Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Gehirn“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 17
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Gehirn. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 1–7. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gehirn (Version vom 01.12.2024)

[1] Gehirn (Hirn), bei den Wirbeltieren (mit Ausnahme der Leptokardier) der vorderste, im Kopf gelegene Abschnitt des Zentralnervensystems, der sich von seiner Fortsetzung nach hinten, dem Rückenmark, gewöhnlich durch kompliziertern Bau und größere Weite unterscheidet, von Haus aus jedoch nur das Vorderende desselben darstellt. Bei Wirbellosen (z. B. den Insekten) nennt man häufig G. die über dem Schlund gelegene Nervenmasse im Gegensatz zu dem

Fig. 1. Fig. 2.
Gehirn des Kaninchens.
Fig. 1 von oben (rechts geöffnet, um die Hirnhöhlen zu zeigen); Fig. 2 von unten, mit den Ursprungsstellen einiger Nerven. a Riechlappen, b Vorderhirn, c Kleinhirn, d verlängertes Mark, e Mittelhirn, f Hirnanhang (Hypophysis).

unter demselben verlaufenden Bauchmark (s. Nervensystem). – Das G. der Wirbeltiere ist seiner Entstehung beim Embryo zufolge gleich dem Rückenmark ein Rohr, dessen Höhlung aber nicht an allen Stellen gleich weit ist, und dessen Wandungen von Nervenzellen und Nervenfasern gebildet werden. Vorn ist das Rohr geschlossen, hinten setzt es sich in das Rückenmark fort; es zerfällt in fünf blasenartige Abschnitte, das Vorder-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Nachhirn. Diese liegen jedoch nicht genau hintereinander, vielmehr ist das Rohr gewöhnlich an der Grenze zwischen Mittel- und Hinterhirn geknickt. Der beim Embryo stark entwickelte Hohlraum schwindet bei den erwachsenen Tieren mehr, indessen lassen sich Reste davon auch beim Menschen noch als die sogen. Hirnhöhlen erkennen. Nach vorn zieht sich das Vorderhirn in zwei kleinere Höhlen, die sogen. Riechlappen (Textfig. 1 u. 2 a), aus, von denen die Riechnerven entspringen; in ähnlicher Weise bildet seitlich je eine Ausbuchtung desselben Hirnteils die Anlage des Auges. Was das Verhältnis der einzelnen Abschnitte des Gehirns zu einander betrifft, so nimmt mit der Ausbildung der Intelligenz das Vorderhirn bedeutend zu und überwiegt daher bei vielen Säugetieren so sehr, daß es als sogen. großes G. (b) die übrigen Teile nahezu und beim Menschen sogar ganz bedeckt. Es ist bei fast allen Wirbeltieren in zwei nebeneinander liegende Hälften (Hemisphären oder Lappen des großen Gehirns) geteilt und bei starker Ausbildung an seiner Oberfläche mit Furchen und Falten versehen, so daß es, wenn man diese glätten wollte, im Schädel nicht Raum genug finden würde. Von den andern Hirnabschnitten sind die beiden letzten, Hinter- und Nachhirn, gewöhnlich als kleines G. (c) und verlängertes Mark (d) bezeichnet, stets stark entwickelt, während Zwischen- und Mittelhirn (e) gewöhnlich an Masse unbedeutend sind.

Das Gehirn des Menschen.
(Hierzu Tafel „Gehirn des Menschen“.)

Beim Menschen hat das G. eine nahezu eiförmige Gestalt und ein Durchschnittsgewicht von etwas über 1400 g beim Mann und etwas über 1300 g beim Weib (Genaueres s. unten); es erreicht dieses und seine bleibende Größe schon im 7.–8. Lebensjahr. Von den schon erwähnten fünf Teilen faßt man drei als Unter- oder Mittelhirn (subencephalon, mesencephalon) zusammen und bezeichnet außerdem noch besonders das kleine (cerebellum) und das große G. (cerebrum). Letzteres macht etwa sechs Siebentel der ganzen Hirnmasse aus und bedeckt den Rest derselben völlig. Von obenher wird es durch eine tiefe Längsspalte (s. Tafel, Fig. 3) in die zwei Hemisphären geteilt, welche unter sich durch den sogen. Balken (corpus callosum, Fig. 1 u. 2), mit dem Mittelhirn durch die beiden Großhirnschenkel (pedunculi cerebri, Fig. 2) verbunden sind, mit dem Kleinhirn aber direkt gar nicht zusammenhängen. Die gesamte Oberfläche der Großhirnhemisphären zeigt eine eigentümliche Faltung, wodurch die Hirnwindungen (gyri) entstehen. Dies sind Wülste (Fig. 3) von 5–17 mm Breite, die durch enge, aber [2] 14–27 mm tiefe Thäler äußerlich voneinander gesondert werden und die Oberfläche des Gehirns etwa acht- bis zehnmal größer machen, als sie ohne dieselben sein würde. Eine besonders tiefe Falte, die Sylviussche Grube (fossa Sylvii, Fig. 4), auf der untern Fläche (Basis) des Großhirns scheidet es in zwei Lappen, den vordern und mittlern; letzterer geht ohne scharfe Grenze in den hintern (Fig. 3) über. Die schon erwähnten Höhlungen der Hemisphären, die sogen. Seitenventrikel (ventriculi cerebri, Fig. 2), sind sehr eng und niedrig, enthalten etwas wässerige Flüssigkeit und haben zwischen sich eine Scheidewand, deren hinterer Teil Gewölbe (fornix, Fig. 1 u. 2) heißt, an der Basis des Gehirns von den Markhügeln (corpora candicantia, Fig. 1 u. 4) ausgeht und durch eine kleine Öffnung, das sogen. Monrosche Loch (foramen Monroi), die Seitenventrikel mit der dritten Hirnhöhle (s. unten) kommunizieren läßt. Jeder Ventrikel hat drei Ausläufer (Hörner), die sich weit in die Lappen des Großhirns erstrecken, und deren Wandungen zum Teil besondere Namen (Ammonshorn, Seepferdefuß etc.) erhalten haben. – Das Großhirn besteht in seiner ganzen Masse aus einer etwa 5 mm dicken Rindenschicht (Hirnrinde) von grauer Farbe und großem Reichtum an Ganglienzellen und der darunter gelegenen weißen, aus Nervenfasern, die in allen möglichen Richtungen verlaufen, zusammengesetzten Markschicht. Die graue Rinde macht etwa 40 Proz. des Gesamtvolumens des Großhirns aus; die Anzahl der Ganglienzellen schätzt man auf Milliarden, sie sind hier dichter angehäuft als an irgend einer andern Stelle des Nervensystems. Das Zwischenhirn ist sehr unbedeutend; seine Höhle, der sogen. dritte Ventrikel, verlängert sich nach der Basis des Gehirns zu in einen kleinen geschlossenen Trichter (Fig. 2), an dem ein solider Körper, der sogen. Hirnanhang (hypophysis cerebri, auch Schleimdrüse, glandula pituitaria, genannt, Fig. 1; s. ferner Tafel „Nerven I“, Fig. 1), sitzt. Dieser, von der Größe einer kleinen Kirsche, geht beim Embryo zum größten Teil aus einem sich abschnürenden Stück der Rachenschleimhaut hervor und ist beim Erwachsenen ohne jede Bedeutung. Ähnlich verhält es sich mit der Zirbeldrüse (glandula pinealis oder epiphysis cerebri), in der man wohl den Sitz der Seele gesucht hat. Auch sie ist ein Rest einer während der Entwickelung im Ei auftretenden Bildung, nämlich ein Stück des Kanals, durch welchen das Gehirn zu jener Zeit mit der Außenfläche des Kopfes in Verbindung steht. Beim Erwachsenen hat sie die Größe einer Kirsche und enthält in ihrem Innern den Hirnsand, d. h. Kalkkörperchen. Den Hauptteil des Zwischenhirns bilden die Sehhügel (thalami nervi optici), von denen ein Teil der Fasern des Sehnervs herkommt. Die Höhle des Mittelhirns ist ein sehr enges Rohr, die sogen. Sylviussche Wasserleitung (aquaeductus Sylvii), und kommuniziert vorn mit dem dritten Ventrikel, hinten mit der Höhle des Hinterhirns. Am Mittelhirn selbst sind die Vierhügel (corpora quadrigemina) bemerkenswert. Das Hinterhirn oder kleine G. (cerebellum) zerfällt gleich dem großen G. in zwei Hemisphären (Fig. 4) und einen sie verbindenden mittlern Teil (Wurm, vermis). Die hier nur etwa 3 mm dicke Rindenschicht, in ihrem Bau ähnlich derjenigen des Großhirns, ist in regelmäßige Falten gelegt, so daß ein senkrechter Schnitt durch das Kleinhirn eine eigentümliche baumförmige Zeichnung zu Tage treten läßt (Lebensbaum, arbor vitae, Fig. 1). Die im Kleinhirn befindliche Höhle bildet zusammen mit der im verlängerten Mark den sogen. vierten Ventrikel. Das Nachhirn oder verlängerte Mark (medulla oblongata, Fig. 4) geht nach hinten unmittelbar in das Rückenmark über und ist demselben in der Verteilung der sogen. weißen und grauen Substanz gleich (s. Rückenmark). Man unterscheidet an ihm mehrere Teile, von denen die Varolsbrücke (Brücke, pons Varoli, Fig. 1 u. 4) einer der wichtigsten ist, indem sie die Verbindung des verlängerten Markes mit dem übrigen G. bewerkstelligt.

Das G. ist gleich dem Rückenmark in einen häutigen Sack eingeschlossen, welcher aus drei Schichten oder Gehirnhäuten (meninges) besteht. Die äußerste oder harte Hirnhaut (dura mater, Fig. 2) ist stark, sehnig, außen mit dem Schädelknochen verwachsen, innen glatt und feucht. An einzelnen Stellen spaltet sie sich in zwei Blätter, in deren Zwischenraum (Blutleiter, sinus durae matris, Fig. 1 u. 2, und Tafel „Nerven I“, Fig. 1) je eine Vene verläuft. In die Masse des Hirns hinein gehen von der harten Hirnhaut aus mehrere Fortsätze, welche die einzelnen Teile desselben in ihrer Lage erhalten helfen und zugleich den großen Venen ihre Bahn anweisen. Es sind dies die große und kleine Hirnsichel (falx cerebri und f. cerebelli, Fig. 2) sowie das Hirnzelt (tentorium cerebelli, Fig. 1). Die innerste der drei Hirnhäute, die weiche Hirnhaut oder Gefäßhaut (pia mater), ist zart, dünn, an Blutgefäßen außerordentlich reich; von ihr aus wird das G. ernährt, indem ihre feinen Blutgefäße allenthalben strahlenförmig in die Hirnmasse eindringen. Zwischen ihr und der harten Haut liegt die sogen. Spinnwebenhaut (arachnoidea), eine zarte, durchsichtige Haut, welche das G. mäßig fest umschließt, aber nicht gleich der Gefäßhaut in die Hirnwindungen eindringt, sondern brückenartig über sie hinwegzieht. Die so zwischen diesen beiden Häuten bleibenden Räume sind mit Lymphe erfüllt. Dem G. wird das viele zu seiner Ernährung bestimmte Blut durch vier Gefäße zugeführt, nämlich durch ein Paar Gehirnschlagadern (carotis interna) und ein Paar Wirbelschlagadern (arteria vertebralis); das verbrauchte Blut sammelt sich aus den Hirnvenen in den beiden Querblutleitern und ergießt sich von da in die beiden innern Drosselvenen (vena jugularis interna).

Von der Hirnbasis gehen zwölf Paar Nerven, Gehirnnerven, ab und zwar in der Richtung von vorn nach hinten folgende (vgl. Fig. 4 und Tafel „Nerven I“): Erstes Paar, die Riechnerven (nervi olfactorii), stammen von dem ursprünglich hohlen sogen. Riechkolben des Vorderhirns, verlassen den Schädel durch die Löcher der Siebplatte des Riechbeins und verbreiten sich in der Schleimhaut der Nasenscheidewand (s. Nase). Zweites Paar, die Sehnerven (n. optici), deren Fasern aus dem Sehhügel und den Vierhügeln stammen, endigen in der Netzhaut des Augapfels. Sie bilden kurz nach ihrem Ursprung eine Kreuzung (s. Auge, S. 75). Drittes Paar, die Augenmuskelnerven (n. oculomotorii), kreuzen sich gleichfalls noch innerhalb der Schädelhöhle und versorgen diejenigen Augenmuskeln, welche nicht vom vierten und sechsten Nervenpaar innerviert werden; dienen auch zur Verengerung der Pupille. Viertes Paar, die Rollmuskelnerven (n. trochleares s. pathetici), entspringen aus den Vierhügeln und gehen zu dem schiefen obern Augenmuskel. Fünftes Paar, die dreigeteilten Nerven (n. trigemini), bestehen aus einer vordern Wurzel, welche aus der Brücke stammt, und aus einer hintern Wurzel, welche aus dem verlängerten Mark hervorgeht. Sie besitzen

[Beilage]

[Ξ]

Gehirn des Menschen.
Fig. 1. Kopf und Hals, in der Mitte von vorn nach hinten durchschnitten.
Fig. 2. Das Gehirn in der Schädelkapsel, von rechts nach links senkrecht durchschnitten.
Fig. 3. Das große Gehirn, von oben gesehen.
Fig. 4. Die Basis des Gehirns.

[3] je ein großes Ganglion (ganglion Gasseri) und lösen sich in drei Äste auf, welche gesondert die Schädelhöhle verlassen. Von diesen tritt der erste in die Augenhöhle und ist für die Weichteile derselben und die Stirn bestimmt; der zweite verbreitet sich in der Gegend des Oberkiefers; der dritte geht zu den Kaumuskeln und verbreitet sich im Bereich des Unterkiefers und der Zunge. Sechstes Paar, die äußern Augenmuskelnerven (n. abducentes), entspringen aus dem verlängerten Mark und versorgen den äußern geraden Augenmuskel. Siebentes Paar, die Gesichtsnerven (n. faciales), kommen vom verlängerten Mark und vom Boden der vierten Hirnhöhle her, treten durch einen besondern Kanal des Felsenbeins hindurch und sind für die sämtlichen Muskeln des Kopfes und Gesichts, mit Ausnahme der Kaumuskeln, bestimmt. Achtes Paar, die Gehörnerven (n. acustici), entspringen vom Boden der vierten Hirnhöhle und endigen in der Schnecke und in dem Säckchen des Vorhofs (s. Ohr). Neuntes Paar, die Zungen-Schlundkopfnerven (n. glossopharyngei), stammen aus dem verlängerten Mark, versorgen die Rachengebilde und verbreiten sich in der Schleimhaut des Zungenrückens. Sie sind die eigentlichen Geschmacksnerven (s. Zunge). Zehntes Paar, die herumschweifenden oder Lungen-Magennerven (n. vagi), stammen gleichfalls aus dem verlängerten Mark und geben Nerven für den Schlundkopf, den Kehlkopf, das Herz, die Lungen, die Speiseröhre und den Magen ab (s. Vagus). Elftes Paar, die Beinerven (n. accessorii), entspringen aus dem Halsmark, steigen nach oben durch das Hinterhauptsloch in die Schädelhöhle, legen sich an den Nervus vagus und endigen im Kopfnicker und in dem Kappenmuskel an der Schulter. Zwölftes Paar, die Zungenfleischnerven (n. hypoglossi), stammen aus dem Rückenmark und verbreiten sich an den Muskeln des Zungenbeins und der Zunge.

Was den feinern Bau des Gehirns betrifft, so wird es im wesentlichen aus Nervenfasern und Ganglienzellen zusammengesetzt, zwischen denen sich ein Gerüst von feinen Bindegewebszellen (sogen. Nervenkitt, neuroglia) befindet. Die Unterscheidung der letztern von den kleinern Ganglienzellen ist jedoch sehr schwer. Die Ganglienzellen sind meist zu bestimmten Gruppen (Nestern) angeordnet, bis zu denen sich in manchen Fällen der Ursprung der einzelnen Hirnnerven verfolgen läßt. Man bezeichnet diese daher als Nervenkerne. Genaueres über den Verlauf der Nervenfasern im Großhirn ist trotz zahlreicher Arbeiten noch wenig ermittelt. Die Hirnnerven, mit Ausnahme der beiden ersten Paare, haben gleich den Rückenmarksnerven je eine vordere und hintere Wurzel mit verschiedener Funktion (s. Rückenmark); doch sind die hintern Wurzeln meist sehr schwach entwickelt, auch haben sonst sowohl Verschmelzungen ursprünglich gesonderter Nerven als auch Auflösungen einheitlicher Nerven in mehrere Bündel stattgefunden, so daß beim Menschen und den übrigen höhern Wirbeltieren diese Verhältnisse noch lange nicht aufgeklärt worden sind. Die Auffassung der Hirnnerven als Rückenmarksnerven ist für die Schädeltheorie (s. d.) von Wichtigkeit.

Gewicht und Größe des Gehirns schwanken sehr beträchtlich nach Alter, Geschlecht, Körpergröße und darum auch nach der Rasse. So wiegt das deutsche G. im Mittel 100 g mehr als das französische, etwa 300 g mehr als das der Hindu. Der Unterschied im Hirngewicht zwischen Mann und Weib ist um so größer, je höher die Rasse steht; dasselbe gilt von den Differenzen innerhalb desselben Geschlechts. Das größte Gewicht beträgt bei Männern etwa 1500 g. Vergleichungen sind übrigens äußerst schwierig, zumal man in vielen Fällen dieselben nicht auf das G. selbst, sondern nur auf den Hohlraum des Schädels basieren kann.

Physiologisches.

Vergleichend-anatomische Untersuchungen, welche zeigten, daß sich in der Tierreihe eine um so bedeutendere Entwickelung der Psyche findet, je mächtiger entwickelt das G. ist, Beobachtungen am Krankenbett und am Seziertisch, welche ergaben, daß der normale Ablauf seelischer Funktionen an die normale Beschaffenheit des Gehirns, resp. bestimmter Abschnitte desselben geknüpft seien, und endlich das physiologische Experiment haben den unumstößlichen Beweis geliefert, daß das G. als das Organ der Seelenthätigkeit aufgefaßt werden muß. Als Seele bezeichnet man den Inbegriff aller Vorstellungen eines Organismus. Der physiologischen Forschung ist für die Erklärung der seelischen Funktionen kein Angriffspunkt geboten; nicht das Wesen der Seele, sondern nur ihr Eingreifen in materielle Prozesse, z. B. die Erregung motorischer Nervenfasern durch das Willensorgan, kann Gegenstand des physiologischen Experiments sein.

Trägt man bei einem Frosch die Großhirnhemisphären ab, so ist dem Tier das bewußte Wollen vollständig abhanden gekommen. Sich selbst überlassen, sitzt das Tier ruhig da, kann jedoch durch Anwendung geeigneter Reize zu allen von einem gesunden Frosch ausführbaren Bewegungen, Schwimmen, Hüpfen etc., veranlaßt werden. Legt man ihn auf den Rücken, so nimmt er nach kurzem seine natürliche Haltung wieder an; bringt man ihn in irgend eine andre abnorme Stellung, so sucht er alsbald seinen Schwerpunkt in geeigneter Weise zu stützen; wirft man ihn ins Wasser, so beginnt er zu schwimmen; kneipt man ihn ins Bein, so hüpft er von dannen; streicht man ihm sanft die Flanken, so quakt er, und die Laute erfolgen hierbei so regelmäßig, daß man das Tier fast wie einen musikalischen Apparat behandeln kann. Entfernt man bei einer Taube die Großhirnhemisphären, so gleicht das Tier vollständig einem gewöhnlichen schlafenden Vogel; läßt man das Tier in Ruhe, so bleibt es teilnahmlos und bewegungslos sitzen. Bringt man es in eine Seiten- oder Rückenlage, so richtet es sich auf, um sich in eine bequemere Lage zu bringen; wirft man es in die Luft, so fliegt es alsbald von dannen, um sich nach einiger Zeit wieder ruhig niederzulassen. In den Schnabel gebrachtes Futter wird verschluckt, und es gelingt bei künstlicher Fütterung, die Tiere monatelang am Leben zu erhalten. Höhere Säugetiere gehen nach der Zerstörung der ganzen Großhirnhemisphären alsbald zu Grunde, nachdem sie im übrigen ähnliche Erscheinungen gezeigt haben; indessen bleiben sie nach mehr oder weniger ausgiebigen Abtragungen der Großhirnrinde am Leben. Gleich nach der Operation zeigen die Tiere eine hochgradige Depression, von der sie sich indessen langsam erholen, um dann als bleibende Nachwirkungen Abnahme der Sinnesfunktionen, Ungeschick in der Ausführung willkürlicher Bewegungen und eine mehr oder weniger hochgradige Herabsetzung der Intelligenz zu bewahren.

Die oben genannten Versuche sind ausnahmslos als Ausfallsversuche zu bezeichnen; bei ihnen kommt es darauf an, die Funktion der Großhirnhemisphären oder eines begrenzten Gebiets derselben vorübergehend oder dauernd aufzuheben. Ihnen gegenüber [4] stehen die Reizversuche, sie beschäftigen sich mit den Erscheinungen, die auf Reizung begrenzter Stellen der Großhirnrinde auftreten. Durch diese

Fig. 3.
Motorische Stellen an der Oberfläche des Hundegehirns (links nach Fritsch, Hitzig, Wundt, rechts nach Ferrier).
a Nackenmuskeln, a′ Rückenmuskeln, b Strecker und Adduktoren des Vorderbeins, c Beuger und Pronatoren des Vorderbeins, d Muskeln der Hinterextremität, e Facialis, e′ obere Facialis-Region, f Augenmuskeln, g Kaumuskeln.

Versuche hat man nun folgende Aufschlüsse über die Funktion der einzelnen Stellen der Großhirnrinde erhalten: Beim Hund gibt es zahlreiche Stellen (motorische Stellen oder motorische Zentren), auf deren Reizung ganz bestimmte Bewegungen erfolgen, während die Zerstörung dieser Stellen den entgegengesetzten Erfolg, Lähmung, aufweist. Diese Stellen liegen, wie aus der obenstehenden Fig. 3 hervorgeht, sämtlich in den vordern Regionen des Gehirns zwischen der Riechwindung und der Sylviusschen Spalte. Die Wirkung ist in der Regel eine gekreuzte; reizt man z. B. die Stelle a der linken Seite, so ziehen sich die Nackenmuskeln auf der entgegengesetzten Seite zusammen; auf Reizung von f oder g einer Seite werden jedoch beiderseits Kaubewegungen ausgeführt. Großes Interesse wegen der anatomischen Ähnlichkeit mit dem menschlichen G. besitzen die Experimente, welche behufs Auffindung der motorischen Punkte am G. des Affen angestellt wurden. Die motorischen Punkte liegen hier, wie näher aus Fig. 4 zu ersehen ist, hauptsächlich an den beiden Zentralwindungen.

Die Ermittelung der sensorischen Stellen durch das Tierexperiment ist mit weit größern Schwierigkeiten verknüpft, weil man ja zur Beurteilung der Art und des Umfanges dieser Störungen immer nur auf die objektive Beobachtung angewiesen bleibt. Die an Hunden und Affen angestellten Versuche haben hinsichtlich der Lokalisation der Gesichtsempfindungen noch die am meisten befriedigenden Resultate geliefert (Fig. 5, 6). Als Sehzentrum muß man bei Hunden den nach hinten von der Sylviusschen Spalte gelegenen, von den Scheitelbeinen bedeckten Hirnabschnitt ansprechen, während bei Affen der gesamten Oberfläche des Occipitallappens diese Funktion zukommt. Der Stelle des deutlichsten Sehens auf der Netzhaut (s. Gesicht) entspricht die begrenzte Stelle A′. Das Zentrum für die Gehörsempfindungen liegt beim Hund am lateralen Rande des Scheitellappens und im ganzen Schläfenlappen, beim Affen nur in letzterm. Was die Lokalisation des Tastsinnes betrifft, so sollen hier verschiedene Stellen der Körperoberfläche verschiedenen Stellen der Großhirnrinde zugeordnet sein, wie das die Stellen C–J der Abbildungen angeben. Für die Sinne des Geruchs und des Geschmacks wollte es bisher nicht gelingen, Zentren an der Hirnoberfläche nachzuweisen; es wird deshalb vermutet, daß diese an der Hirnbasis, welche dem Experiment fast unzugänglich ist, gelegen sind.

Fig. 4. Fig. 7.
Fig. 4. Motorische Stellen an der Oberfläche des Affengehirns. 1 Hintere, 2 vordere Extremität, 3 Facialis, 4 Kaumuskeln nach Hitzig, abc Bewegungen einzelner Finger, d Extension des Arms und der Hand, e Augenbewegungen nach Ferrier. – Fig. 7. Motorische Stellen und Sprachzentren von der Hirnoberfläche des Menschen (linke Hemisphäre). A Facialis- und Hypoglossus-Gebiet, B Arm-, C Beinmuskulatur, x Gebiet, dessen Verletzung Lähmung in den Ober- und Unterextremitäten herbeiführt, D motorisches, E sensorisches Sprachzentrum, S Lage des Sehzentrums nach Huguenin, F nach Ferrier.

Beim Menschen hat man bei Verletzungen und Krankheiten der Großhirnrinde Störungen beobachtet, die sich, wie die mittels des Tierexperiments erhaltenen Erscheinungen, sowohl aus Reizessymptomen als aus Ausfallssymptomen zusammensetzen. Man hat gefunden, daß das motorische Gebiet der Großhirnrinde verhältnismäßig klein ist (in Fig. 7 ist es durch quere Schraffierung hervorgehoben), und [5] daß es sich im wesentlichen auf die beiden Zentralwindungen beschränkt, daß hingegen die Körperbewegungen völlig ungestört bleiben bei Verletzungen der Hirnrinde am Schläfen- und Hinterhauptslappen sowie an den vordern Abschnitten des Stirnlappens. Zentren, die man mit einiger Sicherheit zu trennen im stande war, sind durch die Buchstaben A, B und C bezeichnet, d. h. dem Gesicht und der Zunge kommt das untere, dem Arm das mittlere Drittel beider Zentralwindungen zu, während dem Bein das obere Drittel der hintern Zentralwindung und das Paracentalläppchen zufallen. Aus der Lage dieser Stellen wird auch verständlich, warum Lähmungen von Arm und Bein sowie von Arm und Antlitz leicht gleichzeitig beobachtet werden, während Bein und Antlitz nicht leicht gleichzeitig gelähmt sind, ohne daß der Arm mit ergriffen wäre. Die Lähmungen erfolgen übrigens fast immer gekreuzt, und sie bestehen in einer Aufhebung des Willenseinflusses auf die Muskeln, zu welcher sich später nicht selten dauernde Kontrakturen infolge der Wirkung nicht gelähmter Muskeln gesellen. Hinsichtlich der sensorischen Zentren in der Großhirnrinde des Menschen ist ermittelt, daß der Gesichtssinn im Occipitallappen seinen Sitz aufgeschlagen hat. In einigen Fällen sind Störungen des Muskelsinnes und der Hautsensibilität bei Affektionen des Scheitel- und Stirnlappens, also der Gegenden, welche unmittelbar die motorische Zone begrenzen, beobachtet. Zentren für den Geruchs- und Geschmackssinn sowie für den Gehörssinn sind bis jetzt mit Sicherheit nicht nachgewiesen, desto bestimmter aber für die Sprache, die ja im nahen Zusammenhang mit dem Gehörssinn steht. Die Rindensubstanz an der vordern und untern Grenze der Sylviusschen Spalte, wozu sich noch das Gebiet des Insellappens gesellt, ist als das Zentrum der Sprachfunktionen zu bezeichnen. Zahlreiche Beobachtungen haben ergeben, daß für die artikulierten Sprachbewegungen und für die Auffassung der Sprachlaute eigne Zentralgebiete bestehen (D u. E, Fig. 7); Aphasie, d. h. Aufhebung oder Störung des Sprachvermögens, die häufig mit Agraphie, d. h. Aufhebung des Schreibvermögens, verbunden ist, ist an Läsionen der dritten Stirnwindung gebunden, während Worttaubheit, d. h. Störung der Wortperzeption, zu der sich häufig Wortblindheit, d. h. Unvermögen, die Schriftbilder der Worte zu verstehen, gesellt, nur bei Affektionen der ersten Schläfenwindung beobachtet wird.

Man muß sich übrigens nicht vorstellen, daß nach der Zerstörung von motorischen oder sensorischen Zentren die Ausfallssymptome für immer bestehen bleiben; es ist vielmehr sichergestellt, daß die benachbarten unverletzten Hirnabschnitte bis zu einem ziemlichen Umfang stellvertretend zu funktionieren vermögen. Während aber diese Stellvertretung bei Fröschen und Vögeln schon bald nach der Verstümmelung

Fig. 5.
Sensorische Regionen an der Oberfläche des Hundegehirns.
I Ansicht von oben, II Seitenansicht der linken Hirnhälfte.
A Sehsphäre, A′ zentrale Region derselben, B Hörsphäre, B′ Region für die Perzeption artikulierter Laute, C–J Fühlsphäre, C Vorder-, D Hinterbein­region, E Kopf-, F Augenregion, G Ohr-, H Nacken-, J Rumpfregion, a–g motorische Stellen wie in Fig. 3.

des Gehirns auftritt und in einem bedeutenden Umfang besteht, macht sie sich bei Hunden erst weit später und in einem wesentlich geringern Grad geltend; beim Menschen aber scheinen die Ausfallssymptome, wenn die Verletzung des Gehirns einen

Fig. 6.
Sensorische Regionen an der Oberfläche des Affengehirns.
Bedeutung der Bezeichnungen wie in Fig. 5.

ziemlichen Grad erreicht hat, niemals gänzlich zu schwinden, es sei denn, daß die Verletzung in der frühsten Lebensperiode erfolgt. Somit dürfte es nicht zweifelhaft sein, daß mit der zunehmenden Entwickelung die funktionelle Sonderung der Teile sich mehr und mehr geltend macht, und daß hiermit zugleich die Möglichkeit einer Stellvertretung in engere Schranken gewiesen wird.

[6] Die sogen. Hirnganglien stehen nicht allein mit der grauen Substanz des verlängerten Markes und des Rückenmarks und hierdurch mit der Körperperipherie, sondern auch mit den höhern Sinnesorganen in Verbindung. Diese Verbindungen sichern der Thätigkeit des Rückenmarks einen bestimmten Charakter, der sich in der Koordination der Bewegungen äußert, ferner schreibt man den Hirnganglien die Fähigkeit der Zusammenordnung der Empfindung zu und schließt dieses hauptsächlich aus dem Auftreten jener eigentümlichen Zwangsbewegungen (s. d.) nach Verletzung der Hirnganglien. Man führt nämlich diese Bewegungen auf Schwindelempfindungen zurück.

Dem Kleinhirn, welches wie eine Nebenleitung in die vom Rückenmark zum Großhirn verlaufenden Leitungsbahnen eingeschaltet ist, hat man früher irrtümlich auch psychische Funktionen zugeschrieben. Durch neuere Untersuchungen ist festgestellt, daß zwar nach Entfernung des Kleinhirns die willkürlichen Bewegungen noch möglich sind, daß diese aber ungeordnet und unsicher erscheinen, und daß deshalb das Organ die größte Bedeutung für die Regelung der Körperbewegungen besitzt.

Über die physiologische Bedeutung der zwölf Gehirnnerven ist das Nachfolgende ermittelt: 1) Der Riechnerv (nervus olfactorius) vermittelt die Geruchs-, 2) der Sehnerv (n. opticus) die Gesichtsempfindungen (s. Geruch und Gesicht). 3) Der gemeinschaftliche Augenmuskelnerv (n. oculomotorius) hält die Konvergenz der Sehachsen aufrecht und bewegt die Augäpfel ähnlich wie der Zügel die Köpfe eines Gespannes. Der Nervenzweig, welcher an die Iris tritt, vermag reflektorisch von der Netzhaut aus verengernd auf die Pupille einzuwirken, sobald ein starker Lichtstrahl ins Auge tritt. Wird der Nerv durchschnitten oder gelähmt, so zeigen sich beständige Akkommodation für die Ferne, Schielen nach auswärts, Erweiterung der Pupille, Herabhängen des obern Augenlides. 4) Der Rollmuskelnerv (n. trochlearis) ist der motorische Nerv für den Rollmuskel. 5) Der dreigeteilte Nerv (n. trigeminus) versorgt mit seinen motorischen Fasern hauptsächlich die Kaumuskeln, während die sensibeln Fasern fast an alle Haut- und Schleimhautbedeckungen des Kopfes treten, hier nicht allein Empfindungen vermittelnd, sondern auch eine ganze Reihe von Reflexbewegungen (z. B. Blinzeln und Niesen) auslösend. Ferner enthält der Nerv noch vasomotorische Fasern; nach seiner Lähmung oder Durchschneidung zeigt sich in seinem Gebiet eine äußerst starke Füllung der Blutgefäße und Rötung der Haut. 6) Der äußere Augenmuskelnerv (n. abducens) ist der motorische Nerv für den äußern geraden Muskel des Auges; nach seiner Lähmung oder Durchschneidung gewahrt man Schielen nach innen bei sonst erhaltener Beweglichkeit des Auges. 7) Der Gesichtsnerv (n. facialis) versorgt mit seinen motorischen Fasern hauptsächlich die Gesichtsmuskeln; er ist der „mimische Nerv“. Weiter enthält er vor allen Dingen sekretorische Fasern für die Speicheldrüsen. Nach der Lähmung des Facialis einer Seite erschlaffen die Gesichtsmuskeln der betreffenden Seite, sie werden deshalb nach der gesunden Seite hingezogen, und das Gesicht erscheint verzerrt. 8) Der Hörnerv (n. acusticus) vermittelt die Hörempfindungen (s. Gehör). 9) Der Zungen-Schlundkopfnerv (n. glossopharyngeus) vermittelt vor allen Dingen die Geschmacksempfindungen auf den hintern Regionen der Zunge, während der Nervus lingualis, ein Zweig des fünften Gehirnnervs, die vordern Regionen dieses Organs beherrscht. Er soll nur „bittere“ Substanzen schmecken, der Lingualis ausschließlich der Empfindung des „Süßen“ und „Sauern“ dienen. Die motorischen Fasern des Nervs treten an den weichen Gaumen. 10) und 11) Der Lungen-Magennerv (n. vagus) und Beinerv (n. accessorius) sind mit ihren Fasern so innig verbunden, daß eine getrennte physiologische Betrachtung einstweilen unthunlich ist. Die Nerven stehen den wichtigsten Geschäften des Verdauungs-, Atmungs- und Zirkulationsapparats vor, ihre Leistungen sollen deshalb nach diesen Apparaten gesondert betrachtet werden. Der Verdauungsapparat enthält sowohl motorische als sensible, nicht aber sekretorische Fasern. Die erstern lassen sich vom Gaumensegel bis zum obern Teil des Dünndarms verfolgen und regeln die Bewegungen des Verdauungsapparats. Die sensibeln Fasern lösen eine Anzahl von Reflexbewegungen, z. B. Schlingen und Erbrechen (s. d.), aus. Auch der Atmungsapparat empfängt motorische und sensible Nervenfasern; erstere verbreiten sich im Kehlkopf, in den Muskelfasern der Bronchien und in denen des Lungengewebes. Von den an den Kehlkopf tretenden Nerven hat der N. laryngeus inferior s. recurrens besonderes Interesse. Bereits Galenos war die hohe Bedeutung dieses Nervs für die Stimmbildung bekannt; er fand, daß Schweine nicht mehr schreien konnten, nachdem er beiderseits den Recurrens durchschnitten hatte; er nannte ihn deshalb den Stimmnerv. Die sensibeln Fasern haben die höchste Bedeutung für das Zustandekommen der Atmungsbewegungen (s. Atmung), außerdem wird von ihnen aus der Husten (s. d.) ausgelöst. Hinsichtlich der Wirkung auf den Zirkulationsapparat ist vor allen Dingen zu bemerken, daß der Vagus der Hemmungsnerv für das Herz ist (s. Blutbewegung). 12) Der Zungenfleischnerv (n. hypoglossus) ist der eigentliche Bewegungsnerv der Zunge.

Was die Geschwindigkeit der Hirnverrichtungen betrifft, so ist ermittelt, daß die einfachsten psychischen Prozesse keineswegs momentan ablaufen, daß vielmehr beispielsweise für das Zustandekommen einer Tastempfindung ein Zeitraum von ca. 1/7 Sekunde, für eine Lichtempfindung ca. 1/5 Sekunde, für eine Geschmacksempfindung ca. 1/61/5 Sekunde erforderlich ist. Vgl. Reichert, Der Bau des menschlichen Gehirns (Leipz. 1859–61); Bischoff, Die Großhirnwindungen des Menschen (Münch. 1868); Derselbe, Das Gehirngewicht des Menschen (Bonn 1880); Stilling, Neue Untersuchungen über den Bau des kleinen Gehirns des Menschen (Kassel 1877); Luys, Das G., sein Bau und seine Verrichtungen (Leipz. 1877); Charlton Bastian, Das G. als Organ des Geistes (deutsch, das. 1882); Heiberg, Schema der Wirkungsweise der Hirnnerven (Wiesb. 1885).

Gehirnkrankheiten.

Die Krankheiten des Gehirns äußern sich, ganz allgemein betrachtet, entweder in erhöhter Thätigkeit (Reizerscheinungen) oder in herabgesetzter Leistung (Lähmungen) des Gehirns. Da die verschiedenen Teile des Gehirns sehr verschiedenen Thätigkeiten vorstehen, so wird eine Reizung gewisser Bezirke der Gehirnrinde gesteigerte seelische Vorgänge (s. Wahnidee, Sinnestäuschung, Wahnsinn, Tobsucht), die Reizung motorischer Zentren dagegen abnorme Bewegungen (s. Epilepsie, Krämpfe, Muskelstarre, Genickkrampf, Veitstanz) zur Folge haben. Äußert sich die Gehirnkrankheit in Lähmung, so kann auch diese als eine Störung der Intelligenz (Blödsinn, Angst, Melancholie) oder als eine Lähmung der Muskeln (Paralyse, Parese, Blasenlähmung, [7] Gesichtslähmung, Herzlähmung) in die Erscheinung treten. Welcherlei anatomische Ursachen einer jeden Gehirnkrankheit zu Grunde liegen, läßt sich aus den Erscheinungen durchaus nicht ohne weiteres schließen, da nicht selten Entzündungen oder Neubildungen, welche von den Gehirnhäuten oder den Gehirnhöhlen oder gar der Schädelkapsel ausgehen, dieselben Symptome machen wie diejenigen der nervösen Gehirnsubstanz selbst; ja, es geschieht ganz häufig, daß eine Entzündung oder ein Parasit (Finne) anfangs Reizerscheinungen auslöst und erst in spätern Stadien, wenn die Nervensubstanz zerstört ist, zur Lähmung führt. Wenn man von den Geisteskrankheiten (s. d.) absieht, so sind die Gehirnerweichung (s. d.), der Gehirnschlag (s. d. und Embolie) und bösartige Geschwülste im G. die häufigsten Krankheiten; nach dem Obigen werden aber die Gehirnhautentzündungen, namentlich syphilitische Karies (s. d.) des Schädels, den eigentlichen Gehirnkrankheiten zugezählt.


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 325326
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[325] Gehirn (Anthropologisches). Sowohl hinsichtlich der Gesamtmasse des Gehirns als bezüglich des Hirngewichts und der Entwickelung der Hirnwindungen lassen sich zwischen den menschenähnlichen Affen (Anthropoiden) und dem Menschen sowie zwischen verschiedenen Menschenrassen erhebliche Unterschiede nachweisen. Das durchschnittliche Hirngewicht des Europäers beträgt nach v. Bischoff für die Männer 1362 g, für die Weiber nur 1219 g. Aus den Broca-Topinardschen Untersuchungen ergibt sich, daß beim Menschen das männliche Geschlecht das durchschnittliche Maximum seines Gehirns mit 1419 g zwischen 30 und 35 Jahren, das weibliche Geschlecht die völlige Entwickelung seines Gehirns mit 1217 g schon zwischen 25 und 30 Jahren erreicht. Dagegen beträgt das mittlere Hirngewicht des männlichen Negers nur 1244 g, dasjenige des Schimpanse 350 bis 400 g. Während das Gewicht des erwachsenen Schimpansegehirns zum Gesamtkörpergewicht im Verhältnis von 1 : 70 bis 80 steht, beträgt das besagte Verhältnis beim Menschen nur 1 : 35 bis 40. Bei jungen Individuen tritt der Unterschied weniger hervor, indem das Hirngewicht zum Körpergewicht beim jungen Schimpanse sich wie 1 : 25, beim menschlichen Kinde sich wie 1 : 18 verhält. Damit stimmt auch die Thatsache, daß die Menschenähnlichkeit des jungen Anthropoiden eine weit größere ist als diejenige des erwachsenen Tieres. Der Mensch besitzt nicht, wie früher allgemein angenommen wurde, das größte G., sondern wird von einer Anzahl kleinerer Tiere (z. B. kleinerer Affen und Singvögel) in der relativen und vom Elefant und Walfisch in der absoluten Größe des Gehirns übertroffen. Wenn hier und da bei geistig hervorragenden Menschen kein sehr bedeutendes und bei Angehörigen von geistig wenig entwickelten Menschenrassen ein ziemlich großes Hirngewicht angetroffen wird, so beruht dies darauf, daß Beziehungen zwischen dem Hirngewicht und dem Gesamtkörpergewicht bestehen, und daß durch die energische Muskelaktion der von der Jagd lebenden oder nomadenhaft umherschweifenden niedern Menschenrassen die Bewegungszentren des Gehirns geübt werden und an Volumen zunehmen. Auch ist es wahrscheinlich, daß bei [326] verschiedenen Rassen und Individuen Unterschiede in der Dichtigkeit der Hirnmasse vorhanden sind. Daß bei geistig hervorragenden Personen nicht immer ein bedeutendes Hirngewicht nachgewiesen werden konnte, erklärt sich in vielen Fällen dadurch, daß dieselben zur Zeit ihres Todes bereits in höherm Alter sich befanden, wo die Hirnmasse im Schwinden begriffen ist. Wenn aber auch die Gesamtmasse und das Gesamtgewicht des Gehirns nicht immer dem Grade der Intelligenz der betreffenden Individuen genau entspricht, so steht doch die Entwickelung des Vorderhirns (Vorderlappen des Großhirns), des Sitzes der höhern geistigen Funktionen, zur geistigen Befähigung in direkter Beziehung. Entsprechend dem verschiedenen Grade der geistigen Entwickelung beim Anthropoiden, Naturmenschen und Kulturmenschen ist auch die Entwickelung der grauen Hirnsubstanz (Hirnrinde), die in der größern oder geringern Ausbildung der großen Windungszüge (Konvolutionen) und der kleinen Hirnwindungen (gyri) zum Ausdruck kommt, eine verschiedengradige. Rudolf Wagner hat an den Gehirnen von Gauß und Dirichlet zuerst nachgewiesen, daß das G. von geistig hervorragenden Männern charakterisiert ist durch die verwickelte Anordnung und Asymmetrie der Gyri der beiden Hirnhälften. Die von Owen aufgestellte Behauptung, daß das menschliche G. in den hintern Großhirnlappen einige wesentliche Teile enthalte, die den höhern Affen stets und vollkommen mangelten, hat sich nicht bestätigt; auch ist das Vorkommen der Affenspalte (durch Nichtentwickelung der innern obern Scheitelwindung bedingte Vertiefung der Hinterhauptsspalte, die man für ein Charakteristikum des Affenhirns gehalten hat) sehr unbeständig. Die Oberfläche des Gehirns der Anthropoiden stellt vielmehr nach Huxley eine Art von Umrißzeichnung des menschlichen dar, nur durch untergeordnete Merkmale von demjenigen des Menschen sich unterscheidend. Der Menschencharakter des Gehirns beruht nach J. Ranke auf dem Übergewicht des nicht automatisch wirkenden Teiles der Großhirnhemisphären über die automatisch wirkenden Gehirnabschnitte. Übrigens gibt es auch gewisse Menschenrassen (Weddas und Tamilen auf Ceylon, Kurumbas der Nilgerries), die einen so kleinen Schädel und ein so geringes Hirnvolumen (Nanokephalie) aufweisen, daß die Maximalgrenze des Anthropoidenhirns und die Minimalgrenze der Hirnentwickelung bei diesen Völkern sich sehr nahekommen. Beim Menschen hat das G. des Mannes vor demjenigen des Weibes sowohl das größere durchschnittliche Gewicht (s. oben) als auch die bedeutendere Entwickelung der Hirnwindungen voraus. Schon gleich nach der Geburt lassen sich erhebliche Unterschiede in der Entwickelung der die Sylviussche Spalte umgebenden Windungszüge bei beiden Geschlechtern nachweisen. Die zwischen männlichem und weiblichem G. bestehenden Unterschiede sind aber beim G. der Naturvölker weniger stark ausgeprägt als beim G. der Kulturvölker. Während beim G. von Affen und unkultivierten Völkern (Neger- und Hottentotgehirne) die Interparietalfurche (die großen Scheitelwindungen voneinander trennende Vertiefung) mit der Sagittalebene (von vorn nach hinten durch den Körper gelegte Vertikalebene) einen nach vorn offen stehenden spitzen Winkel bildet, verfolgt nach Rüdinger die Interparietalfurche beim Europäer einen mehr der Richtung der Sagittalebene sich annähernden Verlauf. Bei geistig hervorragenden Männern (J. v. Liebig u. a.) soll das Wachstum und die gesteigerte Entwickelung mitunter sogar zur Folge haben, daß die Interparietalfurche mit der Sagittalebene einen nach hinten offen stehenden spitzen Winkel bildet. Vgl. v. Bischoff, Das Hirngewicht des Menschen (Bonn 1880); Topinard, Les poids du cerveau d’après les registres de P. Broca („Revue d’Anthropologie“, 1882, S. 1 bis 30); Virchow, Indische Zwergrassen („Korrespondenzblatt für Anthropologie“, 1881, S. 151); Rüdinger, Ein Beitrag zur Anatomie der Affenspalte und der Interparietalfurche beim Menschen (Bonn 1882); Möller, Das G. des Schimpanse („Westermanns Monatshefte“, Dezember 1880); Waldeyer, Hirnwindungen der Affen, insbesondere der Anthropoiden („Korrespondenzblatt für Anthropologie“, 1890). Vgl. auch die Art. Vorstellung und Medizinischer Kongreß.


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 359360
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[359] Gehirn. Um die weitere Ausbildung der Reizungsversuche an der Großhirnrinde hat sich in neuerer Zeit besonders Horsley verdient gemacht. Bisher war es nur gelungen, durch Reizung bestimmter Partien der Rinde, der motorischen Region, Bewegungen in bestimmten Muskelgruppen der gegenüberliegenden Körperseite hervorzurufen, die nicht immer rein auftraten, vielmehr öfters gleich anfangs oder im spätern Verlauf durch Bewegungen in andern Muskeln kompliziert waren. Horsley hat gezeigt, daß, je höher man in der Tierreihe geht, desto schärfer sich die den einzelnen Bewegungsgebieten entsprechenden Bezirke voneinander abgrenzen lassen, desto genauer also die Lokalisation wird. Infolgedessen gelingt es beim Affen (er benutzte vornehmlich Macacus sinicus), von umschriebenen Stellen der Großhirnrinde aus ganz isolierte Bewegungen sogar in einzelnen Muskeln, z. B. eines Fingers, hervorzurufen. Freilich liegen auch in der Nachbarschaft eines solchen Zentralherdes (Focus) Stellen, von denen aus die betreffende Bewegung erzeugt werden kann. Man bedarf dazu aber stärkerer Reize. Daraus ist zu schließen, daß allerdings die den einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen entsprechenden Rindenpartien nicht scharf umschrieben sind, sondern, wie dies übrigens auch schon aus frühern Beobachtungen geschlossen werden mußte, vielfach ineinander übergreifen; daß aber voneinander wohl gesonderte Rindenpunkte bestehen, die zu den einzelnen Muskelmechanismen ein besonders nahes Verhältnis haben. Durch Untersuchungen an einem der am höchsten stehenden Tiere, am Orang-Utan, fand Horsley seine Anschauungen durchaus bestätigt. Was hier über die Topographie des motorischen Rindengebietes ermittelt werden konnte, steht in vollem Einklang einerseits mit den Erfahrungen beim Macacus, anderseits auch mit dem, was gelegentliche Beobachtungen am menschlichen Gehirn gezeigt hatten. Die reizbaren Gebiete liegen auch hier zumeist in der Umgebung der Rolandoschen Furche (Zentralfurche) und zwar hauptsächlich auf der Präzentralwindung.

Auch an den sensorischen Rindenbezirken, in welchen man die zentrale Projektion des Sehorgans, Hörorgans etc. zu sehen hat, sind neuerdings wichtige Beobachtungen gemacht worden. Wir wissen, daß Nerven und Muskeln in dem Augenblick, in welchem sie aus dem Ruhezustand in den Zustand der Thätigkeit übergehen, galvanische Ströme entwickeln, die man als Aktionsströme zu bezeichnen pflegt. Analoge Erscheinungen treten nun auch, wie v. Fleischl und Beck nachweisen konnten, an gewissen Stellen der Hirnrinde auf, wenn sie von der Körperperipherie her, also z. B. von einem Sinnesorgan aus, zur Thätigkeit angeregt werden. Leitet man zwei symmetrisch gelegene Punkte der beiden Großhirnhalbkugeln, welche den Sehregionen entsprechen, zu einem empfindlichen Galvanometer ab, so bleibt die Nadel desselben vorerst in Ruhe, weil die beiden Rindenpunkte sich im Gleichgewicht befinden, zur Erzeugung eines elektrischen Stromes also kein Anlaß ist. Erregt man aber jetzt eins der entsprechenden Sinnesorgane, läßt man also z. B. Licht in das eine Auge einfallen, so zeigt das Galvanometer einen Ausschlag in einer bestimmten Richtung, indem die Thätigkeit des entsprechenden Rindenbezirks sich durch eine galvanische Veränderung bemerklich macht. Fällt das Licht in das andre Auge, so erfolgt der Ausschlag der Nadel in entgegengesetztem Sinne. Jede Wirkung der sensorischen Erregung bleibt dagegen aus, wenn man das zur Untersuchung dienende Tier zuvor tief chloroformiert, denn die betäubte Hirnrinde ist unfähig, durch Sinnesreize in Thätigkeit gesetzt zu werden.

Auch über Reizungsversuche an den Sinnessphären der Großhirnrinde liegen Berichte vor. Schäfer fand, daß bei elektrischer Reizung der im Hinterhauptslappen des Großhirns gelegenen Sehsphäre associierte Bewegungen der beiden Augen eintreten, deren Richtung von der Reizungsstelle abhängt. Sie machen den Eindruck, als seien sie hervorgerufen durch Gesichtsempfindungen, welche die Reizung der Hirnrinde angeregt hat. Das Tier bringt, dieser Auffassung zufolge, die Erregung seines Sehapparates in Beziehung zu bestimmten, einander entsprechenden Stellen der beiden Netzhäute und macht Augenbewegungen nach derjenigen Richtung hin, von welcher ein äußerer Lichtreiz kommen müßte, um diese Netzhautstellen zu treffen. So wendet das Tier die beiden Augen nach rechts, wenn ein bestimmter Punkt des linken Hinterhauptslappens gereizt wird. Dem gereizten Rindenpunkt entsprechen nämlich in [360] diesem Falle bestimmte Stellen der beiden linken Netzhauthälften; diese verlegen aber die ihnen gewordene Erregung in die rechte Hälfte des Gesichtsfeldes, und dahin richtet sich der Blick. Diese am Affen gemachten Beobachtungen Schraders vermochten Munk und Obregia auch für den Hund zu bestätigen. In ihrer Erklärung derselben unterscheiden sich diese Forscher von Schäfer im wesentlichen darin, daß sie eine mehr direkte Wirkung der Hirnrindenreizung auf die Augenbewegungen annehmen. Jedenfalls vermochten sie eine Mitwirkung der den Augenbewegungen zugeordneten motorischen Rindenabschnitte auszuschließen. Sie glauben, daß es sich um einfache Reflexe handle, zu deren Zustandekommen nur Gesichtsempfindungen, aber keine Gesichtsvorstellungen den Grund abgeben. Ganz analoge Erscheinungen am Ohr beobachtete Baginsky bei Reizungen der im Schläfenlappen gelegenen Hörsphäre beim Hunde. Hier treten neben Öffnen der Augen Bewegungen der der Reizungsseite entgegengesetzten Ohrmuschel auf, die vermutlich in ähnlicher Weise zu stande kommen, wie die Bewegungen am Auge bei Reizung der Sehsphäre.

Schrader hat durch neue Versuche die Bedeutung des Großhirns in den verschiedenen Tierklassen festzustellen gesucht. Er entfernte bei Amphibien, Reptilien, Vögeln die Großhirnhalbkugeln und stellte fest, welche Funktionen danach erhalten blieben, welche dauernd ausfielen. Ein besonderes Interesse gewähren seine Beobachtungen an Fröschen, die vielfach von denen früherer Untersucher abweichen. Während man bisher, hauptsächlich gestützt auf die Experimente von Flourens und von Goltz, der Meinung war, ein großhirnloser Frosch habe die willkürliche Beweglichkeit verloren, er bewege sich, wenn man ihn nicht reize, niemals von selbst, er suche keine Nahrung, er quake nicht ohne äußere Reizung, er habe den Geschlechtstrieb wie überhaupt alle Instinkte verloren, zeigt Schrader, daß Frösche, denen man einzig und allein das Großhirn genommen, bei denen man insbesondere die nahe gelegenen Sehhügel geschont hat, bei längerer Beobachtung ein ganz andres, von dem unversehrter Frösche kaum verschiedenes Verhalten darbieten. Der grohhirnlose Frosch bewegt sich spontan; er verläßt, ohne dazu von außen irgendwie angeregt zu sein, seinen Platz auf einem vor Erschütterung gesicherten Galvanometerpfeiler; er begibt sich freiwillig ins Wasser und aus diesem wieder ans Land; er bezieht im Herbst sein Winterquartier, um es im Frühjahr wieder zu verlassen. Er fängt und frißt Fliegen, er schwimmt, springt, klettert ganz wie ein gesunder Frosch; er weiß sich im Raume gut zurecht zu finden. Sein Fortpflanzungsvermögen zeigt sich in keiner Weise geschädigt. Seinen Feinden weiß er sich mit derselben Gewandtheit zu entziehen, wie das unverletzte Tier. Diese Versuche führen zu dem Schluß, daß bei den Amphibien, speziell bei dem als Repräsentant dieser Tierklasse gewählten Frosch, das Großhirn noch keinen sichern Einfluß auf die Lebensäußerungen gewonnen hat.

Je höher man aber in der Tierreihe aufsteigt, desto mehr macht sich ein solcher Einfluß geltend. So zeigen schon die Reptilien (Schrader hat Schlangen untersucht), obwohl auch sie nach der Fortnahme des großen Gehirns noch eine Fülle von spontanen Bewegungen darbieten, obwohl sie noch im stande sind, ihre Tastempfindungen zur Erhaltung des Gleichgewichts, zur Ausführung sehr komplizierter Bewegungen zu benutzen, doch insofern einen Defekt gegenüber dem normalen Tier, als ihnen gewisse „Ausdrucksbewegungen“ fehlen, durch welche sich beim unverletzten Tier die Furcht, der Zorn äußern.

Sehr eingehend hat Schrader die Erscheinungen untersucht, welche des Großhirns beraubte Vögel darbieten. Auch bei ihnen ist die spontane Beweglichkeit erhalten; sie fliegen durch weite Räume; auch die Motilität der hintern Extremitäten ist niemals dauernd geschädigt. Die Sinne funktionieren und üben einen bestimmenden Einfluß auf die Bewegungen aus. Die Instinkte sind nicht verschwunden, denn die Tiere äußern Hunger und Durst und zeigen Geschlechtstrieb. Dennoch fehlt ihnen etwas, was sie wesentlich von gesunden Vögeln unterscheidet: sie haben die persönlichen Beziehungen zur Außenwelt verloren. Die Außenwelt ist ihnen nur ein mit Dingen angefüllter Raum; diese Dinge werden wahrgenommen und wirken bestimmend auf die Bewegungen, aber die Bedeutung, die ihnen ein gesundes Tier beilegt, haben sie für das großhirnlose verloren. Zu dieser freilich nicht ganz neuen Auffassung gelangte Schrader durch eine sehr eingehende Analyse der vorhandenen sensorischen Erscheinungen, insbesondere der Sehfunktion. Das des Großhirns beraubte Tier ist weder blind noch taub, aber es erkennt die wahrgenommenen Gegenstände nicht als das, was sie wirklich sind. Ein großhirnloser Falke stürzt sich auf seine Beute, erfaßt und tötet sie; aber mit derselben Leidenschaft, mit der er eine Maus erjagt, fährt er auf andre sich bewegende oder künstlich bewegte Gegenstände los. Das Futter als solches erkennt er nicht; ist das von ihm ergriffene Tier erdrückt und dadurch ruhig geworden, so läßt er es los und macht keine Anstalten, es zu verzehren. Das großhirnlose Tier ist also nach dem von Munk eingeführten Ausdruck als seelenblind zu bezeichnen, und analoge Schädigungen haben die übrigen Sinne erfahren. Der großhirnlose Vogel frißt niemals von selbst; er muß gefüttert, das Futter ihm in den Schnabel oder sogar in den Rachen geschoben werden, damit er es verschlucke. Dies war schon früher beobachtet worden; man hatte bemerkt, daß ein solches Tier auf einem Kornhaufen verhungern würde. Stefani mußte eine des Großhirns beraubte Taube, die er 5 Jahre lang beobachtete, fortdauernd künstlich ernähren.

An Säugetieren hat Schrader eigne Untersuchungen über die Folgen der Großhirnexstirpation nicht angestellt. Er erwähnt hier die einschlägigen neuern Beobachtungen von Goltz, die mit den an Vögeln gewonnenen Erscheinungen in einigen wesentlichen Punkten gut übereinstimmen. Goltz vermochte einen seines Großhirns beraubten Hund 51 Tage am Leben zu erhalten. Das Tier konnte stehen und gehen, sich auf den Hinterbeinen emporrichten. Es kaute und verschluckte die ihm ins Maul gesteckte Nahrung, war aber unfähig, selbständig zu fressen und zu saufen. Schlafen und Wachen wechselten bei ihm, wie bei einem normalen Hund. Aus dem Schlaf geweckt, öffnete der Hund die Augen und streckte sich. Vor der Fütterung war er stets sehr unruhig; gesättigt beruhigte er sich und schlief ein. Er konnte, je nach dem Anlaß, winseln, knurren, bellen und heulen. Auf Schalleindrücke antwortete er nicht. Geruchs- und Gesichtsnerv waren bei der Operation durchschnitten worden. Über die bei so großen Hirndefekten übrigbleibenden Leistungen der Sinne konnte deshalb dieser Fall keine zureichende Auskunft geben. – Über Punktion des Gehirns s. Innere Medizin.