Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Göttingen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 568569
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Göttingen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 568–569. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:G%C3%B6ttingen (Version vom 19.04.2022)

[568] Göttingen, Stadt und Stadtkreis im preuß. Regierungsbezirk Hildesheim, im ehemaligen Fürstentum G., 158 m ü. M., liegt anmutig im weiten, sanft gehügelten Thal der Leine, am Fuß des östlich gelegenen,

Wappen von Göt­tingen.

380 m hohen Hainbergs, Knotenpunkt der Linien Hannover-Kassel und Frankfurt a. M.-G. der Preußischen Staatsbahn, wird von der Neuen Leine (einem Mühlkanal) durchflossen, welche die Altstadt von der Neustadt und der Masch trennt. Unter den Straßen sind die Weender, Groner u. Alleestraße als die schönsten zu nennen; im letzten Jahrzehnt sind mehrere neue Straßen vor den Thoren entstanden. G. hat 6 evangelische und eine kath. Kirche sowie eine Synagoge; darunter verdienen Erwähnung: die zweigetürmte Hauptkirche St. Johannis aus dem 12. Jahrh. u. die gotische Jakobikirche mit 98 m hohem Turm; ferner sind bemerkenswert: das Universitätsgebäude am Wilhelmsplatz, der mit der Erzstatue König Wilhelms IV. (von Bandel) geschmückt ist, das neue Bibliotheksgebäude, das Kollegienhaus am Weender Thor, das zinnengekrönte Rathaus am Markt (neuerdings restauriert), die Provinzialirrenanstalt, südwestlich von der Stadt auf einem Hügel malerisch gelegen, die Anatomie, das naturhistorische Museum, das landwirtschaftliche Institut, das Gymnasium und andre Schulbauten. Die Stadt hat ein Schlachthaus, Gasanstalt, Wasserleitung; eine Kanalisation ist im Bau begriffen. Die Zahl der Einwohner beläuft sich mit der Garnison (ein Infanteriebataillon Nr. 82) auf (1885) 21,598, davon 19,344 Evangelische, 1714 Katholiken und 536 Juden. In industrieller Beziehung sind nennenswert: Fabrikation von Tuch- und Wollwaren, Zucker, Chemikalien, mathematischen, physikalischen, optischen und musikalischen Instrumenten, feinen Back- und Fleischwaren und die Bierbrauerei. Sodann ist der Buchhandel von Bedeutung. G. ist Sitz eines Landgerichts (für die zwölf Amtsgerichte zu Duderstadt, Einbeck, Gieboldehausen, G., Herzberg, Moringen, Münden, Northeim, Osterode, Reinhausen, Uslar und Zellerfeld), eines Landratsamtes für den Landkreis G., einer Reichsbanknebenstelle und einer Handelskammer. Die Universität zählte im Sommersemester 1884: 1010 Studierende und 114 Dozenten und ist reich ausgestattet. Sie besitzt eine Bibliothek, die, aus dem mäßigen Grundstock der Bülowschen Sammlung (8912 Bände) erwachsen, gegenwärtig 500,000 Bände und 5000 Manuskripte zählt und besonders für neuere Litteratur die reichste in Deutschland ist; ferner ein Kunstmuseum und ansehnliche Sammlungen (darunter Blumenbachs berühmte [569] Schädelsammlung), eine Sternwarte, ein Klinik (Ernst August-Hospital), eine Augenheilanstalt, eine Entbindungsanstalt, ein physikalisches Kabinett, einen 4 Hektar großen, ausgezeichneten botanischen Garten (von Haller angelegt), ein chemisches Laboratorium, eine landwirtschaftliche Akademie, ein naturwissenschaftliches Museum etc. Die berühmte königliche Societät der Wissenschaften (gleichfalls von Haller gestiftet) zerfällt in drei Klassen: eine physikalische, mathematische und historisch-philologische, und zählt gegenwärtig etwa 80 Mitglieder. Außerdem hat G. ein königliches pädagogisches Seminar, ein mit einem Realgymnasium verbundenes Gymnasium, mehrere Hospitäler und milde Stiftungen und ein gut eingerichtetes Armenwesen. Der Magistrat zählt sechs, das Kollegium der Bürgervorsteher zwölf Mitglieder. Der hohe, mit alten Linden besetzte Wall bildet mit seinen üppigen Gartenanlagen schöne Spaziergänge, und ganz in der Nähe sind der Rohns- oder Volksgarten sowie die städtischen Anlagen am parkartig bewaldeten Hainberg und die Dörfer Grone, Weende, Geismar und Reinhausen mit dem Bürgerthal vielbesuchte Punkte. Über Mariaspring, nördlich von G., erheben sich die Ruinen der Burg Plesse, auf zwei isolierten Kegelbergen bei Gelliehausen, südöstlich von der Stadt, die Trümmer der beiden Gleichen (s. d.) und weiter nach S., bei Arendshausen, die Ruine der Burg Hanstein. – G. kommt als Gutingi bereits in Urkunden von 950–960 vor und war lange Zeit nur ein Dorf, in dessen Feldmark die kaiserliche Pfalz Grone lag (im W. der heutigen Stadt, auf einem Hügel, dem sogen. Kleinen Hagen). Der Ort erhielt 1210 vom Kaiser Otto IV. Stadtrecht und war später zu verschiedenen Malen (1286–1463) Hauptstadt eines besondern welfischen Fürstentums. Das 14. Jahrh., in welchem G. ein angesehenes Glied der Hansa war, bildet die erste Glanzperiode der Stadt. Diese schaffte 1530 den katholischen Gottesdienst ab. Die Unabhängigkeit in der Verwaltung, der sie sich seit Jahrhunderten erfreut hatte, verlor sie 1611 durch Herzog Heinrich Julius. Im Dreißigjährigen Krieg wurde sie nach längerer Belagerung 2. Aug. 1626 von Tilly eingenommen und erst 11. Febr. 1632 vom Herzog Wilhelm von Weimar befreit; durch den Krieg hatte sie fast zwei Drittel ihrer Häuser eingebüßt. Der neue Aufschwung Göttingens beginnt ein Jahrhundert später mit Errichtung der Universität (1737). Derselben hat die deutsche Wissenschaft sehr viel zu verdanken. G. ist außerdem bekannt geworden durch den „Göttinger Dichterbund“ (s. d.) und die 1837 erfolgte Absetzung von sieben Professoren (der „Göttinger Sieben“: Albrecht, Dahlmann, Ewald, Gervinus, Jakob und Wilhelm Grimm und W. Weber), welche gegen die Aufhebung der Verfassung durch König Ernst August Protest eingelegt hatten. Vgl. Rößler, Die Gründung der Universität G. (Götting. 1855); Unger, G. und die Georgia Augusta (das. 1861); „Göttinger Professoren“ (Gotha 1872); Frensdorff, G. in Vergangenheit und Gegenwart (Götting. 1878); „Urkundenbuch der Stadt G. 1401–1500“ (hrsg. von Schmidt, Hannov. 1867); „Urkunden der Stadt G. aus dem 16. Jahrhundert“ (hrsg. von Hasselblatt und Kästner, Götting. 1881).