Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kryptogāmen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 269270
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Kryptogāmen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 269–270. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kryptog%C4%81men (Version vom 12.04.2024)

[269] Kryptogāmen (Cryptogamae, griech., „Verborgen-ehige“), blütenlose Pflanzen, welche im Linnéschen System die 24. Klasse ausmachen und von Linné K. genannt wurden, weil sich bei ihnen eigentliche Blüten mit Geschlechtsorganen nicht finden. Gegenwärtig ist der geschlechtliche Charakter auch bei den K. in der weitesten Verbreitung nachgewiesen, und die Vorgänge des Sexualakts sind hier mehrenteils weit offenbarer als bei den Phanerogamen und erinnern viel bestimmter an die Verhältnisse im Tierreich. Der Unterschied zwischen K. und Phanerogamen beruht aber darauf, daß die letztern Samen entwickeln, welche sich erst von der Pflanze trennen, wenn in ihnen die Anlage einer neuen Pflanze als Embryo vorgebildet ist. Die Fortpflanzungsorgane der K. sind dagegen die Sporen oder Keimkörner, d. h. einfache Zellen oder aus nur wenigen einander gleichwertigen Zellen bestehende Körperchen, welche schon als solche von der Pflanze sich trennen und allmählich aus der einfachen Zelle zu einem neuen Individuum sich fortentwickeln. Trotzdem, daß dieser Unterschied vollkommen durchgreift, ist doch die Verwandtschaft der höhern Stufen der K. mit den Phanerogamen deutlich nachweisbar.

Die K. bilden nach ihren hauptsächlichen Gestaltverhältnissen zunächst zwei Gruppen. Bei der ersten, den Lager- oder Laubpflanzen (Thallophyta), finden sich noch nicht eigentliche Stengel, Wurzeln und Blätter; die Pflanze zeigt andre Bildungsgesetze und daher andre Formen, und man schreibt ihr darum ein Laub (Thallus) zu. In diese Abteilung gehören die Pilze, Algen und Flechten. Diese sind untereinander durch nur wenige vollkommen durchgreifende Merkmale unterschieden. Die Pilze sind sämtlich chlorophylllose, mithin nichtgrüne Pflanzen, welche sich von vorgebildeter organischer Substanz ernähren. Die Algen dagegen besitzen alle Chlorophyll; sie zersetzen Kohlensäure und Wasser im Licht, um daraus die zu ihrer Ernährung notwendigen organischen Verbindungen zu erzeugen. Die Flechten haben einen Thallus, welcher aus chlorophylllosen, mit denjenigen der Pilze übereinstimmenden und aus chlorophyllhaltigen, gewissen niedern Algen völlig gleichenden Zellen zusammengesetzt ist. Sie sind Pilze, welche auf Algen schmarotzen, und deren Thallus mit demjenigen der letztern zu einer neuen individuellen Einheit, dem Flechtenthallus, sich vereinigt hat (vgl. Flechten). Die niedern K. haben durch die erst in der neuern Zeit genauer bekannt gewordenen Arten ihrer Fortpflanzung ein besonderes Interesse gewonnen: erstens, weil bei vielen die Fortpflanzungszellen als tierähnlich bewegliche Individuen (Schwärmsporen) aus der Mutterzelle geboren werden, eine Erscheinung, die man bei ihrer Entdeckung als eine Umwandlung von Pflanzen in Tiere deutete; zweitens, weil bei mehreren eine geschlechtliche Zeugung vermittelst ausgeprägter Geschlechtsorgane beobachtet worden ist, und drittens, weil manche in ihrem Entwickelungsgang einen vollständigen Generationswechsel zeigen. Nach ihrer geschlechtlichen Fortpflanzung zerfallen die Thallophyten in die Klassen der Protophyten, wie Hefe, die Bakterien, bei welchen Geschlechtsorgane überhaupt fehlen, in die der Zygosporeen, wie die Diatomeen, Mucor u. a., bei denen der Geschlechtsakt in Kopulation zwischen gleichartigen beweglichen oder unbeweglichen Zellen besteht, ferner die der Oosporeen, wie Peronospora, Oedogonium, die Tange u. a., deren Befruchtung zwischen ungleichartigen, männlichen und weiblichen Organen, den Antheridien und Oogonien, stattfindet und als Produkt eine aus der Eizelle hervorgehende einzelne Spore, die Oospore, ergibt, endlich die der Karposporeen, wie die Schlauch- und Hutpilze, die Florideen u. a., bei denen durch die Wechselwirkung zwischen ungleichen Geschlechtsorganen ein zusammengesetzter Fruchtkörper (Sporokarpium) aus dem weiblichen Organ sich bildet, welcher erst die Sporen erzeugt (vgl. Algen und Pilze).

Den Thallophyten reihen sich als zweite Gruppe die blattbildenden K. (Cryptogamae foliosae) an. Auch hier entwickelt sich aus der keimenden Spore zunächst ein mehr oder minder ausgeprägtes thallusartiges Gebilde (Prothallium, Protonema, Vorkeim); aber in einer folgenden Periode schreitet die Pflanze zur Bildung echter Stämme fort, die mit Blättern besetzt, oft auch mit Wurzeln versehen sind, wie bei den Phanerogamen. Die innige Verwandtschaft der in diese Abteilung gehörigen Klassen, die eine deutlich fortlaufende Entwickelungsreihe des Pflanzenreichs bis zu den Phanerogamen ausmachen, zeigt sich vornehmlich in ihren Geschlechtsverhältnissen, zumal in der Beschaffenheit des weiblichen Organs. Während die Thallophyten nur zum Teil geschlechtlich sind, finden sich bei den blattbildenden K. Geschlechtsorgane ausnahmslos, und diese stellen hier ein notwendiges Glied im Entwickelungsgang der Pflanze dar. Die weiblichen Organe (Archegonien) sind im wesentlichen aus mehreren Zellen bestehende Gebilde, die eine größere zentrale Zelle (die Eizelle) einschließen und sich aufwärts in einen Halsteil fortsetzen, der an der Spitze anfangs geschlossen ist, später sich öffnet und nun einen nach dem Scheitel der Eizelle führenden Kanal darstellt, in welchen die Spermatozoiden behufs Befruchtung der Eizelle [270] eindringen. Letztere wird danach zu einem mehrzelligen Körper, dem Embryo, der dann eine je nach Klassen verschiedene weitere Entwickelung nimmt. Die männlichen Organe (Antheridien) bilden bei den meisten Klassen zellige Säckchen, deren Inhalt aus vielen die Spermatozoiden erzeugenden Zellen besteht; aber in den höchsten Klassen geht ihr Bau auf weit einfachere Verhältnisse zurück. Je nach der Periode des Pflanzenlebens, in welcher, und je nach dem Pflanzenteil, auf welchem die Archegonien erscheinen, und je nach dem Gebilde, welches aus der befruchteten Eizelle hervorgeht, gliedert sich die Klassifikation der blattbildenden K. Sie beginnen mit den Moosartigen (Muscineae), bei denen sich aus der keimenden Spore direkt oder nach Entwickelung eines meist fadenförmigen Vorkeims ein mit kleinen, einfach gebauten Blättchen besetzter Stengel bildet, der aber nie Wurzeln erzeugt, sondern nur mit Wurzelhaaren an seinem untern Teil versehen ist, das Moospflänzchen. Auf diesem werden an gewissen Stellen der Stengel die Archegonien und Antheridien gebildet. Der Embryo entwickelt sich hier, obgleich mit ihm eine neue Generation beginnt, dauernd auf dem Moospflänzchen, gleichsam als ob er nur ein Teil desselben wäre. Er wird zum Sporogonium, einem Gebilde, welches unmittelbar zur Erzeugung der Sporen bestimmt ist; sein wesentlicher Teil ist die Mooskapsel (theca), in deren Innerm sich zahlreiche Sporen durch Vierteilung von Mutterzellen bilden. An diese Abteilung schließt sich diejenige der Gefäßkryptogamen (Cryptogamae vasculares). Der Entwickelungsplan der hierzu gehörigen Klassen läßt sich dahin zusammenfassen, daß der Embryo, der bei den vorigen rasch und fast gänzlich zum sporenbildenden Organ sich ausbildet, hier zu einer immer vollkommnern Generation wird, die außer der Sporenerzeugung, mit welcher sie abschließt, mit immer mehr Bildungen sich bereichert und immer mehr Lebensfunktionen in ihre Sphäre zieht, während die erste Generation immer mehr zurücktritt, so daß die Erzeugung der Geschlechtsorgane, mit welcher die letztere abschließt, immer näher an die Keimung der Sporen heranrückt. Der Embryo wird hier nämlich zur eigentlichen Pflanze, zu einem mit echten Fibrovasalsträngen, die hier zum erstenmal im Pflanzenreich auftreten, versehenen Stamm, welcher im Boden echte, hier auch zum erstenmal erscheinende Wurzeln bildet und mit vollkommenen Blättern versehen ist. An gewissen Blättern oder gewissen Teilen derselben werden erst die Sporen innerhalb kleiner Behälter (Sporangien) gebildet. Die erste Generation dagegen, welche aus der keimenden Spore hervorgeht, bleibt hier ein unbedeutendes Organ, indem sie sich höchstens zu einem kleinen, flächen- oder knollenförmigen Gebilde entwickelt, an welchem unmittelbar die Geschlechtsorgane auftreten. Die Gefäßkryptogamen zerfallen in zwei Gruppen von Klassen. Bei der ersten sind alle Sporen von einerlei Art, und diese bringen auch alle dasselbe Gebilde zur Entwickelung, einen Vorkeim, auf welchem männliche und weibliche Geschlechtsorgane entstehen. Dieses sind die Isosporeen, welche die Gruppen der Farnkräuter (Filices), Schachtelhalme (Equisetaceae), Natterzungen (Ophioglosseae) und Bärlappe (Lycopodiaceae) umfassen. Bei der zweiten Gruppe, den Heterosporeen, kommen zweierlei Sporen vor: Mikrosporen und Makrosporen. Die erstern, von geringerer Größe, werden in großer Anzahl erzeugt; die letztern, beträchtlich größer, finden sich in geringerer Zahl. Gewöhnlich sind beide in besondern Sporangien, Mikro- und Makrosporangien, enthalten. Sie haben eine verschiedene Bedeutung für die Entwickelung der Pflanze, indem die Mikrosporen männlichen, die Makrosporen weiblichen Charakter haben. Bei der Keimung bilden nämlich die Mikrosporen direkt, oder nachdem sie in einen kurzen Schlauch ausgewachsen sind, Spermatozoiden, womit ihre Entwickelung abschließt. Die Makrosporen erzeugen auch nur einen rudimentären Vorkeim, welcher nicht mehr aus der Spore hervortritt; in demselben bilden sich am geöffneten Scheitel der Spore die Archegonien, deren Eizelle zum Embryo und weiterhin zur eigentlichen Pflanze sich entwickelt. Hierher gehören die Gruppen der Selaginellen (Selaginelleae), Isoeteen (Isoëteae) und Wurzelfrüchtler (Rhizocarpeae). Neuerdings teilt man die Gefäßkryptogamen in drei sehr natürliche Klassen, die der Farnkrautartigen (Filicinae), die der Schachtelhalmartigen (Equisetinae) und die der Bärlappartigen (Lycopodinae); die erste und dritte Klasse enthält sowohl isospore als heterospore Formen. Mit den Gefäßkryptogamen schließt das Reich der K. ab, sie bilden den Übergang zu den Phanerogamen, deren Typus sie schon nahezu erreicht haben; denn den Mikrosporen jener entsprechen die Pollenkörner dieser, die Makrospore dem Embryosack in den Samenknospen der Phanerogamen, das Endosperm derselben ist der rudimentäre, eingeschlossen bleibende Vorkeim, das Keimbläschen, die Eizelle; nur sind bei den Phanerogamen die Ausbildung der sexuellen Elemente und der Geschlechtsakt bis auf die Mutterpflanze zurückverlegt. Die Klassifikation der K. nach dem vorstehend angedeuteten Entwickelungsgang des Pflanzenreichs ist daher folgende:

I. Lagerpflanzen (Thallophyta).
1. Klasse. Geschlechtslose (Protophyta).
2.   Kopulierende Lagerpflanzen (Zygosporeae).
3.   Eisporenbildende Lagerpflanzen (Oosporeae).
4.   Sporenfruchtbildende Lagerpflanzen (Carposporeae).
II. Blattbildende K. (Cryptogamae foliosae).
A. Moosartige (Muscineae).
5. Klasse. Lebermoose (Hepaticae), die Riccieen, Anthoceroteen, Marchantiaceen und Jungermanniaceen umfassend.
6.   Laubmoose (Musci frondosi), nebst den Sphagnaceen oder Torfmoosen.
B. Gefäßkryptogamen (Cryptogamae vasculares).
7. Klasse. Farnkrautartige (Filicinae), nebst den Rhizocarpeae
8.   Schachtelhalmartige (Equisetinae).
9.   Bärlappartige (Lycopodinae), nebst den Isoeteen und Selaginelleen.