MKL1888:Eisenbahnfahrgeschwindigkeit

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Eisenbahnfahrgeschwindigkeit“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 460
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Eisenbahnfahrgeschwindigkeit. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 460. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Eisenbahnfahrgeschwindigkeit (Version vom 09.12.2022)

[460] Eisenbahnfahrgeschwindigkeit. Die Zeit, welche die Eisenbahnzüge zur Durchmessung einer bestimmten Strecke brauchen, ist abhängig von der Beschaffenheit der Bahn, denn offenbar kann unter sonst gleichen Verhältnissen derjenige Zug am schnellsten fahren, welcher die geringsten Steigungsverhältnisse und wenig oder keine Kurven oder höchstens solche von möglichst großem Radius zu überwinden hat, und der auf einer möglichst langen Strecke ohne Haltestellen seine Fahrgeschwindigkeit auszunutzen vermag. Selbst wenn der Zug nicht auf jeder Station hält, so verliert er jenem gegenüber an Geschwindigkeit, da er alle Bahnhöfe wegen der Weichen etc. in langsamerm Tempo passieren muß. Die folgenden, nach den Sommerfahrplänen 1885 aufgestellten Angaben über die thatsächlich eingehaltenen Geschwindigkeiten (wobei die Aufenthalte mitgerechnet sind) sind nach der Länge der Strecken geordnet, weil auf sehr langen Strecken naturgemäß oft mehr Haltepunkte und längere Aufenthalte vorhanden sind als auf kurzen.

Strecken
E. = Expreßzug; K. = Kurierzug
Fahr­zeit Länge der Strecke Braucht pro Kilom. Durch­läuft stünd­lich
Strecken von mehr als 500 km: Min. Kilom. Min. Kilom.
E. London-Sheffield-Edinburg 605 669,34 0,910 66,0
E. Berlin-Köln 603 591,80 1,020 58,8
Rapidzug Paris-Bordeaux 570 585,00 0,970 61,6
Eilzug Bodenbach-Wien 618 540,00 1,140 52,5
Strecken von 400–500 km:        
K. Köln-Bremen-Hamburg 507 448,50 1,130 53,1
K. Krakau-Wien 565 413,00 1,370 43,8
Strecken von 300–400 km:        
E. London-Salisbury-Plymouth 371 370,07 1,000 60,0
E. London-Bristol-Plymouth 391 397,42 0,980 61,0
K. Hamburg-Kassel 417 347,40 1,200 50,0
K. Holzminden-Aachen 391 314,50 1,240 48,3
Strecken von 200–300 km:        
E. Paris-Boulogne-Calais 287 297,00 0,960 62,1
E. Berlin-Hamburg 291 285,70 1,020 58,9
E. Bremen-Magdeburg 391 269,35 1,450 41,3
Strecken von 100–200 km:        
E. London-Sittingburne-Dover 108 125,50 0,861 69,7
E. London-Tunbridge-Dover 105 123,08 0,853 70,3
K. Berlin-Jüterbog-Dresden 188 187,75 1,000 60,0
K. Dresden-Zossen-Berlin 178 174,17 1,020 58,9
Teilstrecken:        
Expreßzug Stendal-Lehrte 104 134,17 0,775 77,4
   Spandau-Stendal 75 92,17 0,814 73,7
   Hannover-Öbisfelde 82 88,04 0,930 64,4
   Paris-Orléans 105 121,00 0,870 69,0
   Jüterbog-Berlin 62 62,83 0,990 60,7

Für die auf freier Strecke, also außerhalb der Bahnhöfe, erlaubten Geschwindigkeiten gelten nun in Deutschland (Bahnpolizeireglement für die Eisenbahnen Deutschlands vom 30. Nov. 1885) und ähnlich auch in Frankreich und Österreich-Ungarn (England verfährt weniger streng) folgende polizeiliche Vorschriften: „Die größte Fahrgeschwindigkeit, welche auf keiner Strecke überschritten werden darf, wird bei Steigungen von nicht mehr als 5 : 1000 und Radien von nicht weniger als 1000 m für Schnellzüge auf 75 km pro Stunde, für Personenzüge auf 60 km pro Stunde, für Güterzüge auf 45 km festgesetzt; auf stärker geneigten und mehr gekrümmten Strecken muß diese Geschwindigkeit angemessen verringert werden. Ausnahmsweise können größere Geschwindigkeiten für Schnellzüge bis 90 km pro Stunde unter besonders günstigen Verhältnissen zugelassen werden; sie bedürfen jedoch der ausdrücklichen Genehmigung der Behörde. Hiernach kann ein Zug mit der größten in Deutschland zulässigen Geschwindigkeit 1 km in 0,67 Minuten zurücklegen, eine Geschwindigkeit, welche allerdings unter Hinzurechnung des Aufenthalts auf den Stationen nirgends und auf der freien Strecke nur selten erreicht wird.


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 277278
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[277] Eisenbahnfahrgeschwindigkeit. Der Fahrplan schreibt für jede Strecke genau die Geschwindigkeit vor. Damit diese von den Lokomotivführern innegehalten wird u. besonders das zulässige Maximum der Fahrgeschwindigkeit nicht überstiegen wird, ist eine Kontrolle nötig. Einen gewissen Anhalt gibt schon die Ankunfts- und Abfahrtszeit der Züge, allein die hierdurch mögliche Kontrolle reicht nicht aus, weil sie nur Aufschluß gibt über die Gesamtfahrzeit zwischen den Stationen, nicht aber über die Geschwindigkeit in den einzelnen Streckenteilen. Man hat eine erhöhte Kontrolle vielfach durch Verwendung von sogen. Geschwindigkeitsmessern zu erreichen gesucht, welche, auf der Lokomotive oder in einem der Wagen des Zugs angebracht, nach Maßgabe der Umdrehungszahl der Räder die Geschwindigkeit des Zugs anzeigten und registrierten. Indessen haben sich die für diesen Zweck konstruierten Apparate teils als nicht zuverlässig und genau genug, teils als nicht sicher gegen äußere Eingriffe von seiten der Lokomotivführer erwiesen. Derartige Kontrollvorrichtungen müssen aber unbedingt genau und zuverlässig arbeiten, weil man sonst auf Grund ihrer Angaben das Fahrpersonal nicht wegen vorschriftswidrigen Fahrens zur Rechenschaft ziehen kann. Als zuverlässige Mittel zur Fahrkontrolle sind zur Zeit nur die sogen. Kontakte anzusehen. Längs des Geleises sind in zweckmäßigen Abständen Kontaktvorrichtungen angebracht, welche durch die darüber hinwegrollenden Züge derartig in Thätigkeit gesetzt werden, daß beim Überfahren der betreffenden Vorrichtung der Stromkreis einer auf der Kontrollstation aufgestellten kräftigen Batterie geschlossen wird. Hierdurch wird der Elektromagnet eines Registrierapparats erregt, zieht seinen Anker an und bewirkt dabei das Andrücken eines Schreibhebels gegen einen mit genau gleichmäßiger Geschwindigkeit bewegten Papierstreifen. Das hierdurch hervorgerufene Zeichen hört auf, sobald der Zug die betreffende Kontaktvorrichtung passiert hat. Dieses Spiel wiederholt sich bei jeder einzelnen Kontaktvorrichtung, und es ist klar, daß nach dem Abstand der einzelnen Zeichen auf dem Papierstreifen die Geschwindigkeit des Zugs genügend genau kontrolliert werden kann. Die Kontaktvorrichtungen sind sehr verschieden eingerichtet, bestehen aber in der Regel aus Hebeln, welche direkt durch die darüber hinwegrollenden Räder oder indirekt durch die Durchbiegung der Schienen in Bewegung gesetzt werden und dabei die vorher getrennten Leitungsenden in Berührung bringen. Die Entfernung der Kontaktvorrichtungen wird entweder nach gleichen Längen ohne Rücksicht auf die aus dem Wechsel der Steigungen und Kurven sich ergebenden Verschiedenheiten der Geschwindigkeiten oder nach gleichen Fahrzeiten bemessen. Die Kontrolle wird in folgender Weise ausgeübt: bei der Anmeldung des Zugs von der vorhergehenden Station wird der Registrierapparat in Thätigkeit gesetzt und bis zur Ankunft des Zugs sich selbst überlassen. Nächstdem werden die auf dem Streifen erscheinenden Marken mit einem Maßstab verglichen und die vorgekommenen Überschreitungen in einen Rapport eingetragen. Rapport und Streifen werden täglich dem vorgesetzten Betriebsamt eingesandt, von welchem die entsprechenden Strafen erkannt werden. Die Maßstäbe für gleiche Zeitentfernung sind so einzuteilen, daß danach abgelesen werden kann, wie viele Sekunden der Zug zwischen je zwei Kontakten gebraucht hat. Bei gleicher räumlicher Entfernung der Kontakte sind die Maßstäbe so eingeteilt, daß unmittelbar die Fahrgeschwindigkeit abgelesen werden kann. Die Resultate dieser Kontrolle sind in Deutschland sehr gute. Während zu Anfang sehr viele Bestrafungen wegen Überschreitung der Fahrgeschwindigkeit vorkamen, sind solche Fälle ohne Vermehrung der Zugverspätungen jetzt sehr selten.

Betreffs der Fahrgeschwindigkeit in verschiedenen Ländern, besonders in Deutschland, gegenüber England, ist durch einige Zeitungsartikel viel Staub aufgewirbelt worden. In diesen wurde konstatiert, daß die Fahrgeschwindigkeit der Züge in England, speziell der Schnellzüge, größer sei als in Deutschland, und das Publikum glaubte, daraus den deutschen Bahnverwaltungen den Vorwurf der geringern Leistungsfähigkeit machen zu müssen. Dagegen ist jedoch anzuführen, daß für die Beurteilung der Leistung die Angabe der zur Zurücklegung einer gewissen Strecke gebrauchten Zeit allein nicht maßgebend ist, daß dabei vielmehr die beförderte Last, die Anzahl und Länge der Aufenthalte und die Streckenverhältnisse in gleichem Maß in Anrechnung gebracht werden müssen. Bei einer Vergleichung nach diesen Gesichtspunkten erscheinen die deutschen Eisenbahnen den englischen mindestens ebenbürtig. Daß man in England die Schnellzüge schneller fahren läßt als bei uns, liegt an den verschiedenen Bedingungen, die an den Verkehr dort und hier gestellt werden. Abgesehen davon, daß einige der schnellsten englischen Züge (z. B. der sogen. fliegende Schotte mit 75 km durchschnittlicher Geschwindigkeit pro Stunde) weniger einem wirtschaftlichen Bedürfnis als der Reklame der konkurrierenden Eisenbahngesellschaften dienen, ist zu beachten, daß es die Hauptaufgabe der englischen Schnellzüge [278] ist, den direkten Verkehr zwischen einer Hauptstadt von nahezu 5 Mill. Einw. mit einer großen Anzahl volkreicher Industriestädte (Glasgow mit 800,000, Liverpool und Manchester mit 600,000, Birmingham mit 450,000 Einw. etc.) zu vermitteln. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit und das Bedürfnis, sehr viele schnelle und sehr kurze, leichte Züge mit besondern Endzielen und sehr wenig Zwischenstationen, sogar zum Teil mit gänzlichem Ausschluß der Mitnahme von Fahrgästen nach Zwischenstationen, einzurichten. Der von den Schnellzügen vollkommen ausgeschlossene Lokalverkehr ist dagegen sehr langsam. In Deutschland ist infolge der zerstreuten Lage und geringern Größe der Städte der Verkehr nach Endstationen nicht so hervorragend, daß eine vollständige Trennung des durchgehenden vom Zwischenverkehr gerechtfertigt erschiene. Hier sind deshalb die Schnellzüge bedeutend länger und schwerer und die Aufenthalte durch Zwischenstationen viel zahlreicher und zeitraubender, mithin notwendigerweise die durchschnittliche Fahrgeschwindigkeit geringer. Ferner haben alle diese Züge wegen der Insellage Englands keine Anschlüsse zu erreichen und abzuwarten und können deshalb mit der überhaupt möglichen Geschwindigkeit fahrplanmäßig fahren, während bei uns wegen der vielen Anschlüsse die Fahrpläne so eingerichtet sein müssen, daß unvermeidliche Verspätungen durch Vergrößerung der fahrplanmäßigen Geschwindigkeit womöglich wieder eingeholt werden können. Endlich kommen auch die in England im allgemeinen günstigern Steigungs- und Krümmungsverhältnisse bei der Fahrgeschwindigkeit in Betracht. Die Möglichkeit einer Steigerung der Fahrgeschwindigkeit ist auch in Deutschland vorhanden, so daß eine Strecke wie Berlin-Köln von nahezu 600 km Länge ohne weiteres in sieben Stunden gefahren werden könnte, wenn sich die wirtschaftliche Notwendigkeit ergäbe wie in England, zu gunsten der Geschwindigkeit die Last und die Aufenthalte zu vermindern. Aber auch bei den jetzigen schweren Zügen und den häufigen Zwischenstationen ist wahrscheinlich eine schnellere Fahrgeschwindigkeit zu erreichen, wenn die Leistungsfähigkeit der Lokomotiven durch allgemeine Einführung des Compound- oder Verbundsystems erhöht wird. Begünstigt würde die Geschwindigkeitserhöhung auch durch einen schwereren Oberbau, besonders schwerere Schienen, wie sie seit kurzem nach Sandbergs Angaben unter dem Namen Goliath-Schienen in Belgien Verwendung und in allen Fachkreisen höchste Beachtung gefunden haben.