Rhythmus. Von diesen dreien gibt das Wort nicht nur die Seele, den Inhalt des Gegenstandes, sondern auch durch seine Vokale Veranlassung zur Harmonie und durch seine Konsonanten Veranlassung zum Rhythmus! (eine Verteidigung der Instrumentalmusik gegen Grell führte mit Glück Heinrich Ordenstein, 1888). So gibt also Schopenhauer zuerst eine befriedigende Definition des Wesens der Musik als direkten Ausflusses des Seelenlebens des Komponisten (Willensemanation), während Lotze den Schlüssel für ihre Wirkungen gibt (Miterleben, sich eins fühlen mit dem Willen des Komponisten). Diese beiden Grundpfeiler dürften dem dereinstigen Ausbau der Musikästhetik festen Halt geben; sie erklären das Wahre, Lebensvolle, Packende der Musik (Musik als Ausdruck), gegenüber welchem das Schöne, dessen Erklärung die formalistischen Ästhetiker sich einseitig zuwenden, eine zwar unentbehrliche, aber auf alle Fälle eine Begleiterscheinung ist (Musik als schönes Spiel mit Tönen). Das aber, worauf die Gegner Hanslicks sich steifen, daß Musik etwas Vorgestelltes ausdrücken solle, ist erst das Dritte, ein nur Mögliches, niemals Nötiges: das Charakteristische der Musik kommt erst zur Geltung, wenn der Komponist nicht sein Empfinden ausspricht, sondern aus der Seele eines vorgestellten Objektes heraus redet und auch vom Hörer verlangt, daß er sich in dieses hinein versetze (darstellende Musik).