Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kānon“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 9 (1887), Seite 463
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Kānon. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 9, Seite 463. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:K%C4%81non (Version vom 25.04.2021)

[463] Kānon (griech.) bezeichnet in der Kirchensprache teils das Verzeichnis der biblischen Bücher, welche für inspiriert gelten und in den gottesdienstlichen Versammlungen gelesen werden, im Gegensatz zu den Apokryphen (s. Kanonische Bücher), teils jede kirchliche Vorschrift und Regel, daher später besonders gebraucht im Gegensatz zum bürgerlichen Gesetz (kanonisches Recht); ferner die Gebetsformel der römischen und griechisch-katholischen Kirche vor, bei und nach der Konsekration in der Messe (Meßkanon) sowie ein bestimmter Kirchengesang der griechischen Kirche; endlich das Verzeichnis der von der Kirche anerkannten Heiligen. – In der Philosophie heißt K. jeder Grundsatz und in der kritischen Philosophie die Wissenschaft vom richtigen Gebrauch des Erkenntnisvermögens; daher Titel einer Schrift Epikurs, worin dieser die obersten Grundsätze des Denkens zusammengestellt und erörtert hat. – In der Mathematik, vorzüglich in der Algebra, ist K. eine allgemeine Formel, die bei Lösung einer Aufgabe herauskommt, und nach welcher die unter der allgemeinen Aufgabe begriffenen Exempel auszurechnen sind. – In der bildenden Kunst bezeichnet das Wort K. Statuen, die als Muster gelten, vorzüglich in Hinsicht auf die Verhältnisse des menschlichen Körpers (s. Proportion). Die Bezeichnung rührt von einem berühmten Werk des griechischen Bildhauers Polyklet, der Statue eines Speerträgers (Doryphoros, s. d.), her, welche ihrer den Künstlern als Vorbild dienenden Proportionen wegen den Beinamen K. erhielt. (Vgl. Friederichs, Der Doryphoros des Polyklet, Berl. 1863) Auch die Künstler des alten Ägypten hatten ihren K., eine feststehende Regel der Verhältnisse des menschlichen Körpers. Sie pflegten nämlich nach bestimmt proportionierten Modellen zu arbeiten, die sie in ein Netz von Quadraten einzeichneten, um so für jeden Punkt die entsprechende Lage festzuhalten. Für die menschliche Gestalt bildete die Einheit dieses Kanons nach einigen die Länge des Fußes, nach andern des mittlern Fingers. Nach Diodor hätten die Ägypter den Körper vom Scheitel bis zur Sohle in 21¼ Teile zerlegt. Aber die mancherlei Zeichnungen und Skulpturen, die noch unvollendet und mit solchen Quadratierungen versehen erhalten sind, weichen in der Zahl der Quadrate, welche auf die Körperlänge kommen, zwischen 15 und 23 so erheblich voneinander ab, daß man zwei oder drei verschiedene Proportionsregeln, welche die Ägypter nacheinander befolgt hätten, aufstellen zu müssen geglaubt hat. Als zwei verschiedene Kanons der Proportion kann man jedoch nur im allgemeinen die ältere Epoche der ägyptischen Kunst, welche mehr Kraft und Fülle auszeichnet, und die jüngere, welche Eleganz und Zierlichkeit anstrebt, gelten lassen. – In der Philologie versteht man unter K. das von den alexandrinischen Grammatikern herrührende kritische Verzeichnis der alten Schriftsteller. – In der Chronologie nennt man K. Zeittafeln bestimmter Art, z. B. die der sogen. Goldenen Zahl, der Epakten, der Ostern; in der Astronomie vorzüglich Tafeln für die Bewegungen der Himmelskörper etc. – In der Rechtssprache ist K. Bezeichnung für eine jährliche Geldabgabe von Grundstücken, Häusern, also s. v. w. Erb-, Grundzins, Gült etc. – In der Buchdruckerkunst versteht man darunter eine Art großer Lettern, mit denen ehedem die Meßkanons gedruckt wurden, die jetzt aber gewöhnlich nur auf Titeln, Anschlagzetteln etc. Anwendung finden; kleine K. hält 32 oder auch 36, grobe K. 40 oder 48 typographische Punkte (vgl. Schriftarten).