MKL1888:Manīe
[190] Manīe (griech.), diejenige Geisteskrankheit (s. d.), welche in ihren Abstufungen als Tollheit, Tobsucht, Raserei, Wut bezeichnet wird. In Zusammensetzungen bedeutet das Wort immer die mit übermäßiger Erregung auf einen Ideengang hin gerichtete krankhafte Geistesthätigkeit, die man auch M. ohne Irresein (mania sine delirio) genannt hat. So bezeichnet man übermäßige leidenschaftliche Liebe als Erotomanie, Nymphomanie, Andromanie, Neigung zum Stehlen als Kleptomanie, zur Brandstiftung als Pyromanie etc. In der Psychiatrie bedeutet M. eine verhältnismäßig seltene Gruppe krankhafter Seelenäußerungen, deren Grundzug in heiterer Verstimmung, gehobenen Selbstbewußtsein, erhöhtem Beschäftigungstrieb besteht. Die M. kommt gewöhnlich im jugendlichen Alter von 17–27 Jahren und zuweilen im kräftigsten Mannesalter, wiederum häufiger im Greisenalter vor und befällt etwas häufiger das weibliche als das männliche Geschlecht. Bei aller Mannigfaltigkeit, welche der M. wie jeder andern Geisteskrankheit eigen ist, läßt sich gewöhnlich zuerst eine mißmutige, gereizte Stimmung, eine erhöhte Erregbarkeit, Eingenommenheit und Schmerzhaftigkeit des Kopfes bei den Kranken beobachten. Dazu gesellt sich Schlaflosigkeit, späterhin erhöhter, bis zur Rastlosigkeit sich steigernder Thätigkeitstrieb und Redseligkeit, welche namentlich dann auffallend ist, wenn bis dahin schüchterne, zurückhaltende Personen mit großer Lebhaftigkeit, treffender Wortbereitschaft und sprühendem Witz in der Gesellschaft die Unterhaltung an sich reißen und die staunenden Bekannten mit Bewunderung zu erfüllen wissen. Auf der Höhe der Krankheit artet diese fröhliche Stimmung (Amönomanie) und dieser Bewegungsdrang (Hyperkinesis) in lautes Singen, Lachen, Lärmen und wüstes Toben aus, wobei nicht selten weinerliche Stimmungen oder Zornesausbrüche mit unterlaufen. Zuweilen hält sich die M. in mittlern Graden der Intensität, zuweilen dauert sie monatelang in voller Raserei an. Das körperliche Aussehen der Kranken entspricht der Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen, das Gesicht ist gerötet, der Blick unstet, die Rede überstürzt, Puls und Atmung mäßig beschleunigt. Für die Unterscheidung der reinen M. von andern Geisteskrankheiten, z. B. der paralytischen, ist wichtig, daß weder Größenwahn noch Sinnestäuschungen (Halluzinationen) während des Tobens vorkommen.
Der Verlauf der M. gestaltet sich verschieden, je nachdem die Krankheit ihren Ausgang in Genesung nimmt oder nicht, was sich keineswegs aus der Stärke der Symptome vorhersagen läßt. Im erstern Fall wird nach 3–8 Monaten, zuweilen noch später, [191] das Toben schwächer, das Benehmen natürlicher, der Schlaf kehrt wieder, und die Kranken bekommen das Bewußtsein ihrer Krankheit und sind dann bald völlig genesen. Im schlimmen Fall zieht sich die Unruhe auf Jahre in die Länge, es gesellen sich Benommenheit, Unreinlichkeit, allmähliche Geistesschwäche hinzu, welche oft erst nach vielen Jahren den gänzlichen Verfall herbeiführen. Höchst selten reibt die Tobsucht auf der Höhe der Krankheit die Kräfte bis zur Erschöpfung auf, wenn nicht etwa andre körperliche Leiden zur M. sich hinzugesellen.
Unter den Ursachen spielt die Erblichkeit die Hauptrolle. Nächstdem kommen in Betracht Blutverluste und dadurch bedingte schlechte Ernährung des Gehirns, schwere Wochenbetten (Puerperalmanie), langdauernde Störungen des Monatsflusses, lange fortgesetzte Säfteverluste durch Stillen eines Kindes, Verletzungen des Schädels, Vergiftung mit Atropin. Im höhern Alter bringt die Rückbildung des Gehirns nicht so ganz selten diese Symptomengruppe zur Ausbildung, wobei natürlich die Aussicht auf Heilerfolg höchst gering ist, während im allgemeinen die M. zu den verhältnismäßig gutartigen Formen des Irrsinns zu zählen ist. Die Behandlung der M. richtet sich vorzugsweise gegen das Toben (Hyperkinesis) und die Schlaflosigkeit (Agrypnie). Man wendet Chloralhydrat mit Morphium, Einpackungen nach der Gräfenberger Methode und stundenlange lauwarme Bäder von 24–28° C. an. Jedenfalls ist dringend die Überführung der Patienten in eine Irrenanstalt anzuraten, da das Verbleiben in der Familie unberechenbare Gefahren nach sich ziehen kann.