Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kreta“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 193194
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Kreta. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 193–194. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kreta (Version vom 15.06.2023)

[193] Kreta (neugriech. Kriti, türk. Kirid, ital. Candia), eine ein eignes Wilajet der Türkei bildende Insel im Mittelmeer, zwischen 23°31′–26°20′ östl. L. v. Gr. und 34°55′–35°41′ nördl. Br., südlich dem Ägeischen Meer vorgelagert, hat eine von W. nach O. langgestreckte Gestalt; ihre größte Ausdehnung in die Länge beträgt 255, die Breite 12–56 km, der Flächeninhalt 8618 qkm (156,5 QM.). Die Küsten der Insel sind fast überall steil, doch enthält die nördliche zahlreiche Buchten (Mirabella-, Armyro-, Suda-, Kanea-, Kisamobai) und vorspringende Felsenvorgebirge, welche mehrere vortreffliche und geräumige Häfen bilden, während der stellenweise ganz unzugänglichen Südküste solche mangeln. Von den Vorgebirgen sind die bekanntesten: Kap Busa und Kap Spatha (Psacum promontorium) im W., die Vorgebirge Sidero und Salmone (Samonium promontorium) im O., Kap Lithinos als südlichster Vorsprung. Das Innere Kretas wird von einer in vier Gruppen gesonderten Gebirgskette durchzogen, welche nahe der Mitte der Insel in dem aus drei Spitzen bestehenden Ida oder Psiloriti 2456 m Höhe erreicht. Der westliche Teil dieser Gebirgskette sind die Weißen Berge oder das Madarasgebirge, im Theodoro 2469 m hoch, daher nur in den Sommermonaten frei von Schnee; den östlichen Teil bilden das Lasithigebirge (2164 m) und das gänzlich abgesonderte Gebirge des Aphentis (ehemals Dikte). Die Gebirge bestehen aus grauem oder schwärzlichem, halbkristallinischem Kalkstein, der von dünnen Lagen Schiefer durchsetzt ist. Bemerkenswerte Ebenen sind die von Kandia, Kanea, die Mesará, Pediada etc. Die Insel ist reich an gutem Trinkwasser, aber die Flüsse sind eigentlich nur Gießbäche; die beträchtlichern sind der Mylopotamo auf der Nord- und der Mitropolipotamo auf der Südküste. Das Klima ist überaus mild und gesund; nur wenn aus Afrika der Scirocco herüberweht, glüht die Luft in furchtbarem Dunst, und die Hitze steigt auf 36–40° C. Im Winter kennt man in den Ebenen nur Regen, und erst wenn das Thermometer auf 4–7° fällt, hüllen sich die Berggipfel in Schnee. Im Sommer regnet es nie, aber bei der Nähe des Meers ist der Tau sehr stark. Das Erdreich bleibt während des ganzen Jahrs grün, und Orangenbäume, Rosen, Hyazinthen, Narzissen, Levkojen etc. blühen beständig. Der Boden ist im allgemeinen felsig und sandig, lohnt aber die Kultur in hohem Grad, wie schon im Altertum der Wein, das Öl und der Honig von K. berühmt waren. Gegenwärtig ist jedoch der Anbau sehr vernachlässigt. Man gewinnt nicht ausreichend Getreide. Ausgedehnt sind nur die Olivenwälder; auch der Ladanumstrauch, schöner Flachs, Tabak, Süßholz, der Johannisbrotbaum, Wein, Mandeln und Südfrüchte wachsen reichlich. Die Wälder bestehen besonders aus Eichen und Platanen; auch Myrtensträucher finden sich häufig. Auf der Südabdachung gedeihen schon Palmen. Die einzigen Ausfuhrartikel sind: Öl, Wein, Honig, Wachs, vortreffliche Seide und der Sphakiakäse, welcher in der Levante allgemein gesucht ist. Aus dem Tierreich besitzt die Insel Rindvieh, kleine, lebhafte Pferde, Wildschweine, Wölfe und Jagdwild verschiedener Art. Das Mineralreich liefert nur Kalksteine, Gips, Wetzsteine und Schiefer. Die Bevölkerung besteht größtenteils aus Griechen und wurde 1873 auf 234,213 Christen, 37,840 Mohammedaner, 3200 Juden, zusammen 275,253 Einw. geschätzt; für 1879 gibt das offizielle Salname allein 224,623 männliche Bewohner an. Diese Einteilung nach dem Bekenntnis deckt sich aber keineswegs mit derjenigen nach der Nationalität und Sprache, da die überwiegende Mehrzahl der Bekenner des Islam der Sprache, Abstammung und Sitte nach Griechen sind. Am reinsten hat sich das alte griechische Blut bei den Sphakioten erhalten, welche die fast uneinnehmbaren Thäler und Hochebenen des Madarasgebirges bewohnen und erst beim letzten Aufstand 1868 völlig von den Türken unterworfen wurden. Fast nur in der Stadt Kandia findet man wirkliche Türken, ferner bei Kanea eine Araberkolonie von einigen tausend Seelen. Die der griechischen Kirche angehörigen Bewohner stehen unter 15 Bischöfen. Gewerbfleiß, Handel und Schiffahrt liegen danieder; die unter venezianischer Herrschaft noch so blühenden Häfen sind fast alle versandet, die meisten Städte liegen in Trümmern. Der Haupthafen und Haupthandelsplatz ist die Stadt Kanea (s. d.), westlich von Kandia, in der danach benannten Bucht. Administrativ bildet die Insel mit den umliegenden Eilanden Dia, Gavdos, Gavdopulo ein türkisches Wilajet, das in die fünf Sandschaks Kandia, Kanea, Laschid, Retimo und Sphakia zerfällt. Hauptstadt ist Kandia (s. d.). S. Karte „Griechenland“.

Geschichte. In der ältesten griechischen Zeit bestand auf dem von Doriern besetzten, 100städtigen K. das Königreich des weisen Minos (s. d.). Zwei bedeutende Städte lagen an der Nordküste: im W. Kydonia (woher die Quitten den Namen haben), im O., landeinwärts vom heutigen Kandia, Knosos, des Minos Residenz; am Südabhang lag Gortyna. Nach der [194] Unterdrückung der kretischen Seeräuber durch Metellus Creticus (67 v. Chr.) waren die Römer Herren der Insel. Später den griechischen Kaisern gehörend, wurde sie diesen 823 n. Chr. von den Arabern entrissen. Nikephoros Phokas eroberte sie 961 wieder, und sie blieb nun den Griechen, bis Konstantinopel 1204 von den Kreuzfahrern erobert wurde, worauf sie in die Hände der Genuesen und dann der Venezianer geriet, welche sie bis 1645 behaupteten. Die Hauptstadt Kandia ging aber erst nach einer dreijährigen, höchst blutigen Belagerung, wobei fast 150,000 Menschen geopfert wurden, 1668 an die Türken über, unter deren Herrschaft die Insel verwilderte. Im griechischen Aufstand nahm sie Mehemed Ali von Ägypten als Ersatz für die Kriegskosten dem Sultan weg, mußte sie ihm jedoch 1841 wieder herausgeben. Als durch die Entthronung König Ottos in Griechenland die national-hellenische Bewegung sich wieder belebt hatte und die Mißernten der Jahre 1863–65 den türkischen Steuerdruck wieder recht empfindlich machten, kam es 1866 zu einem allgemeinen Aufstand gegen die Fremdherrschaft, dessen Bekämpfung wegen der gebirgigen Beschaffenheit der Insel den durch 6000 Ägypter verstärkten Türken große Schwierigkeiten verursachte. Überdies wurde der Aufstand von Griechenland aus durch Freiwillige und Geldsendungen unterstützt, und selbst die Großmächte, außer England, rieten der Pforte zur Abtretung der Insel an Griechenland. Diese wurde abgelehnt, und die Neutralen beschränkten sich darauf, die Einwohner vor der Rache der Türken nach Griechenland in Sicherheit zu bringen. 1867 gelang es endlich Omer Pascha, durch kombinierte Operationen den Aufstand einzuengen und durch rücksichtslose Strenge die Ruhe in dem okkupierten Gebiet zu erhalten. Zugleich gewährte die Pforte eine allgemeine Amnestie und zeigte sich zu Reformen bereit. Der Großwesir Aali Pascha selbst begab sich im Oktober 1867 nach K. und berief eine Delegiertenversammlung nach Kanea, deren Vorschläge, namentlich ein mehrjähriger Steuererlaß, bewilligt wurden. Nun erlahmte der Aufstand; die Mächte, durch die türkischen Zugeständnisse zufriedengestellt, lehnten jede fernere Unterstützung ab und zwangen auch Griechenland Anfang 1869, alle Verbindung mit K. abzubrechen. Nach 21/2jährigem Kampf ward so K. wieder den Türken unterworfen, welche sich übrigens bemühten, den Einwohnern ihre Herrschaft weniger drückend zu machen. Namentlich gewährte Mukhtar Pascha, der 1878 zur Dämpfung neuer Unruhen nach K. geschickt wurde, den Einwohnern erhebliche Zugeständnisse, wie die Berufung einer aus christlichen und mohammedanischen Deputierten gebildeten Provinzialversammlung, finanzielle Selbständigkeit, Beschränkung der Dienstpflicht auf die Gendarmerie u. dgl. Auch wurde ein Grieche, Photiades, zum Generalgouverneur ernannt. Ganz wurden die Opposition der christlichen Einwohner gegen die türkische Herrschaft und die Annexionsgelüste der Griechen damit allerdings nicht erstickt. Vgl. Höck, Kreta. Ein Versuch zur Aufhellung der Mythologie und Geschichte, der Religion und Verfassung dieser Insel (Götting. 1823–29, 3 Bde.); Spratt, Travels and researches in Crete (Lond. 1865, 2 Bde.); Raulin, Description de l’île de Crète (Par. 1859–69, 3 Bde.); Elpis Melena, Kretische Volkslieder etc. (Münch. 1874); „Kretas Volkslieder“, in der Ursprache mit Glossar herausgegeben von Jeannaraki (Leipz. 1876); Stillmann, The Creta-Insurrection 1866–1868 (New York 1874); Löher, Kretische Gestade (Bielef. 1877). Gute Karten der Insel lieferten Spratt und H. Kiepert (letzterer in der Berliner „Zeitschrift für Erdkunde“ 1866).


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 509
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[509] Kreta. Im Sommer 1889 brach wieder einmal ein Aufstand in K. aus, wo sich der Generalgouverneur Sartinsky Pascha nicht die Sympathien der christlichen Bevölkerung erworben hatte. Die Aufständischen besetzten das Gebirge von Sfakia und verkündeten die Vereinigung der Insel mit Griechenland als ihr Ziel. Die griechische Regierung trat in einer Note an die Mächte vom 6. Aug. für den Aufstand ein. Die Pforte schickte Schakir Pascha mit bedeutenden Streitkräften nach K., welcher auch bald den Aufruhr unterdrückte. Darauf wurde eine Amnestie erlassen und durch einen Ferman Reformen, namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet, versprochen; beide Erlasse erschienen aber den Christen nicht genügend uno beschwichtigten die Unzufriedenheit nicht. Die griechische Regierung hatte daher Mühe, sich des Drängens der kretischen Flüchtlinge auf Intervention zu erwehren.


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 504
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[504] Kreta. Schakir Pascha kehrte 1890 nach der Unterdrückung des letzten Restes des Aufstandes nach Konstantinopel zurück, doch war die Zufriedenheit der christlichen Bevölkerung noch nicht hergestellt. Dies zeigte sich bei den Neuwahlen für die Nationalversammlung im Juni 1890, bei denen die christlichen Einwohner sich teilweise der Wahl ganz enthielten und die gewählten Abgeordneten das auf sie gefallene Mandat nicht annahmen, so daß die Versammlung nicht zusammentreten konnte.